Читать книгу Gay Hardcore 22: Erziehung bei Monsieur Laurent - Maik Keller - Страница 7
Handarbeit
ОглавлениеGeübt öffnete Laurent mit einer Hand die Flaschen, mit der anderen hielt er das Telefon an sein Ohr. »Wenn man sich ausruht, wird man erst richtig müde«, erklärte Bernard, und Laurent hörte seiner Stimme an, dass er gähnte. »War das wieder ein Geseire!«, stöhnte er. »Wenn es schon heißt ›ergebnisoffen‹. Da weiß doch jeder gleich von vornherein: ergebnislos.«
Er seufzte.
Bernard rief vom Flughafen an. Er kam von einer Sitzung des Pfarrgemeinderats und wartete auf seinen Flug nach Rom.
»Stimmt«, meinte Laurent. Bernard hatte ihm erzählt, worum es ging, aber er hatte es vergessen.
»Du weißt, wovon ich spreche«, sagte Bernard.
»Ja, klar.«
»Von den 110 Pfarreien in Paris haben überhaupt nur neun die Enzyklika bestellt. Ich rede nicht von gelesen, oder sich zu Herzen genommen, oder darauf irgendwie reagiert, ich rede von bestellt.«
»Aha«, sagte Laurent.
»Armut, Zölibat und Klimakrise. Da geht’s ans Eingemachte. Oh nein, auch das noch!« Er ließ eine kurze Pause. »Flug verspätet! Um … Moment …«
Die Flaschen waren offen, Laurent goss ein.
»30 Minuten!«, stöhnte Bernard, fasste sich aber gleich: »Meinetwegen, geht ja noch. Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Da gluckert was.«
»Ich mische«, meinte Laurent.
»Ach so«, sagte Bernard. »Was machst du dir Schönes?«
»Negroni«, sagte Laurent.
»Hier gibt es natürlich nur das übliche Billigfluggesöff«, murrte Bernard.
Die deutsch-französisch-italienische Seenotrettungsorganisation, in deren Auftrag Bernard nach Rom flog, war notorisch klamm; darum flog er nicht von Orly, sondern von Beauvais, wo das Getränkeangebot ›dem Preis und dem Niveau des Publikums entsprach‹, d.h., im Vergleich zu Laurents ›Kunst der Mischung‹ erbärmlich war. Aber es musste sein: Die SeaRescue, ihr erst ein Jahr zuvor erworbenes, über Spenden finanziertes Rettungsschiff, wurde seit Wochen vom Innenminister Matteo Salvini in einem sizilianischen Hafen am Auslaufen gehindert; Bernards erste Reise nach Rom war erfolglos verlaufen, aber jetzt, wo der ›Hamsterhoden‹ (Bernard) dabei war, ›sich die Eier selber abzuschneiden‹, sah man eine Chance, mit der neuen Regierung diese ›für das gesamte christliche Abendland‹, aber vor allem für Italien peinliche Angelegenheit unter Vernunftbegabten zu besprechen. Doch was Bernard im Moment aufwühlte, war die Sitzung des Pfarrgemeinderats.
»Ein päpstlicher Text, den die Katholiken von Paris vollständig zu ignorieren gedenken«, sagte er. »Jetzt, wo ihnen das, was aus Rom kommt, nicht in den Kram passt, machen sie einen auf unabhängige Geister. Das war sogar Edwige zu viel.«
Mit der freien Hand schnitt Laurent geschickt die Orange in Scheiben.
Während Bernard sich selbst als zwar gläubigen, aber auch kritischen und eher fortschrittlichen Katholiken sah, gehörte seine Frau, die ebenfalls im Pfarrgemeinderat von Saint-Sulpice saß, dem bürgerlich-konservativen Flügel an. Doch dass diese Bürgerlich-Konservativen, die sonst unbedingten Gehorsam gegenüber dem Vatikan forderten, den Vatikan dann ignorierten, wenn von dort ein anderer Wind wehte … Edwige war aufgestanden und gegangen. Bernard, duldsamer veranlagt, hatte bis zum Ende durchgehalten. »Sie hat schon recht«, meinte er. »Bigottes Pack.«
Seine Stimme wurde leiser.
