Читать книгу Die Leiden des Henri Debras - Maike Braun - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеDer Doktor hat ein grobes Gesicht, ein gutes Gesicht. Seine Hände packen zu, halten fest. Das mag ich.
Er fragt, was mich hierher bringt und schraubt seinen Federhalter auseinander. Er füllt ihn mit schwarzem Blut. Dann setzte er den Deckel wieder auf. So etwas habe ich noch nie gesehen.
„Was ist das?“, frage ich und deute auf das seltsame Schreibgerät.
Ein Lächeln spaltet das breite Gesicht des Doktors.
„Eine ganz neue Erfindung“, sagt er. Ein Geschenk von einem guten Freund, der viel herumkommt.“
Ich komme auch viel herum. Mehr als mir lieb ist.
Man brauche die Feder nicht ständig in Tinte zu tauchen, erklärt er. „Der Füller trägt gewissermaßen sein Tintenfass mit sich.“
Eine schöne Idee: alles bei sich zu haben, das man braucht. Er reicht mir den Federhalter. Ich schüttele den Kopf.
„Ich kann nicht schreiben.“
Außerdem habe ich Angst, dass sich das Ding von mir nicht zähmen lässt, mit mir macht, was es will.
„Das kann man lernen“, sagt er und wie zum Beweis wird die Feder lebendig, rast über die Seite, zuckt wie ein Dämon.
Er legt den Füller wieder zur Seite. Ich stoße ihn mit dem Finger an. Er rührt sich nicht.
Ich möchte ihm von meiner Unrast erzählen. Davon, dass sich meine Brust anfühlt wie eine aufgezogene Spiralfeder, bevor mich der Dieb packt.
Doch ich sage: „Ich habe gesehen, wie Sie hier eingezogen sind. Auf der Männerstation. Bleiben Sie lange?“
„Wer weiß, jetzt vielleicht schon. Wurde Ihre Krankengeschichte bereits aufgenommen?“
Ich weiß nicht, was er meint.
„Dann machen wir das jetzt“, sagt er und schlägt eine frische Seite in seinem Notizbuch auf.
Er fragt mich nach meinem Namen. Ich nenne ihn. Er fragt mich nach meinem Beruf, meiner Adresse. Ich nenne sie ihm. Er fragt nach meinem Alter.
Ich erinnere mich nicht daran. Nicht an mein Geburtsjahr, nicht an den Monat und nicht an den Tag.
„Vielleicht fällt es Ihnen später ein.“
Er hat sanfte Augen, als er das sagt.
Er fragt mich nach meinen Vater, ich mag nicht darüber reden. Nach meiner Mutter, wie sie im Bett lag, die Hände gefaltet, und das letzte Sakrament erhielt. Ich sehe sie vor mir in diesem Moment, ihr zartes Lächeln wie der erste Frühlingswind. Ich erzähle ihm davon.
Der Doktor nickt, seine Augen sind fast geschlossen. Hört er noch zu? Das Schreibgerät schläft auf dem Tisch.
Als ich ihm von meinen Kopfschmerzen berichte, richtet er sich auf.
„Sprechen Sie weiter. Was passiert als nächstes?“
„Die Welt verschwindet. Ich verschwinde.“
Er hakt nach. Seine Feder duckt sich über dem Blatt wie eine Spinne vor dem Absprung.
„Ich stehe in unserer Straße vor dem Gemüseladen“, erkläre ich. „Links davon befindet sich der Hutmacher, rechts der Fleischer.“
Er nickt mir aufmunternd zu.
Ich erzähle, wie die Welt von den Rändern her aufgefressen wird, bis sie sich ganz auflöst.
Er schaut mich an. Ich sehe den Unglauben in seinen Augen. Er hält mich für einen Schwindler.
Er kann es nicht verstehen. Er gehört hierher. Mit seinem neuartigen Federhalter. Er gehört in dieses Hospital mit den dicken Mauern und dem schönen Garten, an diese Schreibtisch, selbst wenn er staubig ist. Ihn treibt nichts davon.
„Henri“, sagt er und seine Stimme klingt wie das Summen von Bienen an einem Lavendelstrauch. Ich soll ihm ganz genau erzählen, was passiert. Vielleicht kann er mir doch helfen.
„Es ist nichts mehr da“, sage ich. „Kein Gemüse, keine Hüte, keine Kalbsköpfe.“
Was ich stattdessen sehe, will er wissen.
„Nichts“, sage ich. „Ich sehe nichts. Es ist alles wie von einer Tafel gewischt. Tage, Wochen, manchmal auch Monate später, wache ich in einer wildfremden Stadt auf.“
Seine Feder gerät in Bewegung. Huscht über die Seite. Hinterlässt eine schwarzleuchtende Spur.
„Haben Sie Kinder?“, frage ich.
Er hält inne. Schaut mich an. Schüttelt den Kopf.
Ich möchte gern Kinder. Mit Kindern ist alles anders. Sie vertäuen einen in der Welt.
Ich erzähle ihm von einem Mädchen, das ich unten im Hof bei den Waschweibern gesehen habe.
„Sie ist nicht wie die anderen“, sage ich und verstumme.
Wie soll ich es ihm erklären?
Über den Schreibtisch hinweg greift er nach meinem Arm, nimmt meine Hand in die seine. Er wird mich festhalten, wenn ich wieder weglaufen will. Das spüre ich.
Er bittet mich, weiter zu sprechen.
„Ich höre einen Namen. Von einer Stadt, von einem Land. Dann kommen die Kopfschmerzen, alles verschwimmt und ich marschiere los. Ich suche diesen Namen, diese Stadt, dieses Land. Als ob ein Fremder sich meinen Körper ausleiht. Mit ihm spazieren geht. Quer durch Europa.“
Ich blicke auf, er nickt mir zu, ich fahre fort.
„Wenn dieser Herumstreuner, dieser Dieb, genug hat oder in Schwierigkeiten gerät, lässt er meinen Körper am Straßenrand liegen wie einen ausgetretenen Schuh. Dort finde ich mich wieder.“
„An mehr erinnern Sie sich nicht?“
Ich schüttle den Kopf. Er lässt meine Hand los. Gleich wird er mich wegschicken. Doch er notiert nur etwas in seinem Buch. Die Feder tanzt über das Papier. Ein schöner Anblick. Ich möchte auch tanzen lernen.
