Читать книгу Die Seeburg-Verschwörung - Maik Bischoff - Страница 5

Ein grausamer Fund

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Eigentlich war Helmut schon über ein Jahr tot, aber dennoch gehe ich weiterhin fast jeden Tag durch die Gatower Rieselfelder. Auch wenn der Begriff Rieselfelder vermuten lässt, dass man hier durch güllegeschwängerte Luft wandert, entweder bis irgendwann ein Gewöhnungseffekt einsetzt oder man sich einfach übergibt, stinkende Brühe wird hier schon lange nicht mehr auf die Felder gegossen. Heute ist die riesige, in mehr oder weniger gleichmäßige Rechtecke geteilte Wiesenfläche auf der Gatower Karolinenhöhe, die hier und da mit Gebüschen und Bäumen garniert ist, ein Naherholungsgebiet für die Spandauer Bevölkerung.

Einige Klärbecken, die sich ebenfalls in dieser Gegend befinden, sind schon lange stillgelegt und bieten allenfalls Kindern einen spannenden Spielplatz. Hundehalter auf Gassirunde sind hier ebenso zu finden wie Freizeitsportler, Wanderer und andere Erholungsuchende.

Jedes Mal nehme ich exakt den gleichen Weg, bleibe an den gleichen Ecken stehen und betrachte die gleichen Bäume. Lasse meinen Blick über die weiten Felder schweifen, beobachte Vögel und erfreue mich an der jahreszeitlich wechselnden Vegetation. Weil Helmut das auch so getan hatte. Ich war ihm das zwar ganz sicher nicht schuldig, er hätte wohl nie verlangt, dass ich damit ohne ihn weitermache, aber die Gewohnheit treibt mich immer wieder hierher.

Helmut war mein Rauhaardackel.

Als ich noch vor meiner Pensionierung als Hauptkommissar beim Berliner Landeskriminalamt arbeitete, gingen wir bei Wind und Wetter hier raus. Helmut zwang mich damit in meiner freien Zeit, den Verlockungen des ach so bequemen Sofas zu widerstehen und meinem vierbeinigen Mitbewohner bei einem längeren Spaziergang allerlei Erleichterungen zu ermöglichen.

Das hat mich unter anderem davor bewahrt, wie viele meiner Kollegen mit zunehmendem Alter ein ebenso zunehmendes Wohlstandsgewölbe zu entwickeln. Sehr zur Freude meines Hausarztes, der mir bei jedem Besuch eine ausgezeichnete Gesundheit bescheinigte.

Bei diesen Wanderungen, die anfangs erkundend auf wechselnden Pfaden verliefen, irgendwann aber zu einer festen Strecke durch die Rieselfelder wurden, kann ich prima abschalten und über allerlei Dinge nachdenken. Und weil so ein Ritual irgendwann in Fleisch und Blut übergeht, behielt ich es auch nach dem Tod von Helmut bei.

Weshalb ich auch heute, an einem schmuddeligen und verregneten Januartag, unterwegs war.

Der verfluchte Regen konnte sich nicht entscheiden. Wollte er nun aufhören oder nicht, wollte er schnell oder langsam fallen, sollten es Tropfen oder Fäden sein? Also gab es irgendetwas dazwischen, ein unangenehmes Nieseln, das in Verbindung mit jeder Menge Wind genau das Wetter hergab, das ich so überhaupt nicht leiden mag.

Aber das Leben ist kein Wunschkonzert, insbesondere nicht in Wetterfragen. Ich schlug also den Kragen meines Mantels hoch und begann etwas flotter zu laufen.

Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, dass ich nicht der Einzige war, der sich bei diesem Dreckswetter hier draußen herumtrieb. Zuerst kamen zwei ältere Damen mit ihren Hunden, kläffende kleine Promenadenmischungen, die mit hässlichen, vermutlich selbst gehäkelten Mäntelchen ihrer letzten Würde beraubt waren. Anschließend folgte eine junge Frau, die ihre Laufschuhe spazieren führte. Sport bei diesem Wetter, na mir müsste ja mindstens ein Fuß fehlen. Und selbst dann würde ich aus den dann naheliegenden Gründen darauf verzichten. Anschließend folgte ein Mann mittleren Alters, der fahrig wirkte, sich immer wieder umsah und mehr stolperte als er ging. Und mich zu allem Übel auch noch ansprach.