»Und weißt du, woran ich die ganze Zeit gedacht habe?«, fragte er. »Woran ich diese gesamte, total überflüssige Sitzung über gedacht habe?«
»Nein«, meinte Laurent.
Er trug, das Smartphone unters Kinn geklemmt, seinen Negroni ins Wohnzimmer.
»An Marcos Arsch«, sagte Bernard langsam. »Die ganze Zeit hatte ich nichts im Kopf als den Arsch von Marco, den ich ja noch gar nie gesehen habe.«
Laurent stellte das Glas auf den Couchtisch.
»Marco schon«, meinte er. »Damals, nach Gérard …«
»Ja, ihn, aber seinen Arsch nicht«, sagte Bernard lachend, »und das ist es ja, worauf es ankommt.«
Laurent machte es sich auf der Couch bequem.
»Ich muss leiser sprechen«, sagte Bernard leise.
Laurent legte sich ein Kissen unter den Kopf.
Bernard flüsterte fast.
»Wie war’s denn nun, das Wochenende mit dem schönen Khoury?«
»Ließ keine Wünsche offen«, meinte Laurent.
Éric Khoury, halb Libanese, halb Franzose, war unzweifelhaft ein außergewöhnlich gutaussehender Mann. Aber natürlich lag etwas Abschätziges darin, wenn Bernard ihn den ›schönen Khoury‹ nannte. So wichtig für Bernard gutes Aussehen bei jungen Männern war, so überflüssig, ja suspekt erschien es ihm bei seinen Altersgenossen. Éric Khoury – groß, schlank, mit fein geschnittenen Zügen, sanften, zugleich ironisch blitzenden Augen und einem strahlenden Lächeln – hatte in jungen Jahren eine ernstzunehmende Karriere als Fotomodell und eine weniger ernstzunehmende als Schauspieler gemacht; über die Jahrzehnte hinweg war er älter, aber keinesfalls unattraktiver geworden, und obwohl er in der Branche die Seiten gewechselt hatte, das heißt, nicht mehr selbst auf dem Laufsteg war, sondern die Karrieren anderer Models organisierte, wurde er immer noch hin und wieder selbst gebucht; sein fein geschnittenes Gesicht, die grauen Schläfen, sein mediterraner Teint, seine schlanke, hohe Gestalt waren gefragt. Für Haarwuchsmittel und Versicherungen, wie er selbst gelegentlich spottete – aber er hatte eben wirklich prachtvolles, dichtes Haar, schwarz, grau durchwirkt, das ihm in großen Locken bis auf die Schultern fiel. Jeder, der ihn sah, war von seinem blendenden Aussehen zumindest erstaunt, und er hatte es tatsächlich erst kürzlich wieder auf den Titel einer der unzähligen Frauenzeitschriften geschafft, die bei Edwige herumlagen, in einem Bericht über die ›attraktivsten Junggesellen von Paris‹. Khoury war auf Platz 1 in der Kategorie 50+, obwohl er, wie alle wussten, weit über 60 war.
»Ich geh jetzt in die Sicherheitskontrolle«, sagte Bernard. »Nur falls die Verbindung abbricht.« Und leise fügte er hinzu: »Wurde gestriemt?«
»Bei Éric«, meinte Laurent, »ist es ja immer eher ein Balken.«
Bernard lachte.
»Die Einbahnstraße!«
Laurent nickte und nahm noch einen Schluck.
»Marco war schon mal ziemlich beeindruckt von der Riesenkarre, mit der wir in Oissel abgeholt wurden«, meinte er.
»Wie lange braucht denn der Zug?«, fragte Bernard.
»Anderthalb Stunden«, sagte Laurent. »Die Fahrt verlief in, ich sag jetzt mal: gedämpfter Stimmung. Er kam in letzter Minute und völlig außer Atem aufs Gleis geschossen … Naja, man kann sagen, was man will: Er ist lang, und er ist ein Lulatsch, aber er sieht lecker aus. Der Zug war voll, wir mussten stehen. Er sei fast zu Hause geblieben, meinte er, und hätte sich auch noch im letzten Moment überlegt, umzukehren, und wahrscheinlich wäre das auch besser gewesen.«
»Hm«, meinte Bernard.