Die Tür fliegt auf. Eine Schwester marschiert herein. Nicht die von der Station. Eine andere. Mit Augenbrauen quer über das Gesicht wie ein Galgen.
„Hier stecken Sie also“, sagt sie streng und knallt einen Stapel Akten auf den Schreibtisch des Doktors.
„Schwester Marguerite, würde es Ihnen etwas ausmachen?“, sagt der. „Ich führe gerade ein Gespräch mit einem Patienten.“
Eine ihrer Augenbrauen krümmt sich.
„Das würde es“, sagt sie.
Der Doktor sieht wütend aus. Seine Lippen ziehen sich in den Bart zurück.
Aus einem an ihrem Gürtel befestigten Beutel holt sie ein braunes Glasfläschchen, streckt es mir entgegen. Es sieht aus wie das, aus dem sie dem Kranken auf der Station gegeben haben. Ich will nicht ruhig gestellt werden. Ich will nicht festgeschnallt werden.
Ich stehe auf. Sie packt mich am Arm. Ich schüttle sie ab.
„Jeden Morgen nehmen Sie davon einen Löffel. Dann fühlen Sie sich spätestens in einem Monat besser“, sagt sie.
„Ich bin nicht wie der Mann heute Morgen. Ich bin nicht verrückt.“
„Deswegen bekommen Sie ja auch etwas anderes“, sagt sie.
„Was ist das?“, fragt der Doktor.
Sie sagt etwas, das ich nicht verstehe, fügt „Gegen seine Fallsucht“ hinzu.
Ich falle nicht, ich verschwinde. Ich hebe die Hand. Will sie aufklären.
„Keine Widerrede. Sie gehen jetzt nach Hause und schlucken brav jeden Tag Ihre Arznei.“
Nach Hause? Ich will nicht nach Hause. Dort kommt er wieder, der Dieb.
„Ich möchte hier blieben - beim Doktor.“
Die Schwester bleckt die Zähne. Sie sind schief.
„Der Doktor ist noch gar kein Doktor“, sagt sie. „Der einzige Doktor, den es hier gibt, ist der Herr Professor. Und der sagt, Sie sollen nach Hause gehen.“
Ich schaue den Doktor an, der keiner ist.
„Ich rede mit dem Professor“, sagt er.
„Trotzdem gehen Sie jetzt nach Hause“, sagt die Schwester.
Ich drücke mich gegen die Wand. Ich will da nicht hinaus, wo sie mit Gurten warten und den Patienten Pech einflößen.
Die Schwester faucht den Doktor an. Er schnaubt zurück. Mein Schädel pocht.
Wie soll mich der Doktor heilen, wenn ich nicht im Hospital bin?
„Henri, bitte tun Sie, was Schwester Marguerite sagt.“
„Herr Doktor, Monsieur, lassen Sie mich nicht im Stich.“
Der Doktor legt seine Hände auf meine Schultern, blickt mich an. Seine Augen haben die Farbe von Harz in der Sonne. Fast kann ich die Pinien riechen. Er verspricht mir, mich nicht im Stich zu lassen. Er gibt mir sein Wort.
Die Schwester drängt mich zur Tür hinaus. Ich drehe mich zum Doktor um. Er wird mich heilen. Er muss mich heilen.
„Sie haben es mir versprochen.“
Ich stolpere über die Türschwelle. Die Tür fällt zu. Der Doktor ist verschwunden.
„Tisson, was gibt’s denn nun schon wieder?“
Aupy blickte kurz von seinem Schreibtisch auf, dann wühlte er weiter in den Unterlagen, die darauf verstreut waren.
„Ich wollte mit Ihnen nochmals über Henri Debra sprechen.“
Aupy beugte sich quer über den Schreibtisch und deutete mit dem Finger auf den Boden. „Liegt da etwas?“
Tisson wollte gerade den Kopf schütteln, als er unter dem Tisch eine Zeichnung entdeckte. Auf dem Blatt war ein Zackenmuster abgebildet, das Tisson entfernt an die Umrisse einer mittelalterlichen Befestigungsanlage erinnerte. Er reichte sie Aupy.
„Wegen Henri Debra“, begann er erneut.
Aupy verglich die Zackenlinie mit einer ähnlichen in der aktuellen Ausgabe der Revue Médical.
„Wusste ich es doch“, murmelte er, klappte das Journal zu und musterte Tisson. „Was ist mit ihm? Wenn er sich weigert, seine Arznei zu nehmen, binden Sie ihn fest.“
Tisson winkte ab. Das sei nicht nötig. Der Patient sei kooperativ. Er habe sich gerade lange mit ihm unterhalten. „Seine Krankheit ist recht ungewöhnlich. Ein Anfall scheint bei ihm den Zwang zu reisen hervorzurufen.“
Aupys Schnurrbart zuckte. „Was wollen Sie mir damit sagen? Dass er nicht entlassen werden soll? Wollen Sie mich belehren?“
„Nein, sicher nicht. Ich würde ihn nur gern etwas länger beobachten. Er könnte doch einmal die Woche zur Nachuntersuchung ins Hospital kommen.“
„Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, unser Gebiet ist die Hysterie und nicht die Epilepsie? Im Übrigen: Wie behandelt man die Fallsucht?“
„Mit Brom Kalium.“
„Exakt. Genau das bekommt er. Hat Ihnen Schwester Marguerite nicht die Krankenakten gebracht?“
Tisson nickte.
“Dann sind Sie doch beschäftigt. Studieren Sie die Akten. Machen Sie eine Aufstellung über sämtliche Neuzugänge im letzten Jahr. Alter, durchschnittliche Verweildauer, Häufigkeit der Anfälle, Symptome etcetera etcetera. Vor allem aber achten Sie auf Störungen im Sehvermögen. Notieren Sie, welcher Art diese Störungen sind. Im Zweifelsfall befragen Sie die Patientinnen erneut.“
Aupy setzte sich an den Schreibtisch, schob die Papiere zur Seite, zog ein leeres Blatt aus der Schublade hervor und begann zu schreiben.
