Читать книгу Die zerbrochene Flöte - Maj Bylock - Страница 4

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Im Hafen war es noch still und kein Mensch zu sehen. Doch jederzeit konnten gähnende Seeleute aus ihren Kojen herausgetaumelt kommen. Und bald würden die quietschenden Türen der Läden und Magazine aufgeschlagen werden.

Ein dünner Schatten huschte am Kai entlang. Vor dem größten Gebäude des Hafens blieb er stehen und glitt dann vorsichtig an die Hausmauer heran, um dort hinter der hohen Treppe zu verschwinden.

Lange mußte er nicht warten, bis die Knechte des Kaufmannes aufschlossen und Teerfässer und Säcke voller Kalk heraustrugen.

Der Schatten wußte genau, wann es an der Zeit war, hinter ihrem Rücken in das dunkle Magazin zu verschwinden. Dort tastete er sich vorsichtig voran, bis er das gefunden hatte, weswegen er hergekommen war.

„Den nehme ich als Ersatz für Mutters Hochzeitsring“, murmelte der Schatten und verschwand mit einem großen, leeren Sack in die Morgensonne hinaus.

„Tut mir leid, Plattnas“, sagte Dan kurz darauf. „Ich hoffe, daß ich dir nicht weh tue. Aber ich muß dich nun einmal auf diese Art verstecken.“

Er band den Sack ordentlich zu, während Plattnas drin im Dunkeln schnatterte und zappelte. Besonders lang hielten seine Proteste jedoch nicht an. Als er Dans Stimme hörte und seinen Rücken durch die Sackleinwand hindurch spürte, beruhigte er sich und schlief ein.

Drinnen in seinem Kontor saß der Kaufmann und schnalzte mit der Zunge. „Nicht schlecht“, sagte er dann zufrieden. Er kostete soeben den Wein aus einem der Weinfässer, die er gekauft hatte. Gewürze und Stoffe hatte er ebenfalls erstanden. Das alles hatte sich an Bord des Schiffes befunden, das vor dem Lagerhaus am Kai lag. Jetzt schleppten seine Knechte die Waren an Bord, die er selbst verkaufen wollte.

„Hat genau die richtige Süße“, sagte er zu sich und nippte noch einmal zufrieden an dem Becher. „Diese Ladung kann ich für einen guten Preis an meine Kunden hier in Visby verkaufen.“

Der Kapitän des Schiffes war ebenfalls zufrieden. Er stand an Deck und sorgte dafür, daß alles ordentlich verladen wurde. Plötzlich spuckte er auf den Finger und hielt ihn in die Luft. „Der Wind ist günstig. Wir müssen möglichst bald ablegen, bevor er wieder abflaut. Am besten noch vor Mittag“, rief er dem Steuermann zu. „Sag den Männern, daß sie sich sputen sollen! Die ganzen Lederbündel liegen ja noch auf dem Kai!“

Seeleute und Kaufmannsknechte bekamen es nun so eilig, daß sie sich gegenseitig fast über den Haufen rannten. „Geh zur Seite!“ riefen sie einem Jungen mit einem Sack auf dem Rücken zu. „Du stehst im Weg!“

Der Junge ging weiter. Aber er entfernte sich nicht vom Schiff, sondern kletterte den Landungssteg hinauf und versuchte dabei, ein mutiges Gesicht zu machen, obwohl ihm das Herz bis in die Halsgrube schlug und seine Knie so sehr zitterten, daß er fast vorwärts stolperte.

Mitten auf dem Landungssteg kamen ihm zwei Seeleute entgegen. „Was tust du hier?“ fragten sie und drehten ihn um.

„Ich möchte mit dem Kapitän sprechen“, antwortete Dan so bestimmt wie möglich.

„Du glaubst doch nicht im Ernst, der Kapitän hätte Zeit für Grünschnäbel wie dich?“

Bevor Dan wußte, wie ihm geschah, hatten sie ihn auf den Kai zurückgestoßen.