Laurent strich sich über den Schnauzbart, in dem immer wieder Tropfen hängenblieben: »Ich hab das mal lieber ignoriert.«
»Richtig.«
»Was sollte ich auch sagen, in dem Gedränge.«
»In Vernon wurden dann Plätze frei. Gegenüber von zwei Frauen mit blondierten Stoppelhaaren, die uns kurz verächtlich ansahen und dann verbissen auf ihr Strickzeug starrten.«
Bernard räusperte sich.
»Strickzeug?«
»Ja«, meinte Laurent.
»Man glaubt es nicht«, stöhnte Bernard. »Immer noch?«
»Schon wieder, glaub ich«, meinte Laurent.
»So, ich bin jetzt hier durch. Ging ja schnell.«
»Marco sah aus dem Fenster und folgte jedem Strommasten mit den Augen, als sei er ein Weltwunder«, sagte Laurent. »Ich schau ihn mir von der Seite an, wie er sich die Strähne abwechselnd aus dem Gesicht pustet und hinters Ohr streicht. Die dicken Lippen, die ja schon Gérard damals so vielversprechend vorkamen …«
»Stimmt, ich erinnere mich«, meinte Bernard.
»Die dünnen langen Finger, die langen Arme und Beine, wo er nicht so richtig weiß, wohin damit … die idiotische, umgekehrt aufgesetzte Basketballmütze: Keine Ahnung, warum er derart sexy ist. Naja, und er merkt, dass ich ihn anseh, und schaut mich an und sagt, dass er auch nicht weiß, warum er ausgerechnet mich so sexy findet, und dreht sich wieder weg. Die Kurzhaarfrauen kriegen das natürlich mit; ihre Mundwinkel graben sich senkrecht nach unten, und sie klappern wie verrückt mit den Nadeln. Wenn die jetzt mitfahren bis Oissel, dann gute Nacht, dachte ich – aber auf der nächsten Station packen sie ihre Körbchen zusammen und steigen aus. Marco verdreht, als sie außen auf dem Bahnsteig vorbeigehen, die Augen und stöhnt: Lesben!«
»Bisschen herablassend, der junge Mann«, sagte Bernard.
»Die hätten uns so blöde angeglotzt, dass er Lust gekriegt hat, mir direkt vor ihren lesbischen Augen den Schwanz zu lutschen, dann hätten die wenigstens wirklich was zu glotzen gehabt.«
»Der macht ja aus seinem Herzen keine Mördergrube«, sagte Bernard.
»Ich hab ihn erstmal dafür gelobt, dass er das nicht gemacht hat, aber er dann gleich, mit finsterster Miene: dass er jetzt mal genau wissen will, was das für Freunde sind, zu denen wir gehen; dass sowas wie mit diesem Gérard, dass das überhaupt nicht nochmal in Frage kommt, und wo das genau ist, wo wir hinfahren, und was da genau stattfinden wird, und mit wem, und warum und wieso; dass er mich schon irre sexy findet, aber dass ihn das …«
Laurent räusperte sich.
»… wortwörtlich: ankotzt, dieser Tick, den ich da habe, mit meinen Freunden, was das soll, und warum das sein muss, dass er das überhaupt nicht verstehen kann …«
Es gab eine Pause.
»Er kann ja mal einen Termin mit dem lieben Gott machen«, meinte Bernard müde, »und mit ihm die Schöpfung diskutieren.«
»Ja, so etwas hab ich ihm auch gesagt, sinngemäß«, sagte Laurent. »Manche Männer seien halt so. Aber er sofort: Manche Männer seien auch nicht so, aber ich sei beschissenerweise so, aber dass er mich, und das sei ja die Kacke, beschissenerweise trotzdem irre sexy findet.«
»Hat er das immer, diese Kloakensprache?«, fragte Bernard.
»Und grinst plötzlich, und macht den Arm lang, und zieht die Hand aus der Jacke, und die Hand krabbelt über das Polster, ganz, ganz langsam … und gräbt sich in meine Hosentasche.«
»Der ist verknallt«, stellte Bernard fest.