„Auch bei Henri kündigt sich ein Anfall durch eine Verengung des Sehfeldes an.“
„Tisson! Wenn ich noch einmal diesen Namen höre, können Sie Ihre Sachen packen und sich von mir aus als Landarzt im Finistère niederlassen.“
Die nächsten Wochen verbrachte Tisson damit, das Sehvermögen aller Neueinweisungen der letzten sechs Monate auszuloten. Er maß die Farbwahrnehmung, die Sehstärke und die Ausdehnung des Gesichtsfeldes. Letzteres stellte die aufwändigste Messung dar. Dazu arretierte er den Kopf der Patientin, wies sie an, einen zentralen Punkt zu fixieren und bewegte dann einen Metallstift auf einem Försterbogen, einer halbkreisförmigen Schiene, langsam von außen in Richtung Nasenspitze. Die Patientin gab ein Handzeichen, sobald sie den Stift wahrnahm. Dasselbe wiederholte er in Zwanzig-Grad-Schritten bis er einen Halbkreis durchschritten hatte.
Schob er den Stift zu schnell, wurde die Messung ungenau. War er zu langsam, verloren die Patientinnen die Geduld und begannen die Augen hin und her zu bewegen. Dann musste er wieder von vorne beginnen. Darüber hinaus beklagten sich die Frauen ständig, dass er nicht mit ihnen rede. Er versuchte ihnen zu erklären, dass er sich konzentrieren müsse. Doch einige schienen sich regelrecht einen Spaß daraus zu machen, ihn abzulenken. Vor allem die Mädchen, die sich schon länger im Hospital befanden. Tisson nahm sich vor, mit Schwester Marguerite darüber zu sprechen, wie man den Alltag für die Patientinnen interessanter gestalten könne, damit diese nicht ihre gesamte jugendliche Vergnügungssucht an ihm austobten.
Hinzu kam, dass er die Messblätter selbst anfertigen musste, da Aupy die wenigen Vordrucke für sich behielt. Tisson verbrachte mehrere Tage damit, konzentrische Kreise auf ein Blatt Papier zu zeichnen und die Gradzahlen von null bis hundertachtzig in Zwanzigerschritten darauf abzutragen.
Wenn ihm vom langen Sitzen der Rücken schmerzte, ging er durch die Männerstation, wechselte einen Verband, horchte eine Brust ab, genoss das Brabbeln der Männer. Es war nicht an ihn gerichtet. Niemand erwartete eine Antwort. Es war mehr ein Zwiegespräch mit sich selbst. Ein erstauntes Aufmurren, wenn der Auswurf rot gefärbt war oder wenn die Glieder sich nicht mehr so biegen ließen wie gewohnt.
In der Zwischenzeit kannte Tisson die meisten Patienten beim Namen. Albert, der Tabes-Patient, lächelte ihm dankbar zu, wenn Tisson die Stationsschwester an ihre Versprechen erinnerte, auch diesen Patienten im Garten spazieren zu führen. Anfangs hatte sie den Mann gemieden, weil er sich, wie sie meinte, sein Leiden aufgrund seines liederlichen Lebenswandels selbst zuzuschreiben habe. Sie hatte im Laufe der Zeit einiges von Aupy und den Studenten aufgeschnappt und wusste, dass Tabes dorsalis auf ausschweifenden Geschlechtsverkehr zurückzuführen war.
Tisson hatte an das Motto ihres Ordens, die Barmherzigkeit, appelliert, woraufhin sie bis an die weißen Ränder ihrer Haube errötete und sich beschämt entfernte. Seitdem behandelte sie Albert wie alle anderen Gebrechlichen auf der Station. Zwei Pfleger trugen ihn die Treppe hinunter, wo er in einen Stuhl mit Rädern gesetzt und spazieren gefahren wurde.
Manchmal übernahm Tisson selbst diese Aufgabe. Die Neuen fragte er dann immer, ob sie einen Henri Debra, Bauklempner, kannten. Doch keiner konnte ihm Auskunft geben. In der Krankenakte war keine Adresse vermerkt. Er würde wohl mit seinem uneingelösten Versprechen leben müssen.
Tisson durchquerte den Innenhof, passierte das Badehaus der Männer und ging zu den Stallungen, um sein Véloziped zu holen.
Wie jeden Mittwoch half er heute seinem Freund, Dr. Laçao, im Portugiesenviertel aus. Er sammelte praktische Erfahrung und Laçao hatte Unterstützung. Anschließend aßen sie dann gemeinsam zu Mittag. Allerdings hatte er die letzten zwei Wochen abgesagt, um schneller mit den Messungen voranzukommen.
Er schob das Véloziped auf die Rue de Berry hinaus. Es war noch eines der alten Modelle. Ein Hochrad konnte er sich nicht leisten. Aber immerhin verfügte es über Pedale und, dank des Apothekers, von dem er das Fahrrad nach dessen Sturz günstig erworben hatte, über einen gepolsterten Sattel. So schlug ihm selbst eine Fahrt über Kopfsteinpflaster nicht zu sehr auf die Knochen. Tisson schwang sich auf sein Gefährt und radelte in Richtung Stadtgrenze.
Laçao lehnte an einem Laternenpfahl vor dem Wirtshaus, ihrem Treffpunkt. Seine Zähne, genauso weiß wie seine Hemdkragen, blitzten in dem dunklen Gesicht auf, als sich Tisson auf dem Véloziped näherte.
„Mein Freund“, sagte Laçao und der schmale Bartstreifen, der von seinem Oberlippenbart ausgehend rechts und links der Mundwinkel auf das Kinn zulief, krümmte sich zu einem sanften Bogen. „Kann dich die Wissenschaft für einen Morgen entbehren?“
„Wenn man es Wissenschaft nennen kann, was ich da betreibe“, antwortete Tisson und stieg von seinem Véloziped.
Wolken schoben sich vor das Guckloch am Himmel, durch das eine magere Sonne blinzelte. Es begann zu nieseln. Laçao spannte einen Regenschirm auf, Tisson klappte seinen Mantelkragen hoch.
Sie gingen die Straße entlang. Die Häuser, drei Stockwerke hoch, reihten sich Schulter an Schulter. Über die Straße hinweg schienen sie einander Drohungen zuzurufen, während sie im Erdgeschoss um die Menschen wetteiferten. Sie lockten sie in Torbögen, Treppenaufgängen und Geschäftsräume, um sie wenig später ernüchtert, manchmal auch geläutert, selten zufrieden, wieder auszuspucken. Die Wohnungen im ersten Stock waren die schlimmsten. Immer dunkel, immer feucht, beherbergten sie die, die das Streben nach Licht bereits aufgegeben hatten.