»Tach ooch, sajense, wo jeht ‘n ditt hier zun’n Friedhof?«, warf er mir gehetzt, aber in breitestem Berliner Dialekt entgegen. Und das hier in Spandau, wo man doch besonders stolz darauf ist, eben allen Verwaltungsstrukturen zum Trotz genau nicht nach Berlin zu gehören. Die Tatsachen, die im Jahr 1920 geschaffen wurden, als Spandau an Groß-Berlin angeschlossen wurde, werden hier auch heute noch beharrlich verleugnet. Spandau ist nicht Berlin, das ist ein ehernes Gesetz im fünften Verwaltungsbezirk.

Ich beschrieb ihm kurz den Weg. Hier in den Rieselfeldern bedeutet das, lediglich zu sagen wie oft man in welche Richtung abbiegen muss. Und vergaß ihn sofort. Er mich sicherlich auch.

Nach dieser kleinen Hilfestellung für Ortsunkundige hatte ich endlich meine Ruhe. In Gedanken marschierte ich, selbstredend streng der üblichen Strecke folgend, weiter. Abweichen oder gar Abkürzen kommt überhaupt nicht infrage.

Nur noch wenige Meter trennten mich von der Gatower Straße, wo ich eine Entscheidung treffen musste. Den Bus nehmen oder zu Fuß weiter. Mit dem Bus dauert es etwa 10 Minuten bis nach Hause, zu Fuß wenigstens dreimal so lange.

Helmut hätte sich auf jeden Fall für den Fußmarsch entschieden.

Ich schaute kurz auf die Uhr und stellte fest, dass ich noch reichlich Zeit hatte. Das hätte ich zwar auch ohne den Blick auf die Uhr gewusst, heute steht nämlich kein einziger Termin an. Als Pensionär habe ich eben jede Menge Zeit. Aber man kann solche Angewohnheiten, und dazu gehört der ständige Blick auf die Uhr, nicht einfach so ablegen. Schließlich entschied ich mich für den Fußmarsch.

Danke Helmut!

Obwohl auf der Gatower Straße an dieser Stelle nur 30km/h erlaubt sind, fuhren heute ausschließlich Michael Schumacher und Kollegen ihr Qualifying in privaten PKW zwischen Spandau und Kladow. Das zwang mich zu einem Umweg über eine Fußgängerampel, denn nach über vierzig Jahren Dienst für das Land möchte ich durchaus noch den einen oder anderen Tag lang meine Pension genießen und nicht als Kühlerfigur für einen Möchtegernrennfahrer enden.

Somit ging ich ein Stück weiter in Richtung Altstadt, wo sich besagte Fußgängerampel befand und drückte den Knopf für die Grünanforderung. Böse Zungen behaupten ja, dieser Knopf hat keinerlei Funktion, bei dieser Ampel hingegen bewirkte er tatsächlich, dass die Kraftfahrzeuge umgehend rot bekamen und der Weg für die Fußgänger freigegeben wurde.

Ich konnte endlich die Straße überqueren und stand vor der nächsten Entscheidung. Oben oder unten. Soll heißen, laufe ich am Havelufer entlang und stelle mir vor, wie Helmut dort einst Enten jagte? Was mir seinerzeit ordentlich Ärger mit dem Ordnungsamt einbrachte, dessen Streife Helmuts Meinung zur Rechtmäßigkeit seines Treibens nicht teilen wollte, mir mit einem saftigen Ordnungsgeld drohte und mir obendrein eine Anzeige wegen Wilderei in Aussicht stellte. Oder nehme ich den Weg über die Haveldüne, der einen prächtigen Ausblick auf die Scharfe Lanke bietet. Ich entschied mich für den unteren Weg. Auch wenn das heute bedeutete, durch die Nähe zum Wasser und den fehlenden Windschutz auf der offenen Havel besonders kalt und besonders nass zu werden. Aber die schöneren Erinnerungen gab es hier allemal und so bog ich in Richtung Jaczoturm ab.