»Nein«, meinte Laurent, »bloß vernachlässigt.«
»Was macht dieser Alte mit ihm?«, seufzte Bernard. »Oder vielmehr: was nicht. Man versteht’s nicht. Wenn der junge Mann so einen Arsch hat wie du sagst …«
»Keine Ahnung«, meinte Laurent. »Jedenfalls: Die hungrige Hand muss sich erst in meiner Hosentasche zurechtfinden, aber schließlich war er am Ziel, und während er vorsichtig, aber kräftig darauf herumdrückt, fragt er mich, ob mir schonmal jemand den Schwanz auf dem Klo eines fahrenden Zuges gelutscht hat, und ich: nein, und er: wieso, und ich: das sei mir zu eng und zu schmutzig.«
Bernard lachte: »Was gelogen ist!«
»Er sollte mir auch mal was voraus haben«, sagte Laurent und lachte ebenfalls. »Und er auch gleich: Das müsse ich mal probieren, das sei irre, vor allem, wenn es über Weichen geht.«
»Hm«, meinte Bernard.
»Ja, und er erklärt mir, das sei auch gar nicht verboten, weil ja überall Schilder hängen, was im Zug verboten ist, Pommes, Eis, Rollschuhfahren, Rauchen und alles; vom Schwanzlutschen sei aber nirgendwo die Rede.«
»Wo er recht hat, hat er recht.«
»Aber dann kommt er halt gleich wieder damit«, stöhnte Laurent, »dass er eines von vornherein klarstellen will – wobei er allerdings sein segensreiches Tun in meiner Hose mit unverminderter Geschicklichkeit fortsetzt –, nämlich, dass wenn ihm dieser Freund von mir nicht gefällt, dass dann da überhaupt nichts läuft; wenn das so ein Fettsack und Kotzbrocken sei wie Gérard damals, dass ich das dann vergessen kann. Es fängt an, mir zu gefallen, was er da macht, und ich setz mich bequemer hin, damit er besser an die entscheidenden Teile rankommt. Er fände mich zwar sexy, aber so sexy dann auch wieder nicht, dass er alles mit sich machen lässt.«
Bernard räusperte sich. »Geil«, sagte er leise.
Laurent lachte.
»Übrigens hat er die ganze Fahrt«, sagte er fröhlich, »schon, als die Frauen noch dabei waren, nebenbei immer Kommentare abgegeben zu allem, wo wir dran vorbeifuhren. Du, der kannte wirklich jeden Ort, jeden Kirchturm, jede Flussbiegung, und wusste zu allem was zu zu sagen … nicht was: Alles. Die Geschichte jedes Dorfes und wahrscheinlich jeder Milchkanne, was da passiert ist und dort: das fleischgewordene Wikipedia. Und seit die Frauen weg sind, untermalt er sein lehrreiches Referat mit raffinierter Handarbeit. Einfühlsam und abwechslungsreich; wirklich geschickt, kann man nicht anders sagen, ich meine, im Rahmen dessen, was in einem halb besetzten Großraumwagen eben möglich ist. Ich will grad die Augen schließen, um mich drauf einzulassen, da macht er mich auf so ein Viadukt aufmerksam, das man von einer Brücke sehen kann … – kennst du sicher.«
»Ja, klar«, meinte Bernard munter, »das Viadukt von Oryval – dem Amte wohlbekannt! Wichtiges Verkehrsdenkmal, wechselvolle Geschichte … sieht man das vom Zug aus?«
»Ja, sieht man«, meinte Laurent, »aber mir war es noch nie aufgefallen. Auf jeden Fall: Diese wechselvolle Geschichte rattert Marco dann in allen Details runter, während er unablässig und immer intensiver meinen Schwanz bearbeitet: Der anfängliche Widerstand gegen den Bau, dann aber die Anerkennung als technische Meisterleistung; dreimal im Krieg zerstört, von den Deutschen, aber auch der Résistance … und betont ›Deutsch‹ und ›Résistance‹ mit einer kräftigen Bewegung seiner langen schlanken Finger an der Unterseite meines Schwanzes, genauso wie die Namen aller Architekten, aller Generäle und aller an den Baumaßnahmen und Zerstörungen beteiligten Personen … drückt da jedesmal richtig zu … ich sag’s dir …«
»Woher weiß er das alles?«, fragte Bernard.