Auf eine dieser Wohnungen deutete jetzt Laçao und tänzelte behände um die rosafarbene Pfütze aus dem Abwasser einer nahe gelegenen Färberei herum.
„Nun erzähl schon“, sagte er. „Wie ist Aupy? Ist er so genial, wie man sagt?“
Wortlos schob Tisson sein Véloziped durch die Lache, betrachtete sein bespritzten Hosenbeine, schob weiter.
„Er ist zwei Jahre jünger als ich. Und er will Bordeaux zur besten Klinik Frankreichs machen.“
„Dann bist du ja genau richtig bei ihm.“
„Ich nehme an“, fuhr Tisson fort, „wenn ich stets seine Anweisungen befolge, dann widmet er mir in seinen Memoiren eine Fußnote.“
„Wie immer: die Ungeduld in Person“, sagte Laçao.
„Was ist daran ungeduldig, wenn ich nicht jedes Mal quer durch die Hospitalanlage marschieren möchte, um meinen Professor zu sehen, ganz zu schweigen von den Patientinnen?“
Sie betraten einen Hinterhof. Tisson lehnte sein Fahrrad gegen eine Hauswand und nahm den Arztkoffer von der Lenkstange.
„Hier kannst du jedenfalls zupacken“, sagte Laçao und stieg die Treppe hinauf. „Es handelt sich vermutlich um Diphtherie.“
Von allen Krankheiten hasste Tisson die Diphtherie am meisten. Es machte ihm nichts aus, eine Wunde zu versorgen, auch nicht, ein Geschwür zu untersuchen. Würmer, Maden, anderes Ungeziefer unter der Haut, im Auge, im Darm: All das ließ ihn unberührt. Aber wenn Laçao das Skalpell an eine Kehle setzte, um einen Luftröhrenschnitt durchzuführen, kam Tisson das jedes Mal wie Mord vor. Und oft endete es auch mit dem Tod. Der Patient starb Laçao unter den Händen weg oder ein paar Tage später an Wundfieber. So viele Jahre hatte sein Freund gelernt, so viele Jahre er. So viele Jahre waren vergangen, seit ihn seine Schwester um Hilfe angefleht und er so kläglich versagt hatte. Seit er seine Mutter kalt im Bett vorgefunden hatte, als er mit dem Landarzt zurückkam. Und noch immer verlor die Medizin die Hälfte der Zeit den Kampf gegen den Tod.
„Die solltest dein Talent der Erforschung der Diphtherie widmen“, sagte Tisson, „statt noch mehr Patienten durch einen Luftröhrenschnitt zu verlieren.“
„Wer redet denn von verlieren?“, sagte Laçao und klopfte an die Tür.
Ein großer, ausgemergelter Mann öffnete. Der Familienvater und wohl der Einzige, der sich noch auf den Beinen halten konnte, vermutete Tisson.
Während Laçao sich von dem Mann die Lage schildern ließ, sah Tisson sich in der Wohnung um. Sie war typisch für das gesamte Viertel. Der Korridor verlief rechts über die gesamte Länge der Wohnung hinweg. Drei Zimmer waren vom Gang aus zugänglich: die Küche, die zum Hof lag, die zur Straße gehende Stube und das Zimmer dazwischen, das fensterlos war und als Schlafzimmer diente. In diesem Fall war das Bettgestell in die Stube geschoben worden. Die Frau sei die Sonne Portugals gewöhnt, erklärte der Mann Tisson in gebrochenem Französisch, als ob er sich von ihm, dem Franzosen, Abhilfe verspreche.
Sie lag, ein Kleinkind im Arm, nur mit einem dünnen Tuch zugedeckt, auf dem Bett und strich dem Kind übers Haar. Ein ständiges Pfeifen begleitete dessen Atmung. Tisson zupfte Laçao am Ärmel.
„Das Kind“, flüsterte er ihm zu.
Laçao nickte und zog einen Spatel aus seinem Arztkoffer. Er bedeutete der Mutter sich auf einen Stuhl am Fenster zu setzen. Sie wartete, bis der Vater das Kind nahm. Dann stieg sie aus dem Bett. Laçao rückte sie ins Licht, das selbst um diese Tageszeit nur ein müdes Grau war und beugte sich über die Frau. Das Kind keuchte. Die Mutter zuckte zusammen.
„Joaquin, der Kleine hat nicht mehr viel Zeit“, ermahnte Tisson seinen Freund und hielt eine Hand vor den Mund des Jungen. Gerade noch spürte er den Hauch von Wärme, die den Jungen bei jedem Atemzug verließ.
„Solange er pfeift, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Laçao schabte weiter den Rachen der Mutter aus. Sie blieb bemerkenswert ruhig. Immer wieder warf sie einen Blick auf das Kind, das sich furchtsam an seinen Vater klammerte.
Mutterliebe, dachte Tisson. Sie würde sich wahrscheinlich bei lebendigem Leib das Herz herausreißen lassen und nicht schreien, nur um ihr Kind nicht zu ängstigen.
„Willst du auch mal?“, fragte Laçao und wischte den Spatel an einem Lappen ab.
Tisson beugte sich über die Frau. Ihre Haare klebten wie ein zerrissenes Spinnennetz an ihrem Gesicht. Ein faulig-süßer Geruch schlug ihm entgegen. „Ich sehe nichts. Wie kannst du so arbeiten?“
Laçao ging zur Kommode und zündete die Petroleumlampe an. Dann leuchtete er damit so gut es ging den Rachen der Frau aus. „Siehst du das linke Gaumensegel?“ sagte er. „Die Bläschen? Den weißlichen Belag? Das muss alles weg.“ Er trat zur Seite und löschte die Lampe. Tisson warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Du wirst nicht immer jemanden dabei haben, der dir ein Licht hält.“
Tisson seufzte. Manchmal nahm es Laçao zu streng mit seiner Ausbildung.
„Willst du mit dem Jungen weitermachen?“, fragte Laçao, als Tisson fertig war.
Tisson schüttelte den Kopf. Keine Kinder. Jedenfalls nicht zum Üben.