Dieser Weg führt durch eine recht geschichtsträchtige Schlucht, denn der namensgebende Jaczo, mit vollem Namen Jaczo von Köpenick, seines Zeichens slawischer Fürst, ist zentraler Bestandteil der auf der gegenüberliegenden Havelseite spielenden Schildhornsage. Der Sage zufolge rangen besagter Fürst Jaczo und der Askaniergraf Albrecht I. von Brandenburg, genannt Albrecht der Bär, um die Vorherrschaft an Havel und Spree.

Auf den Punkt gebracht gewann Albrecht dieses Gerangel und damit wurde dann wohl der Grundstein der Mark Brandenburg gelegt. Jaczo selbst wurde durch die hier beginnende Schlucht in die Havel getrieben. An dieses Ereignis erinnert nun heute ein Relief auf dem privat finanzierten Jaczoturm, den aber so gut wie niemand kennt.

Aus Richtung eben dieses Turmes kam mir nun eine ältere Dame entgegen. Sie war sehr vornehm gekleidet, wirkte aber verwirrt und konnte weißer im Gesicht nicht sein. Als sie mich wahrnahm, hauchte sie mir, noch während sie die günstige Gelegenheit für eine Ohnmacht ausnutzte, zwei Worte entgegen. Diese Worte ließen bei mir alle Alarmglocken schrillen. »Ein Toter.«

Sie drehte sich filmreif im Fallen, sodass ich sie direkt auffangen konnte. Da sie aber umgehend wieder zu sich kam, setzte ich sie auf einer kleinen Feldsteinmauer am Wegesrand ab. Fahrig, noch nicht wieder bei vollem Bewusstsein, versuchte sie dabei zu verhindern das ihre Kleidung schmutzig wird. Ihre Prioritäten möchte ich mal haben. Und während ich mich nun Richtung Turm umdrehte, sah ich ihn liegen.

Unter dem hübschen, mit Zinnen verzierten Feldsteinturm, der hier beschaulich inmitten efeubewachsener Bäume steht, lag in der Tat jemand, den man aus der Ferne für tot halten konnte. Es gab kein Vertun, ich musste hin und die Sache prüfen.

»Können Sie hier kurz allein sitzen? Ich muss mal schauen, wie es dem da drüben geht.« Mit dem Daumen wies ich Richtung dieses Jemand und versuchte gutmütig und fragend zugleich zu blicken.

»Aber sicher doch, jetzt wo Sie mich vor dem gröbsten bewahrt haben. Gott allein weiß, was passiert wäre, hätten Sie mich nicht aufgefangen. Was ich mir alles hätte tun können. Man hört ja immer so viel von schweren Verletzungen, wenn Menschen in meinem Alter stürzen. Nicht das ich alt bin, aber Sie wissen ja sicher was ich meine. Ich bin übrigens die Rita Meyer-Welmingen und Sie?«

»Ja ja, schon gut. Werner Böhme.« Die alte Dame wollte nicht mehr aufhören zu reden, da musste grob unterbrochen werden. Immerhin war da ja noch jemand.

Der Mann, ich schätzte ihn mit dem professionellen Blick eines ehemaligen Mordermittlers auf etwa 55 Jahre, trug einen Trenchcoat, der ihn nach einem 80er Jahre Versicherungsvertreter aussehen ließ. Er war recht blass und unter seinem Kopf hat sich eine große Blutlache gebildet.

Ich versuchte seinen Puls zu tasten, was mir jedoch nicht gelang. Okay, Werner, ruhig bleiben. Das ist nicht deine Baustelle. Ruf die Kollegen und pensioniere dann weiter. Ich nahm also mein Telefon und rief die Polizei. Die Kollegin am Notruf versicherte mir, dass sofort jemand kommt und auch ein Rettungswagen für die vermutlich unter Schock stehende Dame unterwegs sei. Letzteres war mir besonders lieb, denn inzwischen war ich wieder bei ihr und sie hielt mich fest am Arm umklammert, damit sie nur nicht allein in der Nähe der Leiche bleiben muss.

»Ist er denn wirklich tot?«, fragte sie mich.