»Das fragte ich ihn natürlich auch, schon um ihn ein bisschen zu bremsen, weil es wirklich schwer wurde, die Auswirkungen seiner Tätigkeit vor den anderen Fahrgästen zu verbergen; meine Stimme hörte sich ziemlich trocken an, glaube ich. Er sei die Strecke schonmal gefahren, meint er, und grinst – ich meine, was er in meiner Hose dabei veranstaltete, war sehr gekonnt und sensibel, da gab’s natürlich vom Schwanz ’ne Reaktion – du, der bringt den richtig zum Zucken damit – und erzählt, früher mit der Schule, Klassenfahrt, da habe die Lehrerin, übrigens auch ’ne Lesbe, einen endlos langen und langweiligen Vortrag gehalten. Und ich frag, wie er sich das alles merken kann, nur von einer Klassenfahrt … da haucht er mir ins Ohr: Das sei eben sein Problem, dass er sich immer alles merken kann, er sei nämlich hochbegabt. Aber dadurch eben auch schnell unterfordert und gelangweilt.«
Bernard lachte schallend.
»Das behauptet heute jeder orthographie-immune Sechstklässler von sich!«
»Ja, aber bei ihm scheint’s zu stimmen. IQ wolle er mir nicht sagen, sei aber im Geniebereich. War immer Musterschüler, meint er, und sei ja auch im ersten Anlauf bei der ENS angenommen worden. Und was er während dieser kleinen Unterhaltung mit seiner Hand an meinem Schwanz veranstaltet, das straft seine Behauptung keinesfalls Lügen. Die Möglichkeiten sind da ja beschränkt, aber ich muss sagen, er holt das Maximale raus, wie gesagt … Einerseits, meint er, das sei schon okay, hochbegabt sein, aber andererseits eben auch ein Problem.«
»Warum denn ein Problem?«, fragte Bernard.
»Ja, habe ich auch gefragt«, meinte Laurent.
Sein Glas war leer.
»Es sei die Erwartungshaltung, hat er mir erklärt. Alle dürften doof sein, oder mal was Doofes machen, oder sagen, nur er nicht. Und reibt dabei unverändert heftig meinen Schwanz; ich sag’s dir …Wenn andere was Dummes sagten oder machten, sei das normal, aber bei ihm, da heißt es immer: du, bei deiner Intelligenz! Und drückt mir auf die Eier, dass ich kurz zusammenzucke, und schaut mich an, während er weiterreibt, und sagt: dass er sich mit mir trifft, das sei natürlich auch kein Zeichen für einen IQ im Geniebereich. Es waren nicht mehr viele Leute im Zug, aber einige doch, und es wurde immer schwerer, unbeteiligt zu wirken. Und er stellt auch fest, ich hätte ja jetzt einen ziemlich Harten, und schlägt vor, ob wir doch mal nachsehen, ob die Toilette wirklich so eng und schmutzig ist, und seine Finger verleihen seinem Vorschlag Nachdruck. Ich meine, er hatte mich da in jeder Hinsicht in der Hand … Und was ich auf einmal gegen eng hätte, fragt er und grinst frech, eng, das sei sein Arsch ja auch, und schmutzig seien seine Gedanken, und überhaupt: vielleicht sei es ja eine Behindertentoilette, die wären groß und sauber, und fährt mit kräftigen Bewegungen an meinem … Harten auf und ab.«
Bernard kratzte sich am Kopf.
»Hm«, meinte er.
Laurent seufzte.
»Ich meine, ich bin ja auch nur ein Mensch«, sagte er nach einer Weile. »Es war dann aber keine Behindertentoilette.«
Bernard räusperte sich.