Laçao rollte das Betttuch zusammen und stopfte es dem Kind unter den Nacken, um besseren Zugang zum Rachenraum zu erhalten. Die Mutter bat er, den Jungen an den Händen festzuhalten. Dann begann er mit der Ausschabung. Der Vater trat an die Kopfseite des Bettes und begann mit leiser Stimme auf das Kind einzureden. Dabei blockierte er das wenige Licht. Tisson nahm ihn am Arm, führte ihn in die Küche, deutete auf die kalten Kohlen, auf den leeren Eimer. „Wasser, warmes Wasser“, sagte er immer wieder, bis der Mann schließlich begriff, und mit dem Eimer die Treppe hinunterlief.
Als er in die Stube zurückkehrte, wiegte die Mutter das Kind bereits wieder in den Armen. Tisson begann, die Instrumente zu reinigen.
Laçao erklärte dem Mann etwas auf Portugiesisch. Dann drehte er sich zu Tisson um. „Wie wär’s mit Mittagessen?“
„Wie kannst du nur so schnell abschalten?“, fragte Tisson. Er hatte zwar als Schiffarztgehilfe auf der Dahomé so manches erlebt, aber das war etwas anderes gewesen. Die Besatzung war bis auf die französischen Offiziere schwarz gewesen. Schwarz mit Narben im Gesicht wie Schriftzeichen. Schriftzeichen, die er nicht entziffern konnten. Mit einer Sprache, die wie das Hacken einer Machete klang. Die Männer waren ihm immer fremd geblieben. Dann die Sonne, die einem den Verstand ausdörrte, der Gestank, die Ratten, der Skorbut, der Durchfall. Auf der Dahomé war der Tod ein ständiger Begleiter gewesen.
Das hier aber war Bordeaux. Die Menschen lebten in getünchten Häusern. Die Familienmitglieder trugen Kleider, schliefen in Betten. Sie tranken Wein oder Wasser, auf jeden Fall aus Gläsern. Man konnte Menschen auf Photographien bannen, es gab Gaslampen, Telegraphen. Durch Frankreich rasten täglich Dampflokomotiven. Was hatte der Tod hier noch zu suchen?
Laçao winkte ihn zum Fenster.
„Schau hinaus“, sagte Laçao. „Der Regen hat aufgehört, die Spatzen zirpen, Mutter und Kind werden durchkommen. Wieso soll ich mich nicht freuen?“
Tisson schüttelte den Kopf. Er fand, sein Freund mache es sich zu einfach. Zu oft schon hatten diesen Streit gehabt. „Außerdem“, fügte Laçao hinzu, als sie auf die Straße traten, „ist die neue Bedienung im Le Canard wirklich niedlich.“
Tisson stieß die Luft aus. „Was ist mit der Tänzerin?“
„Zu mager geworden“, antwortete Laçao und zupfte sich vor einer Fensterscheibe die Krawatte zurecht.
„Wann lässt du diese Spielchen?“, gab Tisson zurück. Er dachte an seine Schwester, die ihrer Liebe in die Normandie gefolgt war und sich jetzt in einer Dorfschule von einem Tag zum anderen rettete, weil der Kerl eine reiche Witwe geheiratet hatte.
Laçao strich den Oberlippenbart glatt. „Das sind keine Spielchen. Das nennt man Leben, mein guter Freund. Und du solltest auch damit beginnen.“
„Der Mensch hat auch einen Kopf. Was ist damit?“
„Du machst dir etwas vor“, antwortete Laçao. „Du setzt dir ein hehres Ziel: die Wissenschaft, die Wahrheit“, er beschrieb mit der Hand einen Bogen in der Luft, „und übersiehst die wesentlichen Dinge dabei, die viel kleiner, viel unscheinbarer sind.“
„Das glaube ich nicht“, unterbrach ihn Tisson. „Es ist doch eher so, dass der Mensch meist nicht so hoch springt, wie das von ihm gesteckte Ziel. Und wenn er es zu niedrig setzt, muss er am Ende darunter hindurch kriechen.“
„Und wenn er vor lauter Zielstrebigkeit vergisst, sich um sein leibliches Wohl zu kümmern, springt er bald gar nicht mehr“, sagte Laçao und ging auf das Lokal am Ende der Straße zu.
Sie wollten gerade eintreten, als jemand Tissons Namen rief. Er blickte sich um, konnte niemanden sehen, bis er die Männer auf dem Dachfirst gegenüber entdeckte. Einer winkte ihm zu.
„Herr Doktor, hier oben“, rief er. Es war Henri.
„Geh schon mal vor, Joaquin“, sagte Tisson zu seinem Freund und lief über die Straße. Dabei rempelte er einen Mann mit einem Blumenstrauß an. Tisson entschuldigte sich, fragte sich, woher ihm der Kerl bekannt vorkam, und blickte die Fassade hinauf.
Henri steckte seinen Lötkolben zurück in das Kohlebecken und schlitterte ein Stück das Dach hinunter, wobei er sich am Kamin festhielt.
„Herr Doktor, hier oben“, rief er erneut und winkte. „Henri!“ Tisson lief sofort auf ihn zu. „Wie geht es Ihnen? Nehmen Sie Ihre Medizin?“
Henris legte schnell den Finger vor den Mund, blickte sich verschreckt nach dem anderen Mann um.
„Rosalie, die Kleine meines Bruders ist krank“, rief Henri vom Dach herunter. „Können Sie vielleicht nach ihr schauen, Herr Doktor? Es ist ganz in der Nähe. Wenn Sie Zeit haben?“
Tisson nickte Henri zu. Ein Krankenbesuch bei seiner Nichte. Dem konnte auch Aupy nichts entgegensetzen. Wenn er jemals davon erfahren sollte. Er erkundigte sich nach der Adresse.
„Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?“
„Ich habe es doch versprochen: Ich helfe Ihnen. Aber nennen Sie mich nicht immer Herr Doktor, das bin ich noch nicht.“
„In Ordnung, Herr Doktor – Monsieur.“ Henri schaute, als habe er ein Geschenk bekommen, mit dem er nicht mehr gerechnet habe. Dann kletterte er wieder das Dach hinauf.
Eine Hand legte sich auf Tissons Schulter.
„Was ist denn nun?“, fragte Laçao.