»Sieht ganz so aus.« Natürlich konnte ich das nicht hundertprozentig sagen, den Tod muss vor dem Gesetz schließlich ein Arzt feststellen, aber die berufliche Erfahrung sagte mir, dass dieser Kerl endgültig hinüber war.

»Wissen Sie, ich wollte doch nur einen kleinen Verdauungsspaziergang machen. Und dann so etwas. Um Gottes Willen, was machen wir da nur?«

»Nur die Ruhe, ich habe ja inzwischen die Polizei und den Rettungsdienst verständigt, die sollten jeden Augenblick hier sein.«

Ein weiterer Blick zur Leiche und ich sah etwas, dass mich nun doch neugierig werden ließ. Neben der Leiche lag Papier in handlichem Format, es muss aus der Tasche gefallen sein, als ich den Puls überprüfte. Und drauf gucken ist kein Befummeln, mit Blicken verändert man schließlich keine Spuren. Ich ließ meiner Neugier freien Lauf und schaute mir die Sache aus der Nähe an. Auch wenn mir das einen bösen Blick der Dame einbrachte, die mich zwar nicht loslassen, aber auch um keinen Preis näher an die Leiche gehen wollte.

Den bösen Blick nahm ich gern in Kauf, riss mich vorsichtig von ihr los und meine neu gewonnene Freiheit genießend ging ich betont langsam zur Leiche. Aus der Nähe sah ich, dass es sich um Kinokarten handelte. Es handelte sich um Karten für einen Actionfilm in der Abendvorstellung am kommenden Montag im Spandauer Cineplex, einem großen Kino in der Altstadt.

Spannend wurde dieser Fund durch einen kleinen Zettel, der mit einer Büroklammer an den Kinokarten befestigt war. »LASSEN SIE UNS REDEN, ES SOLL IHR SCHADEN NICHT SEIN.«, war mit einem Bleistift darauf gekritzelt worden. Was könnte das bloß bedeuten?

Wo ich nun schon einmal dabei war, obsiegte die Neugier vollends und ich lupfte mit einem Kugelschreiber, um keine unnötigen Fingerabdrücke zu hinterlassen, die Taschen seines Trenchcoats ein wenig an. So konnte ich einen kurzen Blick auf deren Inhalt werfen. Sie waren jedoch, bis auf ein Päckchen Tabak, Zigarettenpapier und ein Feuerzeug komplett leer.

Nach diesem kurzen Anflug von Neugier ließ ich mich wieder etwas in den Pensionärsprofessionalitätsmodus zurückfallen und beendete meine illegale Durchsuchung. Das war ohnehin Aufgabe der ermittelnden Beamten und ich hatte damit nichts mehr zu tun. Ich ging zu Frau Meyer-Welmingen zurück und übernahm wieder das Händchen halten. Keine Sekunde zu spät, denn oben auf der Gatower Straße blitzte es jetzt blau. Die Kollegen oder wenigstens der Rettungswagen waren eingetroffen.

Es war tatsächlich der Rettungswagen und so wurde ich meine neu gewonnene Freundin Rita ganz elegant und vor allem schnell wieder los. Neben dem Rettungswagen war auch ein Notarzt gekommen, der sich eilig auf die Leiche stürzte. Aber auch er konnte nur den Tod feststellen, was in seinem Fall auch durchaus korrekt, also vor dem Gesetz auch erlaubt war. Und nachdem er dies getan hatte, verließ er umgehend die Leiche. Was man selten sah, viel zu oft zerstörten Notärzte und Rettungspersonal wichtige Spuren. Dieser Notarzt hier war hingegen darauf bedacht, nach der Todesfeststellung so wenig wie möglich in Unordnung zu bringen.

Leider trafen dann aber auch die ersten Einsatzwagen der Polizei ein und so gab es keine Chance auf erneute Befriedigung meiner Neugier. Die Polizisten kamen direkt auf mich zu und so konnte ich nicht weiter mit dem Notarzt reden. Es handelte sich um einen etwas älteren Oberkommissar und einen blutjungen Polizeimeister.

»Guten Tag. Haben Sie uns gerufen?« Er zückte ganz klassisch seinen Notizblock, nahm einen Stift und begann irgendetwas zu kritzeln.