Aber der Kapitän hatte den Lärm gehört. Er trat an die Reling und erblickte Dan. Zuerst sah er einmal hin, dann noch einmal. Und schließlich rief er: „Ich gehe zum Frühstück in die Kajüte. Schickt mir den Jungen herunter!“

Die Seeleute musterten Dan mißtrauisch. Sie wußten, daß ein neuer Schiffsjunge an Bord gebraucht wurde. Der vorige war erst vor ein paar Nächten über Bord gespült worden. Aber dieser hier konnte doch kaum in Frage kommen? Der sah zu mickrig aus, wie er so dastand und einen alten Sack an sich preßte.

Dan drückte den Sack mit Plattnas so fest an sich, damit der Affe ruhig blieb und nicht ausgerechnet jetzt Unfug machte. Jetzt ...

Er hielt die Luft an, während er darauf wartete, daß jemand dem Befehl des Kapitäns Folge leistete. Einer der Seeleute näherte sich unwillig, ging dann mit Dan den Steg hinauf und zeigte auf die steile Treppe, die der Kapitän gerade erst hinabgestiegen war. Dan zögerte nicht hinterherzuklettern.

Seine Augen waren noch an das klare Sonnenlicht gewöhnt. Unten am Fuß der Treppe mußte er stehenbleiben und blinzeln, bevor er in der Düsternis hier wieder sehen konnte. Da erblickte er den Kapitän, der in seiner Kajüte am Tisch saß und Suppe löffelte. Ein Teil davon tropfte in seinen Bart, der eigentlich grau war, sich aber dort, wo die Suppe hinunterfloß, rotbraun verfärbte. Der Kapitän hatte eine Glatze und Augenbrauen so groß wie Vogelschwingen, unter denen zwei freundliche Augen Dan lange und forschend ansahen.

„Nun, was wolltest du von mir?“ fragte er freundlich.

Dan verschlug es die Sprache. Er war so sehr an unfreundliche Worte und harte Stimmen gewöhnt, daß es ihm schwerfiel zu antworten, wenn jemand ihn nicht anbrüllte.

„Ich ... ichichich ...“, stammelte er. „Ich will zur See gehen ...“

„Dacht ich mir’s doch“, antwortete der Kapitän. „Wenn Jungs mit einem Sack im Arm den Landungssteg heraufkommen, haben sie meistens genau das im Sinn.“

Jetzt hatte der Kapitän seine Schüssel leer gegessen. Doch anstatt sie beiseite zu schieben, füllte er sie erneut. Dann reichte er sie Dan.

Dan stellte rasch den Sack auf den Boden und streckte beide Hände vor, um die Schüssel in Empfang zu nehmen. Für den Löffel hatte er keine Zeit, er trank die Suppe direkt aus der Schüssel.

„Na, das war aber ein großer Hunger“, sagte der Kapitän. „Setz dich hier an den Tisch, dann gibt’s noch mehr.“

Ohne eine einzige Frage beantworten zu müssen, durfte Dan jetzt Brot und gekochtes Fleisch essen. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie etwas so Gutes gegessen. Er seufzte und spürte, daß sein Bauch ganz rund geworden war, nachdem er sich endlich satt gegessen hatte.

Die ganze Zeit hatte der Kapitän ihn mit seinem forschenden Blick angestarrt. „Wie heißt du, mein Junge?“

Aber es fiel Dan immer noch schwer zu antworten. Diesmal, weil er so unfaßbar satt war.

„Heißt du Jakobsson?“ fragte der Kapitän.

Dan blickte ihn verblüfft an. „Ja. Dan Jakobsson.“

Wie konnte der Kapitän das wissen? Soweit Dan wußte, hatte er doch noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt.

„Ich habe deinen Vater gekannt“, sagte der Kapitän, als ob er Dans Gedanken gelesen hätte.

Er hat Vater gekannt und mir trotzdem zu essen gegeben? fuhr es Dan durch den Kopf. Aber ...

„Wir waren beide auf demselben Schiff Schiffsjungen“, sagte der Kapitän. „Er hat mir einmal das Leben gerettet, als wir von Seeräubern überfallen wurden.“

Dan schwieg. Er saß einem Menschen gegenüber, der Vater nicht als Mörder bezeichnete, sondern sagte, daß Vater sein Leben gerettet habe!