„Ich muss noch einen Patienten besuchen“, antworte Tisson und schwang sich auf sein Véloziped.
Er bog in die Straße mit dem Hutmacher, dem Fleischer ein, schob sein Véloziped in den Hof, nahm die Stiege in den zweiten Stock und klopfte an die Tür. Eine hagere Frau öffnete einen Spaltbreit.
„Madame Debra?“
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
„Ihr Mann, Henri Debra, schickt mich.“
„Das ist nicht mein Mann. So einen hätte ich nie geheiratet. Was ist mit ihm? Ist er wieder ausgebüxt? Wer sind Sie überhaupt?“
Tisson erklärte den Grund seines Besuches.
„Sie sind Arzt. Sagen Sie das doch gleich. Kommen Sie herein.“
Nicht Arzt, wollte er sie korrigieren, doch die Frau schlurfte bereits weiter, stieß die Tür zur Stube auf, bedeutete Tisson einzutreten.
„Warten Sie einen Moment, ich hole Rosalie.“ Sie schloss, das Fenster, das sie weit aufgerissen hatte, und verschwand im Nebenzimmer.
Tisson behielt seinen Mantel an und blickte sich um. Die Fensterscheiben waren trüb, der Vorhang davor auf einer Seite eingerissen. Zwischen Kommode und Tür war ein Bett gezwängt, auf dem Tisch lagen Seidenbänder, Metalldrähte und zu Blütenblättern geformtes Seidenpapier, auf dem Boden ein Haufen schmutziger Wäsche. Es stank nach Abtritt, obwohl die Frau gerade gelüftet hatte. Tisson schob vorsichtig mit dem Fuß den Wäschehaufen zur Seite.
In dem Moment kam Madame Debra mit einem vielleicht zehnjährigen Mädchen zurück, stieß es in Tissons Richtung.
Das Kind konnte sich kaum aufrecht halten. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut wirkte pergamentartig. Wie ein Tier aus seiner Höhle stierte es Tisson an.
Er fühlte seine Stirn. Eiskalt. Er zwickte das Mädchen in den Arm. Die Hautfalte blieb stehen. Es stöhnte nicht einmal.
„Das Kind ist völlig ausgetrocknet“, sagte er.
„Was soll ich machen?“, fragte die Frau. Vor vier Tagen habe sich das Mädchen erbrochen und dann Durchfall bekommen. „Sie macht mir die ganze Bude voll. Dabei gibt es im Hof einen Abort. Aber sie kackt in die Ecke!“
„Madame Debra, das Kind ist schwer krank.“
„Ich meine ja nur. Wir haben hier kein fließend Wasser wie die feinen Herrschaften. Ich muss jedes Mal zum Brunnen im Hof laufen. Ich bin den ganzen Tag nur damit beschäftigt, den Dreck wegzumachen. Und dann habe ich noch keinen Sous verdient.“
Tisson zog das Mädchen zu sich heran und hörte es ab. Wenigstens waren die Lungen frei. Er wies die Mutter an, ein Glas Wasser und etwas Zucker zu bringen.
Die Alte blieb neben dem Stuhl stehen. „Ich hab’s Ihnen doch gerade gesagt: Hier gibt es kein fließend Wasser.“
„Dann bringen Sie mir Wein und einen Löffel.“
Die Frau murmelte, „Wein soll ich bringen, hat man das gehört?“, schlurfte aber in die Küche.
Sie kam mit einer blassroten Flüssigkeit zurück. Tisson hielt das Glas gegen das Licht. Flocken trieben darin.
Madame Debra rang die Hände. „Was soll ich denn tun? Wir trinken alle den Wein mit Wasser gestreckt. Dass Leute wie Sie das nicht verstehen.“
Tisson roch an dem Wasser, befand es für ausreichend und begann dem Mädchen löffelweise den Wein einzuflößen.
Madame Debra ging im Zimmer auf und ab, warf immer wieder einen Blick auf das Mädchen in Tissons Arm.
„Sie sehen doch, wie wir leben“, sagte sie. „Da hilft es nicht, wenn man einen Mitesser hat, der keine regelmäßige Arbeit findet, weil er ständig auf Wanderschaft geht. Und jetzt auch noch das Kind krank.“
„Jetzt seien Sie endlich still.“ Die Frau war nicht zu ertragen. Kein Wunder wollte Henri lieber im Hospital bleiben.
Das Mädchen drückte Tissons Hand. Hatte sein harscher Tonfall es erschreckt? Er stellte das Glas ab, streichelte die Wange des Kindes, bis sich dessen Griff wieder löste, und gab ihm den Rest zu trinken.
„Wo schläft das Kind?“, fragte er, woraufhin Madame Debra ins Nebenzimmer huschte.
Tisson folgte ihr, das Mädchen auf dem Arm. Im trüben Licht einer Petroleumlampe, konnte er gerade noch sehen, wie Madame Debra Kissen und Decke von zwei aneinander gestellten Stühlen nahm, die offensichtlich als Schlafstatt für das Mädchen dienten, und auf dem einzigen Bett im Raum ausbreitete.
„Hier“, sagte sie und klopfte mit der Hand auf die Matratze.
Tisson legte das Mädchen vorsichtig darauf ab.
Wieder in der Stube sagte er zu Madame Debra: „Wenn Sie sich nicht um das Kind kümmern, wird es sterben.“
„Sagen Sie doch so etwas nicht. Herr Doktor, bitte. Natürlich kümmere ich mich um sie. Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
„Sie haben gesehen, wie ich ihr gerade den Wein eingeflößt habe?“
Die Frau nickte in ihre aneinander gelegten Hände hinein.
„Jede halbe Stunden geben Sie ihr Wein mit Zucker. Und eine Kante Brot. Haben Sie das verstanden?“
In ein paar Tagen werde er wiederkommen. Wenn noch jemand im Haushalt erkranke, solle sie ihm unverzüglich Bescheid geben.
„Herr Doktor, wie stellen Sie sich das vor? Jede halbe Stunde. Ich bin jetzt schon hinterher. Hundert Sträuße hätte ich heute Morgen abliefern sollen. Die Kiste steht auf der Kommode und es sind nur fünfzig Sträuße darin. Und jetzt, wo das Kind mir nicht helfen kann, fehlt das Geld an allen Ecken und Enden.“
„Machen Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Dann wird Rosalie auch bald wieder gesund und kann Ihnen helfen.“ Die Schrunden an den Fingern des Mädchens waren ihm nicht entgangen.