»Ja, das war ich. Böhme mein Name. Und Sie?«

Verwirrt schaute er drein, bis er begriff, worauf ich hinauswollte.

»Ähh, ja ‘tschuldigung. Polizeioberkommissar Schwartz und mein Kollege Polizeimeister Jensen.« Letzterer war inzwischen ganz offensichtlich mit der Gesamtsituation ein wenig überfordert und schien jeden Moment ein weiterer Fall für den Rettungswagen zu werden.

»Wenn Sie denn so freundlich wären und hier kurz warten, wir müssen den Kollegen helfen den Tatort abzusperren und dann nehmen wir Ihre Personalien als Zeuge auf.«

»Keine Sorge, ich war jahrelang beim Landeskriminalamt und kenne die Vorgehensweise.«

»Oh, ein Kollege also.«

»Pensioniert, aber ja.« Nun wusste er wenigstens, was Sache ist und ich hatte gute Chancen, dass mir nervender Smalltalk bis zum Eintreffen der Mordermittler erspart blieb. Denn das die jeden Moment hier aufschlagen stand für mich felsenfest. Der Jaczoturm ist schließlich gerade mal vier oder fünf Meter hoch, wer sich ernsthaft selbst umbringen möchte, wird dazu nicht dieses kleine Ding nehmen, sondern eher auf den Glockenturm am Olympiastadion zurückgreifen. Oder wenigstens eines der Staakener Hochhäuser. Und dass der Mann ungeschickt genug war, um hier auf nahezu ebenem Waldboden zu Tode zu stolpern, konnte ich mir kaum vorstellen. Außerdem war es das übliche Vorgehen, bei derart unklaren Todesfällen.

Auf jeden Fall zog ich mich ein wenig zurück und beobachtete das Treiben der Schutzpolizisten. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, was sich wohl als echter Glücksfall erwies. Denn so unvorsichtig wie die Herren in Blau dort herum trampelten, wäre ein noch nasserer Tatort inzwischen komplett zerstört. Zum Glück traf nun auch endlich ein Mordermittler ein. Nach der üblichen Begrüßungszeremonie verschaffte er sich wohl einen Überblick über die Lage und unterhielt sich dann mit Schwartz. Der wiederum nickte zu mir herüber und mir wurde klar, dass jetzt mein Auftritt kam.

»Hauptkommissar Becker, Kriminaldauerdienst der Direktion 2. Sie sind der Herr, der die Leiche gefunden hat?«

»Böhme und nein.« Er schaute verwirrt, was mir diebische Freude bereitete. »Nein, ich habe die Leiche nicht gefunden. Jedenfalls nicht selbst. Das war die Frau Meyer-Welmingen. Die finden Sie im Rettungswagen. Ich selbst habe lediglich den Notruf gewählt, da Frau Meyer-Welmingen situationsbedingt ein wenig indisponiert war.«

»Haben Sie hier irgendetwas verändert?«

»Nur wenig, ich habe den Kragen seines Trenchcoats beiseitegeschoben, um den Puls zu tasten. Und dann vermutlich auch den einen oder anderen Fußabdruck direkt neben der Leiche hinterlassen.«

Becker wurde mir zunehmend unsympathisch. So kurz angebunden und unfreundlich wie er war. War der immer so oder lag es in meinem Fall nur daran, das er möglicherweise schon wusste, dass ich ein ehemaliger Kollege bin? Er bat mich noch, am Einsatzwagen der Polizei meine Sicht der Dinge zu Protokoll zu geben und drückte mir seine Visitenkarte in die Hand. Falls mir noch etwas einfällt. Ganz wie im Kino.

Ich erledigte also den Papierkram und war recht froh, dass ich dazu nicht auf den Abschnitt oder gar zur Direktion in die Charlottenburger Chaussee musste. Nachdem ich die nötigen Formulare unterschrieben hatte, bekam ich die Erlaubnis ganz offiziell den Ort zu verlassen.