„Weißt du auch, daß du genauso aussiehst wie dein Vater damals? Dünn und knochig. Braune, widerspenstige Haare. Und dann die Augen. Grün wie Katzenaugen. Die vergißt man nicht so leicht. Fährt dein Vater immer noch zur See?“

„Vater ist tot“, antwortete Dan rasch. „Als ich klein war, ist er in einem Sturm untergegangen.“

Mehr sagte Dan nicht, und der Kapitän nickte.

„Ja, ja, das ist das Los des Seemannes.“

„Ich möchte als Schiffsjunge anheuern“, flüsterte Dan.

„Vielleicht ...“

Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Streck deine Hände vor“, sagte er freundlich. „Mit dieser häßlichen Wunde kannst du weder Taue einholen noch das Deck schrubben. Du mußt warten, bis die Hand wieder geheilt ist.“

Dan blickte auf die Wunde. Er sah hin, ohne sie zu sehen, da seine Augen jetzt voller Tränen standen. Diese verdammte Wunde! Verstohlen wischte er sich die Augen. Er durfte auf keinen Fall zeigen, daß er fast weinte.

„Geh wieder heim zu deiner Mutter“, sagte der Kapitän und stand auf. „Wenn ich im Frühjahr zurückkomme, bist du bestimmt wieder hergestellt. Dann darfst du auf meinem Schiff Schiffsjunge werden, das verspreche ich dir!“

Dan starrte auf den Boden und schwieg. Er sagte nicht, daß seine Mutter auch tot war und daß er nirgends hin konnte. Wenn seine Hand erst einmal geheilt war, konnte er vielleicht auf irgendeinem Bauernhof Arbeit finden. Irgendwie würde er sich doch bis zum Frühjahr durchschlagen können.

Der Kapitän beugte sich über den Tisch und sammelte alles ein, was noch an Fleisch und Brot übrig war, ja, sogar den Rest einer geräucherten Hammelkeule. Dann reichte er alles Dan.

„Hier! Steck das in deinen Sack. Vielleicht bleibst du dann bis morgen satt. Jetzt mußt du an Land, wir wollen nämlich gleich lossegeln.“

Dan bückte sich nach dem Sack. Wenigstens hatte Plattnas sich ruhig verhalten. Da sah er, daß der Affe verschwunden war! Der Sack war noch da, aber leer. Mit seinen scharfen, kleinen Zähnen hatte Plattnas ein Loch in die Sackleinwand genagt und war auf und davon!

Dan hob den Sack auf und schüttelte ihn, als könnte Plattnas sich plötzlich in eine Fliege verwandelt haben und sich noch darin verstecken.

„Na, was ist!“ sagte der Kapitän jetzt ungeduldig. „Pack das Essen jetzt ein!“

Er reichte Dan die Hammelkeule. Dan nahm sie samt Speck und Brot und steckte alles in den Sack. Seine Hände arbeiteten wie von selbst. Aber seine Gedanken galten nur Plattnas.

Da ertönte lautes Krachen. Ein Seemann kam die Treppe herab und mit bleichem Gesicht in die Kajüte gepoltert.

„Ich will an Land“, stöhnte er. „Mit diesem Schiff wage ich nie mehr zu segeln!“

„Was sagst du da, Kerl!“ brüllte der Kapitän und schüttelte ihn. „Beruhige dich und sag, was geschehen ist!“

Der Mann stöhnte erneut. „Ein Gespenst ist an Bord, ein Klabautermann“, jammerte er. „Ich habe es selbst gesehen. Das Schiff wird untergehen!“

„Ein Klabautermann?“

Der Kapitän zögerte. Er war schon lang genug auf See, um Geister und Erscheinungen ernst zu nehmen. Es gab genügend Berichte darüber, wie Klabautermänner und Geistererscheinungen den Untergang von Schiffen vorhergesagt hatten.

Er schloß seinen Schrank auf und holte ein Branntweinfäßchen heraus. Obwohl das Schiff bald ablegen sollte, schenkte er dem Seemann einen ordentlichen Schluck ein. Dann bekam er noch zwei weitere, worauf seine Wangen allmählich eine rosa Färbung annahmen.

„Nun, erzähl, was du gesehen hast“, sagte der Kapitän.