Madame Debra richtete sich auf. „Wir sind arme Leute. Da muss jeder mithelfen.“ Trotz lag in ihrer Stimme.
„Ich weiß, wie das ist, mit knurrendem Magen einschlafen zu müssen“, sagte er. Er hatte sich als Waise das Schulgeld selbst verdienen müssen und oft genug am Essen gespart.
„Das sieht man Ihnen jetzt aber nicht mehr an“, sagte sie und boxte ihn in die Seite.
„Wann kommt eigentlich Ihren Schwager zurück?“, fragte Tisson und wuchtete die Arzttasche zwischen sich und die Frau, um das Stethoskop darin zu verstauen.
Madame Debra legte den Kopf schräg. „Nicht vor dem Abendessen, wieso?“
„Nimmt er regelmäßig seine Arznei?“
„Das kommt noch dazu“, begann Madame Debra, erneut zu lamentieren, und eine Schläue schlich sich in ihr Gesicht. „Das Geld für die Arznei. Den Armen nimmt man’s, wo es nur geht. Aber wem sage ich das, Herr Doktor. Sie wissen ja offensichtlich selbst, wie das ist.“ Sie sah Tisson auffordernd an.
Wortlos legte der eine Münze auf den Tisch, obwohl er wusste, dass sie die Arznei umsonst erhalten hatte.
„Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Sie sind ein wahrer Freund der Armen. Ich werde Henri Bescheid sagen, dass Sie hier waren.“ Sie ließ die Münze in ihrer Rocktasche gleiten. „Soll ich ihn ins Hospital schicken, wenn er kommt?“
„Das ist nicht nötig. Aber für das Kind gezuckerten Wein, jede halbe Stunde, und etwas Brot. Haben Sie verstanden?“
„Ja, doch, ja“, sagte sie und brachte Tisson zur Tür.
Am nächsten Morgen stellte Tisson gerade sein Véloziped im Schuppen unter, als ihm der Stallbursche entgegenkam und sagte, er solle zum Professor, „Sofort!“
„Wann wollen Sie denn den Professor schon gesehen haben?“, fragte Tisson und zog seine Uhr aus der Rocktasche. „Morgens um kurz nach acht?“
Der Stallbursche stützte sich auf seine Mistgabel und sagte: „Der Herr Professor und ich, wir unterhalten uns jeden Morgen über die Pferde. Er liebt Pferde. Um acht Uhr morgens genauso wie um acht Uhr abends.“ Er kniff die Augen zusammen. „Er schätzt meinen Rat, was Pferde betrifft.“
„Schon gut. Hat er gesagt, worum es geht?“
„Er hat vor allem gesagt: sofort“, erwiderte der Stallbursche und kippte Tisson eine Gabel Mist vor die Füße.
Tisson sprang zur Seite und hastete in das Gebäude. Hatte Aupy etwa erfahren, dass er Henri zu Hause aufgesucht hatte? Und wenn schon, er hatte dessen Nichte behandelt. Aupy konnte ihm nichts vorwerfen.
Tisson wischte sich die Locken aus dem Gesicht, klopfte an und betrat Aupys Arbeitszimmer.
Aupy schlug sein Notizbuch zu, fixierte Tisson. „Ich habe es schon einmal gesagt: für die Patienten mögen Sie Arzt sein, für mich nicht. Und solange Sie das nicht sind, geben Sie sich auch nicht dafür aus. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Ich versichere Ihnen, Herr Professor, ich habe nichts dergleichen getan.“
„Man hat Sie mit diesem portugiesischen Armenarzt gesehen“, schnitt ihm Aupy das Wort ab. „Ich nehme nicht an, dass Sie ihn begleitet haben, um nach Hysterischen Ausschau zu halten?“
Der Blumenstrauß, der Rotschopf. Deswegen war der ihm bekannt vorgekommen.
„Was auch immer man Ihnen berichtet haben mag, Herr Professor, ich schaue Dr. Laçao lediglich über die Schulter. Es geht mir um die praktische Anschauung.“
„So, so. Praktische Anschauung. Dann kommen Sie mal mit.“
Tisson folgte ihm ins Nebenzimmer, wo Arlette, das Mädchen mit dem Kirschmund, auf einem Stuhl saß, die Beine übereinander geschlagen.
Aupy zog einen Stab aus seiner Rocktasche hervor und reichte ihn Tisson.
“Hier! Demonstrieren Sie mir Ihre praktischen Fähigkeiten.“
Tissons Blick wanderte zwischen dem Stab und Aupy hin und her.
„Was ist? Worauf warten Sie?“, fragte Aupy.
Tisson gestand, er wisse nicht, was es mit dem Stab auf sich habe.
„Aha! Hier zögern Sie.“ Aupy nahm ihm den Stab wieder weg. „Aber mit einem Messer glauben, sie hantieren zu können, nur weil es sich um einen Gebrauchsgegenstand handelt. Damit, glauben Sie, können Sie an wehrlosen Patienten herumschnippeln.“
Woher wusste Aupy von der Ausschabung? Hatte sich die Kunde von der Diphtherie im ganzen Viertel ausgebreitet?
„Sie sind hier nicht auf einem Schiff, wo sie nach Belieben an irgendwelchen Wilden Ihre Kunstfertigkeit üben können“, fuhr Aupy fort. „Sie befinden sich in Bordeaux. Sie sind ein Mitglied der Medizinischen Fakultät. Sie haben einen Ruf zu vertreten.“
Tisson wollte sein Handeln rechtfertigen, als ihn Arlettes Kichern aus dem Konzept brachte. Sie zog einen Schmollmund und bewegte den Zeigefinger hin und her. Tisson zwang sich geradeaus zu blicken.
„Dr. Laçao nahm die Ausschabungen vor. Ich habe nur zugeschaut“, sagte er schließlich.
„Es gab keine ... Komplikationen?“
„Nein, wie kommen Sie darauf? Es handelte sich um einen einfachen Fall von Diphtherie.“
Dann müsse er seine Quellen überprüfen, murmelte Aupy. „Wie dem auch sei“, sprach er mit lauter Stimme weiter. „Wenn Ihnen praktische Anschauung fehlt, dann kommen Sie zu mir. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“
Tisson nickte. Aus den Augenwinkeln nahm er war, wie Arlette Grimassen schnitt.