Das Regenwasser hatte sich inzwischen gleichmäßig in meiner Kleidung verteilt, soll heißen, ich war komplett durchnässt. Da tröstete es auch nur wenig, dass wenigstens nichts mehr dazu kam. Ich wollte nun nur noch nach Hause und so änderte ich mein Vorhaben bezüglich des Heimweges. Ich nahm den Bus. Sorry Helmut!

Der Bus brachte mich erwartungsgemäß flott in meine Wohnung in der Wilhelmstadt. Ursprünglich nannte sich dieser Stadtteil Potsdamer Vorstadt. Anlässlich des 100. Geburtstages von Kaiser Wilhelm I. wurde der Ortsteil dann 1897 zur Wilhelmstadt. Der größte Teil der Wilhelmstadt ist dabei durch Mietshäuser mit drei bis sechs Etagen gezeichnet, die weitgehend lückenlos gebaut wurden. Gerade die älteren und zumeist höheren Häuser haben dabei noch Seitenflügel und Hinterhäuser, die um mehr oder weniger genutzte Innenhöfe stehen.

Ich hatte dort vor einigen Jahren eine nette 3-Zimmer-Wohnung in einem Hinterhaus gemietet. Es war zwar nicht die hellste Wohnung, dafür in recht guter Lage und vor allem ruhig. Mein Küchenfenster zeigt auf einen kleinen Hinterhof, auf dem man bei schönem Wetter allerlei lustiges Treiben beobachten kann.

Zwei junge Familien aus dem Vorderhaus nutzen den Hof dann regelmäßig für Zusammenkünfte bei Kaffee und Kuchen, wenn es besonders heiß ist, werden für die Kleinen Planschbecken aufgestellt und auch sonst trifft sich Hinz und Kunz auf einen kleinen Plausch. Manchmal geht es bis tief in die Nacht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sich hier ein Miteinander entwickelt hat, was in der Anonymität der Großstadt ja eigentlich überhaupt nicht üblich ist. Zumindest hier in Spandau. In den Charlottenburger oder Schöneberger Kiezen ist das hingegen üblich und wird nicht nur auf dem Hinterhof, sondern sogar auf der Straße gelebt.

Heute jedoch, an diesem grauen Regentag, war der Hof menschenleer.

Ich setzte mich an meinen Küchentisch, blickte aus dem Fenster in den trüben Hof und ließ bei einer Tasse Espresso die Erlebnisse des Vormittags Revue passieren. Es hätte eigentlich ein ganz entspannter Tag werden können. Aber ja, ‚hätte hätte Fahrradkette‘.

Um mich nicht weiter in meinen depressiven Gedanken suhlen zu müssen beschloss ich, den Nachmittag bei einem kühlen Bierchen im Pub zu verbringen. Dort gab es immer wieder den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Umgebung und heute hatte ich ja auch ein ganz dickes Ding zu erzählen. Immerhin findet man ja nicht jeden Tag eine Leiche.

Ich ging schnell duschen, um einen Anflug von Kälte aus meinen alten Knochen zu bekommen, der sich nach meinem ungewollt langen Aufenthalt im Regen breit gemacht hatte. Das heiße Wasser brachte wieder Leben in die Glieder und ich fühlte mich fit für einen Kneipenbesuch.

Das King’s Pub ist ein gemütlicher Laden in einer Nebenstraße, hierher verirren sich nicht sonderlich viele Leute, sodass man eigentlich immer etwas Ruhe hat. Früher, als das Pub noch von einem ehemaligen Hoteliersehepaar, Heidi und Sam, betrieben wurde, war es quasi ein Geheimtipp in der Wilhelmstadt. Urgemütlich eingerichtet mit in dunklem Grün gehaltenen Lederpolstern, jeder Menge Messingapplikationen und Holz wirkte es richtig edel. Und auch wenn es Pub hieß und tatsächlich irische Biere führte, wurden hier in erster Linie deutsches Premiumpils gezapft. Das Publikum wollte es nun mal so.

Dieses Publikum, seinerzeit geteilt Heidis Freunde und Sams Freunde, die je nach diensthabendem Wirt das Pub besuchten, hatte sich zu einer Zweitfamilie entwickelt. Man feierte selbst Weihnachten gemeinsam. Im Pub natürlich.