„Wie ein grauer Wind ist es mir um die Beine gefegt. Es war behaart und hatte funkelnde Augen. Der Schwanz ...“

Da kam Leben in Dan. Flinker als jedes Gespenst sauste er die Treppe hinauf aufs Deck. Der Kapitän und der Seemann konnten gut verstehen, daß der Junge vor dem Gespenst erschrocken war, und sie glaubten, daß er an Land gerannt sei.

Doch Dan war noch an Bord. Wie wild rannte er an Deck umher und suchte in allen Ecken und Winkeln.

„Verflixter Plattnas! Warte nur, bis ich dich erwische, du Klabautermann!“ fauchte er.

Als der Kapitän und der Seemann heraufkamen, mußte Dan alles erklären. Der Seemann geriet außer sich vor Empörung. Sein Gesicht wechselte erneut die Farbe, diesmal von rosa zu dunkelrot. Er packte Dan mit festem Griff am Hosenboden, hievte ihn zur Reling hinauf und schrie: „Jetzt werf ich dich ins Wasser, du ...!“

„Halt!“ brüllte der Kapitän. „Stell den Jungen hin und hilf suchen. Wir müßten längst auf See sein. Der Wind flaut langsam ab.“

Dan wollte weitersuchen, doch der Kapitän schrie: „Alles klar! Hißt die Segel! Lichtet den Anker!“

„Und du“, sagte er und zeigte auf Dan. „Sieh zu, daß du an Land kommst – mit oder ohne Klabautermann.“

Diesmal war Dan derjenige, der blaß wurde. Mit dem Sack in der Hand ging er langsam rückwärts auf den Landungssteg zu.

„Plattnas!“ schrie er. „Plattnas ...“

Verzweifelt ließ er den Blick ein letztes Mal übers Deck streifen, bevor er auf den Landungssteg hinaustrat.

Da fiel ihm plötzlich die Flöte ein. Er riß sie aus der Tasche und setzte sie an den Mund. Doch diesmal blies er so stark hinein, daß kein einziger Ton herauskam. Er versuchte, sich zu beherrschen und ruhiger zu blasen.

„Bist du immer noch nicht an Land?“ Jetzt war der Kapitän böse, und der Flötenton ertrank in seiner donnernden Stimme. Dan drehte sich um und rannte davon.

Kaum hatte er den Kai erreicht, wurde der Landungssteg eingeholt und die Ankerkette rasselnd hochgezogen.

Versteinert stand Dan da und sah, wie der Schiffsrumpf sich sachte vom Land entfernte, immer weiter und weiter weg vom Kai. Er hörte die weißen, geblähten Segel knattern, als sie gehißt wurden. Dans Blicke folgten ihnen nach oben. Und da sah er Plattnas ganz oben in der Spitze des höchsten Mastes! Klein und erschrocken klammerte er sich dort fest, genau wie früher an Dans Hals, als Dan ihn mit sich herumtrug.

Dan spürte, wie leer seine Arme waren. „Wartet!“ schrie er und winkte. „Wartet!“ Aber es war zu spät. Seine Stimme war zu schwach, und außerdem hatte niemand mehr Zeit, auf ihn zu hören. Einsam blieb er auf dem Kai stehen, bis Plattnas nicht mehr zu sehen war.

Bald war auch das Schiff außer Sichtweite, obwohl Dan am Strand entlanggelaufen war, um es so lange wie möglich sehen zu können.

Vielleicht hatte er gehofft, daß er es doch noch zum Umkehren bringen könnte, daß es doch noch zum Kai zurücksegeln würde. Daß der Kapitän einem der Seeleute befehlen würde, auf den Mast hinaufzuklettern und Plattnas herunterzuholen.

Als das Schiff endgültig hinterm Horizont verschwunden war, setzte Dan sich an den Strand. Er hatte das Gefühl, als hätte nichts mehr einen Sinn. Am liebsten würde ich sterben, dachte er.

Hinter den weißen, rundgeschliffenen Steinen des Strandes erhob sich eine Felswand. Dan sah, daß in dem Fels eine breite Öffnung war, wie eine Pforte. Als er näherkam, erkannte er, daß hier der Eingang einer tiefen Höhle war.

Da erinnerte er sich, daß Mutter ihm von dieser Höhle erzählt hatte, als er klein war. Hier pflegten die Seeräuber ihre zusammengeraubten Schätze zu verstecken, und manchmal wohnten sie auch in dieser Höhle, wenn sie nicht gerade auf ihren Schiffen draußen über das Meer fuhren.