Was ihm zum Thema Hypnose einfalle, wollte Aupy wissen.
Er habe sich damit bisher noch nicht befasst, antwortete Tisson und konzentrierte sich auf seine Schuhspitzen.
Dann werde er ihm jetzt praktischen Anschauungsunterricht geben und die Patientin hypnotisieren, erwiderte Aupy.
Er trat vor Arlette, zog den Stab wieder hervor und hielt ihn vor ihr Gesicht. Nach wenigen Sekunden fielen ihre Augen zu. Er wies Tisson an, Arlettes Arm anzuheben.
Der legte Zeigefinger und Ringfinger unter das linke Handgelenk des Mädchens, hob seine Hand und damit ihren Arm und ließ ihn dann los. Der Arm klatschte auf den Rock. Er wiederholte das Gleiche mit dem rechten Arm. Wieder sackte die Hand in den Schoß zurück. Tisson blickte den Professor fragend an.
„Die Muskeln der Patientin sind völlig erschlafft“, offerierte er schließlich als Diagnose.
Aupy nickte kurz und fordert Tisson auf, den Ulnarnerv zu stimulieren. Für einen Augenblick verweilte Tissons Blick auf Arlettes rundem Gesicht, ihrem kleinen Mund, die geschlossenen Augen. Sie wirkte heiter, als ob ein Lächeln kurz unter der Oberfläche darauf lauere, befreit zu werden, aber sie schien ihn nicht wahrzunehmen. Aupy räusperte sich. Tisson drückte den Nerv über Arlettes Handwurzel. Sofort krallte sich ihre Hand zusammen.
„Gesteigerte Erregbarkeit der Nerven“, sagte Tisson.
„Weiter?“ Aupy zwirbelte an seinem Schnurrbart.
Was wollte Aupy noch hören? Tisson ging in Gedanken die Krankenakten durch, rief die letzten Vorlesungen vor seinem geistigen Auge auf. Er ließ seinen Blick schweifen, verharrte auf einer Zeichnung einer sich aufbäumenden Patientin an der gegenüber liegenden Wand und antwortete: „Wie bei den Hysterischen. Eine gesteigerte Erregbarkeit der Nerven wird insbesondere während eines hysterischen Anfalls beobachtet.“
„Genau richtig, genau richtig“, sagte Aupy.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, begann er die Bordüre des Teppichs entlang zu marschieren, während er die Bedeutung der Hypnose erklärte. Die Hypnose sei nichts anderes als eine reduzierte Neurose, eine Art Hysterie in Kleinformat. Mittels der Hypnose könnten die Phänomene der Hysterie künstlich hervorgerufen werden.
„Verstehen Sie“, schloss er seinen Vortrag, „die Hypnose ist geradezu dafür geschaffen, die Hysterie zu untersuchen.“
Er schritt auf Arlette zu, legte die Daumen auf ihre Augäpfel und zog die Lider auseinander. Wieder forderte er Tisson auf, Arlettes Arm anzuheben.
Der tat wie ihm geheißen, doch dieses Mal verharrte der Arm in der Luft.
„Katalepsie. Der zweite der drei Zustände der Hypnose“, erläuterte Aupy und rieb Arlette über den Scheitel.
Sie öffnete die Augen.
„Sie stehen in einem Schlangennest“, sagte er zu ihr.
Augenblicklich riss sie die Beine hoch, schüttelte sie, versuchte die Schnürsenkel mit der Hand wegzubürsten.
„Die Schlangen sind wieder verschwunden“, behauptete Aupy.
Arlette stellte die Füße wieder ab, lächelte.
Aupy drehte sich zu Tisson um. „Beeindruckend, nicht? Der somnambule Zustand, vergleichbar dem hysterischen Schlaf“, erläuterte Aupy. „Die Patientin erinnert sich hinterher an nichts.“
Er bedeutete Tisson, ihm ins Arbeitszimmer und zum Bücherregal zu folgen. Tisson seufzte. Mehr Bücher. Mehr verlorene Zeit.
Aupy wirbelte herum. „Was ist? Interessiert Sie die Hysterie plötzlich nicht mehr?“
„Doch, doch“, beeilte sich Tisson zu sagen, “aber ich bin noch nicht einmal mit den Gesichtsfeldvermessungen fertig.“
Wie das sein könne, wollte Aupy wissen. Es seien doch nur eine Handvoll Neuzugänge gewesen.
„Acht, um genau zu sein“, antwortete Tisson. „Aber nur bei einer ist es mir bisher gelungen, die Messung auch direkt nach einem Anfall durchzuführen.“
Nach einem Zögern – er wollte nicht den Eindruck erwecken, er beschwere sich wieder über sein Zimmer - fügte er hinzu, bis er hinzugerufen werde oder die Patientinnen aus ihrem Erschöpfungsschlaf nach einem Anfall wieder aufwachten, vergingen Stunden, ja Tage. Er bezweifle, dass die Daten dann noch aussagekräftig seien.
Aupy zog vier Wälzer aus dem Regal und drückte sie Tisson in die Hand.
„Das ist die Lösung Ihres Problems“, erklärte er. „Statt auf einen Anfall zu warten, versetzen Sie die Patientinnen in Hypnose.“
Tisson stieß geräuschvoll die Luft aus. Diesen Hinweis hätte er früher gebrauchen können.
„Vielleicht sollten Sie häufiger einmal mit Ihrem Professor Rücksprache halten und dessen Ratschlägen folgen“, fuhr Aupy fort. „Auch wenn der weniger schillernd daher kommt wie Ihr portugiesischer Freund.“
Aupy machte auf den Absätzen kehrt. Tisson starrte auf seinen schmalen Rücken, die linke Hand, die sich zur Faust ballte und wieder streckte, die kleinen, präzisen Schritte, mit denen er ins Nebenzimmer zu Arlette zurück ging.
„Und gewöhnen Sie sich dieses Schnauben ab“, rief ihm Aupy zu, ohne sich umzudrehen. „Sonst hetze ich Ihnen den Chirurgen auf den Hals, damit er Ihnen die Nase richtet.“