Die beiden sind dann aber irgendwann in den wohlverdienten Ruhestand getreten und seither hatte der Betreiber immer mal wieder gewechselt. Die alte Gemütlichkeit wollte sich nie wiedereinstellen, was sich insbesondere im Wegbleiben vieler Stammgäste zeigte.

Der aktuelle Wirt, Heiner, war ein Zugezogener. Das machte ihn, zumindest in meinen Augen, nicht zu einem schlechteren Menschen und man konnte mit Heiner ganz wunderbar über gestern, heute und morgen philosophieren. Dass manch gebürtiger Spandauer dies ein wenig anders sah, lag wohl in der Mentalität mancher Menschen.

Just als ich im Pub auftauchte zeigte sich, dass Spandau doch ein Dorf ist und Tratsch hier schneller die Runde macht, als ein Floh von einem Straßenköter zum nächsten hüpfen kann. Oder wie auch immer Flöhe das anstellten. Das hatte ich bisher noch nie so genau beobachtet.

»Hast Du schon gehört? Drüben am alten Jaczoturm wurde eine Leiche gefunden. Das ist doch sozusagen genau Dein Fachgebiet.«, begrüßte mich Heiner.

»Ja, davon habe ich gehört. Und schlimmer noch, ich habe den gefunden. Also eigentlich die Rita, aber das ist kompliziert. Jetzt brauche ich erst mal ein frisches Pilsbier. Sonst sage ich gar nichts.« Diese klare Ansage brachte mir einen kurzen Augenblick zum Durchatmen und mir wurde klar, dass ich aus dieser Geschichte heute wohl nicht mehr herauskommen würde. Aber Heiner hatte noch ganz andere Informationen. Und die ließen mich dann aufhorchen.

»Wenn Du den gefunden hast, dann bist Du ja sicher bestens informiert, oder?«, begann Heiner, kaum dass er mir ein Bier vor die Nase gesetzt hatte, erneut mit der Leichensache.

»Bestens wäre übertrieben. Er lag eben tot da herum, jede Menge Blut war dabei und die Rita, die es gleich aus den Schuhen gehauen hat. Sehr viel mehr habe ich vor Ort gar nicht mitbekommen. So ein Hauptkommissar Becker vom KDD hat übernommen und ganz heftig auf geheim gemacht. Aber verrate mir doch mal, wie das schon wieder bis zu Dir vorgedrungen sein kann!«

»Na ein Bekannter meines Nachbarn war beim Frisör, dessen Hundesitter jemanden kennt, der einen alten Bekannten getroffen hat, dessen Großmutter angerufen wurde.«, palaverte Heiner mit immer breiter werdendem Grinsen. Kurzum, er wollte seine Quellen nicht verraten.

»Du würdest einen prima Frisör abgeben.« Entgegnete ich. »Immer bestens informiert und dennoch wie eine Schweizer Bank in Sachen Informantenschutz. Aber jetzt raus damit, was weißt Du, was ich nicht weiß?«

»Der Tote heißt Peter Tschirner, er wollte hier im Bezirk eine große Nummer werden und hat sich wohl mit den falschen Leuten angelegt.«

Das untermauerte meine Mordvermutung natürlich deutlich.

»Eine große Nummer? Wie ist das denn gemeint? Und welche ‘falschen Leute’ sollen das genau gewesen sein?«

»Das weiß ich nicht genau, man munkelt eben. Der alte Neumann hatte da mal die eine oder andere Andeutung gemacht, ist aber selbst auf Nachfrage nie ganz konkret geworden.«

Nichtssagender konnte man eigentlich kaum antworten.

»Schade eigentlich, aber wenigstens hat er jetzt einen Namen. Und was ist nun mit der großen Nummer? Wenigstens das sollte doch bekannt sein und es kann ja letztlich auch alles Mögliche bedeuten.«

»Der war wohl in irgendeinem Amt tätig und hat dort den großen Korruptionszampano gemacht. Damit war er immer mal wieder in der Zeitung. Du kennst doch diese Typen. Haare spaltende Korinthenkackerbeamte, die ihre Kollegen in die Pfanne hauen.«

Ich selbst hatte da eine andere Sicht auf die Dinge, Korruption war in meinen Augen das mieseste was sich ein Beamter leisten konnte. Aber das behielt ich lieber für mich, es gab so Diskussionen, die musste ich heute einfach nicht führen.