»Er schimpft erst, wie unmöglich er es findet, dass ein Zug, der so lange unterwegs ist, keine Behindertentoilette hat; es kann doch nicht sein, sagt er in einem Ton, als sei ich dafür verantwortlich, dass man immer noch nicht begreift, dass, wenn man was für Randgruppen tut, dass das dann auch der Gesamtgesellschaft zugutekommt – regt sich dann aber ab, als meine Hose auf ist, und das Ding da so erwartungsfroh heraussteht, geht in die Knie und tut sein Bestes. Dass er sich auszieht war natürlich nicht drin, bei so wenig Platz, und ich bin lieber stehengeblieben, weil: die Brille … über deren Zustand hatte er sich am meisten aufgeregt. Er kam insgesamt mit den beengten Verhältnissen nicht klar, muss man sagen, so langgliedrig, wie er dann eben doch ist: was er da ablieferte, war nicht auf dem Niveau, was er schon mal hatte. Lutschte bisschen einfallslos am Stängel rum.«
»Klingt nicht gut.«
»War’s auch nicht – gar kein Vergleich mit … wie hieß der, der das damals im TGV so teuflisch gut gemacht hat?«
Bernard überlegte: »Xavier?«
»Auch ein Xavier, stimmt«, sagte Laurent. Und seine Gedanken verloren sich in Erinnerungen …
Auch Bernard schwieg.
»Ich meine, im TGV, da ist das alles nochmal enger«, sagte Laurent nach einer Weile. »Aber der war …«
»Ja«, meinte Bernard mit trockenem Hals, »der wusste wirklich, worum es geht. Der war hochbegabt.«
Es entstand eine Pause; Bernard schien nachzudenken.
»Weißt du«, sagte er schließlich, »ich glaube, die haben im TGV auch was verkleinert. Ich meine, damals passten wir da zu zweit rein, mit diesem … Xavier noch dazwischen – das geht heut gar nicht mehr. Und das kann ja nicht nur an uns liegen, dass wir derart zugelegt hätten – Moment …«
Es gab eine Pause.
»Na endlich!«, rief er freudig. »Boarding!« – nur um einige Augenblicke entsetzt aufzustöhnen: »Die Schlange! Wenn du diese Schlange sehen würdest …«
Schicksalsergeben atmete er durch. »Na gut«, sagte er ruhig.
»Wie dem auch sei«, meinte Laurent, »so richtig schlecht war es natürlich auch nicht, und als dann Weichen kamen … da hat er recht, das spürt man ja im TGV nicht, aber in so einem Regionalzug, muss ich ehrlich sagen … doch, das überträgt sich, wenn man da so unkalkulierbar aufeinandergeworfen wird: Da musste er dann wirklich bloß hinhalten, das hat schon von sich aus was ganz Spezielles, wenn’s einen so schüttelt. Naja, dann wurde Oissel ausgerufen, und wir mussten abbrechen. Unverrichteter Dinge, was ihn aber nicht gestört hat; er fand’s trotzdem geil, wie er mir strahlend verkündet, als wir im Gang sind, weil: irre versaut.«
»Das konntest du ihm nicht abgewöhnen, dieses ewige: versaut?«, fragte Bernard.
»Nicht wirklich«, meinte Laurent. »Ob ich denn jetzt eingesehen hätte, fragte er ganz selbstbewusst, dass meine Vorurteile gegen Zugtoiletten völlig unbegründet seien … und war enttäuscht, als ich gesagt hab, dass das nun nicht besonders gut war, was er da abgeliefert hat, und dass das nicht nur an dem engen Raum lag; und dass es schade ist, dass er das selbst nicht merkt. Bemerkungen zum Thema hochbegabt habe ich mir verkniffen, er war auch so ziemlich geknickt, als er aus dem Zug stieg.«
»Das geht manchmal nicht anders«, meinte Bernard. »Sonst halten sie sich gleich für Überflieger.«
»Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof sahen wir schon von weitem diese wirklich nicht zu übersehende Riesenkarre stehen; er wusste sofort Marke, Typ und Leasingrate, und als ich sagte, dass das der Wagen sei, mit dem wir abgeholt werden, wurde die Stimmung schlagartig besser. Einen erneuten Dämpfer erhielt sie, als ich ihm auf dem Rücksitz eine geknallt hab.«
Bernard räusperte sich: »Einfach so?«
»Ergab sich so«, meinte Laurent. »War aber auch allmählich dran.«