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»You make me wanna shout!«

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Donnerstag, 11. November – der Monat der Diagnose

Gestern habe ich erfahren, dass meine Mutter bald sterben wird. Sie ist siebzig Jahre alt. Mit siebzig muss man heute nicht mehr sterben. Mama schon. Die letzten zwanzig Jahre hat sie immer damit kokettiert, was für eine flotte Oma sie in diesem Alter sein wird. Und das ist sie auch: Charmant, mit der ganzen Welt im Chat, attraktiv und schick in Mode gehüllt, deren Zielgruppe gerade das Abitur machen sollte. Und mit ihrem rot gefärbten Haarschopf, der verwegen ein Signal in blonder Umgebung setzt, offenbart sie allen: Hier hausen keine alten, sondern wilde Flausen unter dem Pony. Dieser aufregende Mensch wird nun sterben.

Eigentlich wurde mir vor dreißig Jahren bewusst, dass meine Mutter irgendwann einmal gehen wird. Damals war ich zehn Jahre alt und musste mich mit dem Tod beschäftigen. Aber da ging es nur um mich und den abstrakten Gedanken, die Erde vielleicht verlassen zu müssen. Wie alle Menschen. Und damals dachte ich, am meisten wird es mir wehtun, wenn meine Ma nicht mehr sein wird.

Seit ein paar Wochen ging es ihr nicht gut. Sie hatte Schmerzen, bekam schlecht Luft. Ich drängte sie, einen Facharzt aufzusuchen, doch sie wollte einfach abwarten. Es würde schon wieder gut werden.

Schließlich traute sich Mama, konsultierte aber nur ihren Hausarzt. Der horchte sie ab, meinte, die Lunge sei frei, alles okay, sprach von einer Erkältung und verschrieb ein Antibiotikum. Dabei konnten selbst meine unbeholfenen Ohren erahnen, dass Mama Wasser in der Lunge hatte. Erst der anstehende Besuch bei ihrem entsetzten Kardiologen konnte meine Mutter überzeugen, sich ins Krankenhaus einweisen zu lassen.

Und da war sie nun, im Nachbarort, nicht begeistert, von daheim weg zu sein, aber ich im Ausgleich dafür unendlich froh über diese Wendung. Endlich kompetente Hilfe für Mama! Das versprach ein Happy End!

Gestern besuchten Papa und ich sie dort. Die ersten Untersuchungen waren abgeschlossen, und am Telefon klang Mama optimistisch, wie sie es immer ist. Ich brachte ihr einen Plüschhund im Weihnachtsoutfit mit, der sie zum Lachen bringen sollte. Wenn man auf seine Pfote drückte, fing der Hund an, die Hüften zu schwingen und mit den Ohren zu schlackern, während er den Song »You make me wanna shout« sang. Der Plan ging auf, meine Ma lachte genauso, wie ich es mir ausgemalt hatte, knuddelte den Hund, und als die Visite mit Arzt und Schwestern eintrat, alle mit unbewegter Miene, dachten Papa und ich, dass hier nur humorloses Krankenhauspersonal herumlief. Dann erfuhr ich, dass Mama todkrank ist und sterben wird. Ausgesprochen wurde es nicht, aber die Worte »Krebs im fortgeschrittenen Stadium« nadelten auf uns ein.

Meine Mutter – tot. Daran gedacht habe ich schon, wie es sein wird. Wenn sie vielleicht mit neunzig Jahren sich über mich aufregt, weil ich wie immer nicht ihrer Meinung bin. Sie mit der Hand auf der Brust ausruft: »Oh, mein Herz!« und einen letzten aufgebrachten Seufzer ausstoßen wird. Dann, so dachte ich, bin ich sechzig Jahre alt, ärgere mich, weil sie sich vor meinem letzten Gegenargument gedrückt hat und weine, bin auch wütend und werde wie sie selbst über den Tod ihrer Mutter sagen: »Das war okay für sie zu gehen.«

Seit gestern weiß ich, dass ihr krankes Herz sie nicht verraten wird. Ihr Herz, das so groß ist, zu groß für all ihre Gefühle! Was sie aber nicht ausbremsen kann, in all ihrer Lebenslust. Gestern habe ich erfahren, dass ihr die Luft zum Atmen genommen wird. Lungenkrebs.

Und ich sehe den Arzt an, der das sagt, sehe auf den Mund der Krankenschwester, den sie zu einer harten Linie zusammenpresst, sehe auf den Weihnachtshund, der die Ohren hängen lässt. Und ich frage mich, wie kann das sein? Ich verstehe es nicht! Wie kann diese Frau, die die Lebenslust gierig in sich aufsaugt und gedeihen lässt, Krebs in der Lunge haben?

Und ich sehe Mama in ihrem Krankenhausbett sitzen, hübsch wie immer, trotz unfrisierter Haare, mit ihrem unvergleichlichen Mund, dessen untere Lippe sich leicht nach vorne schiebt, wenn sie ihre Mimik nicht kontrolliert. Und ich will diesen Mund atmen sehen! Lachen sehen! Wie vor wenigen Sekunden, als der Weih-Nachtshund »You make me wanna shout« in die Welt grölte!

Und ich möchte eine Knarre nehmen, auf den Stoffhund abfeuern, will ihm seine wiegenden Hüften zerfetzen.

Atme, Mama, atme!

Vor dreißig Jahren, als ich als kleines Kind Rheuma bekam, war meine Mutter mein Mantel der Geborgenheit. Mein Schutzschild gegen Angst und Schmerzen. Verteidigte mich gegen experimentierfreudige Ärzte. Sie vertrieb für mich all die dunklen Nachtgestalten mit Namen Furcht. Für alles hatte sie eine Zauberformel. Ich habe nie wieder in meinem Leben einem Menschen so vertraut wie ihr.

Dann wurde ich älter, und ihr Feenstaub wirkte nicht mehr auf meiner rationalen Seele. Meine Ma und ich entfernten uns voneinander, rieben uns oft aneinander auf. Meine Liebe blieb allerdings immer und auch das ewige Gefühl, von ihr geliebt zu werden. Diesen Menschen verliere ich jetzt.

Ich habe mich sehr erwachsen gefühlt, mit vierzig Jahren, bis gestern. Gestern hat der Krebs nicht nur meiner Mutter die Luft zum Atmen genommen, sondern auch mir einen tonnenschweren Stein auf die Brust gelegt. Empathie nennen das vielleicht kluge Leute. Ich nenne es pure Verzweiflung. Wie soll ich denn ohne meine Mutter sein? Sie saß so ruhig da, auf ihrem ordentlichen Krankenhausbett, die Schultern leicht rund nach vorne gewölbt, die Hände im Schoß, schaute sie ins Nichts vor sich. Ihr gegenüber, rechts und links auf der Bettkante, saßen wir, Papa und ich, und haben geweint und geweint, unsere Gesichter überschwemmt. Sie saß nur da, so ruhig und gefasst, und nahm unsere Hände. Rechts und links umrahmten wir sie, aber in Wahrheit umrahmte und umarmte sie uns und war wieder meine Mama aus Kindheitstagen mit dem Schutzmantel aus Liebe und Geborgenheit. Hüllte uns ein und tröstete uns in unserer Angst, sie zu verlieren.

Heute weiß ich, das kleine Mädchen in mir hatte absolut recht. Es wird mir am meisten wehtun, wenn Mama mich verlassen wird. Ihr Herz wird nicht versagen, aber ihr Tod wird meines zerreißen.

Leg schon mal die Handtücher auf die schönsten Wolken

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