Mit lautem Krachen flog die Tür auf, was nur eines bedeuten konnte. Auftritt Fabian Dost.

Und tatsächlich, mein jugendlicher Freund Fabian kam zur Tür herein. Fabian war zwar vierzig Jahre jünger als ich, aber wir verstanden uns vom ersten Moment an. Und der war vor etwa 4 Jahren. Ich gab im Pub gerade eine Lokalrunde anlässlich meiner Pensionierung, als Fabian mit ähnlichem Auftritt hereinkam. Die Runde stand zwar schon auf den Tischen, aber ich wollte ihn nicht ausschließen und bat die damalige Wirtin Jola darum, ihm auch ein Getränk auf meinen Deckel zu machen. Und so kamen wir ins Gespräch.

Fabian studierte seinerzeit ‚vermutlich Wirtschaftswissenschaften’ an der Freien Universität, hatte aber die Lust daran weitgehend verloren. Sein Studium finanzierte er, wie so viele hier in der Stadt, als Taxifahrer. Und genau das war seine eigentliche Berufung, denn im Taxi konnte er unentwegt das tun, was er am besten kann. Reden.

Deshalb hatte er sein Studium auch kurz darauf geschmissen und widmet sich nun den, wie er sagt, freien Künsten. Also eine Party nach der anderen feiern und den Frauen nicht abgeneigt sein. Letztere besser oft wechselnd und sich selten wiederholend. Und das Ganze weiterhin finanziert mit Taxifahrten, die ein hinreichend einträgliches Geschäft zu sein schienen. Zumindest reichte es für diesen zuweilen recht ausschweifenden Lebensstil.

Manch einer hat uns schon gefragt, was ein junger Lebemann und ein alter Pensionär aneinander finden, weshalb ausgerechnet zwischen ihnen eine dicke Freundschaft entstanden ist. Eine Antwort darauf hat aber keiner von uns. Es ist eben so.

»Werni, alter Schwerenöter, Du schon um diese frühe Zeit hier?«

»Hallo Fabi, grüß Dich! Heute ist so ein Tag sage ich Dir, der ist einfach so ein Tag. Und an dem darf man auch mal ein Bier vor vier nehmen.«, bereitete ich ihn darauf vor, dass wir heute jede Menge Gesprächsstoff haben werden.

»Okay, ich habe heute auch nichts weiter vor. Meier hat meine Spätschicht in der Droschke übernommen, ich habe also bis morgen Zeit. Wenn Dir das ausreicht.« Besagter Meier und Fabian arbeiteten beide im gleichen Taxiunternehmen und teilten sich ein Fahrzeug. So brauchten sich beide nur aufeinander abstimmen und mussten sich nicht an feste Dienstpläne halten.

»Das wird wohl langen, immerhin wissen wir ja eigentlich nichts.«, begann ich und erzählte ihm hinterher haarklein, was mir am Vormittag widerfahren war. Ich ließ nichts aus und endete mit dem schäbigen Verrat an Helmut: »Und dann nahm ich lieber den Bus.«.

»Respekt!«

»Respekt? Ist das alles?«

»Werni, hast Du zufällig vergessen, dass Du pensioniert wurdest und mit solchem Leichenkram nichts mehr zu tun hast?«

»Ich habe ja streng genommen auch jetzt nichts damit zu tun. Ich habe die Leiche ja nur gefunden, um den Rest muss sich die Kripo kümmern.«, beschwichtigte ich.

»Egal. Deine erste Leiche als Pensionär muss hinreichend gefeiert werden. Heiner hat sicherlich noch den einen oder anderen Liter Bier am Start, gießen wir uns also ordentlich einen hinter die Binde.«

Das war es, was ich hören wollte. Einfach zwei bis dreiundzwanzig Bier trinken, über Gott und die Welt reden und diese blöde Situation vom Vormittag vergessen. Also einfach pensionieren, wie Fabian die Hauptbeschäftigung im Leben eines Pensionärs gern nannte.

Die Seeburg-Verschwörung

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