Vorübergehend vergaß Dan, daß er sterben wollte. Er mußte wenigstens nachschauen, wie diese grausamen Seeräuber damals in der Höhle gelebt hatten. Große Felsblöcke dienten ihnen wohl als Bänke, und auf dem Boden der Höhle waren immer noch schwarze Flecken von ihren Feuerstellen zu sehen.

Vorsichtig setzte sich Dan versuchsweise auf einen der Felsblöcke und blickte aufs Meer hinaus. Wenn ihm nicht so traurig zumute gewesen wäre, hätte er sich jetzt einbilden können, ein reicher Seeräuber zu sein.

Da fiel sein Blick auf den Sack. Ganz verarmt war er doch noch nicht. Schließlich hatte er etwas zu essen, mehr als je zuvor in seinem ganzen Leben. Der Geruch der geräucherten Hammelkeule drang verlockend durch die Sackleinwand. Wenn er schon sterben mußte, konnte er ebensogut vorher noch die leckeren Sachen aufessen. Als Dan satt war, schlief er ein.

An diesem Tag starb Dan nicht und auch nicht am nächsten. Die Sonne ging auf und wieder unter. Und als der Sack leer war, beschloß er, trotz allem weiterzuwandern.

Eigentlich hätte er landeinwärts gehen müssen, um auf irgendeinem Hof Arbeit zu suchen, so wie er es sich vorgestellt hatte. Doch solange es seiner Hand so schlecht ging, daß er nicht einmal das Deck damit schrubben konnte, taugte sie auch nicht dazu, Ställe auszumisten.

Also folgte er dem Strand in südlicher Richtung. Er wanderte über verlassene Strandwiesen und weiße Sandstrände. Und ab und zu träumte er, daß das Schiff mit Plattnas an Bord doch noch angesegelt käme und vor ihm anlegte.

Das Meer bei Windstille!

Wie ein unendliches Nichts stieß es weit hinten an den Himmel, silberblank ruhend und wartend. Dann kam die Brise, und die Sonne brach durch die Wolken.

Das Meer erwachte. Plötzlich gingen kleine Lichter auf der Wasseroberfläche an, funkelten und blitzten.

Das Licht blendete Dan. Er schirmte die Augen mit dem Arm ab. Die Wunde in seiner Hand brannte, und er tauchte sie ungeduldig ins Wasser. Das kühlte zwar, doch dann ließ das salzige Wasser die Wunde nur noch heftiger als zuvor brennen. Verzweifelt sah er auf seine Hand. Am liebsten hätte er sie abgehackt und den Fischen vorgeworfen. Er seufzte und stand auf. Er war so müde.

Weiter hinten am Strand lag ein Fischerschuppen im Schutz zweier knorriger Kiefern. Doch die Tür des Schuppens war verschlossen, und Dan konnte sie nicht aufmachen. Da legte er sich im Schatten des Schuppens auf ein weiches Bett aus Strandgras. Halb im Schlaf holte er den Sonnenstein hervor, hielt ihn gegen das Licht und sah, wie er in weichen Farben schimmerte. Ähnliche Farben kannte er sonst nur von den bunten Glasfenstern der Kirchen, wenn die Sonne hindurchschien.

Und dann sah Dan etwas anderes. Ein Mann kam über die weißen Kiesel näher! Kräftig und aufrecht ging er dort am Wasser entlang. Dan fuhr hoch und rief: „Jakob! Hier bin ich! Komm und nimm mich mit!“

Doch da verblaßte der Mann und wurde vom Licht verschluckt.

Wie lange er geschlafen hatte, wußte Dan nicht. Das Geschrei unzähliger Möwen hatte ihn aufgeweckt. Ein Stück draußen im Wasser stand ein alter Mann und nahm Fische aus. Seine Beine ragten weiß und krumm aus den Hosenbeinen hervor.

Jedesmal, wenn der Alte Fischabfälle ins Wasser warf, tauchten die Möwen direkt vor ihm ins Wasser, um gleich wieder mit blutigen Därmen und glotzenden Fischköpfen in ihren gelben Schnäbeln nach oben zu fliegen.

Noch im Flug verschlangen sie ihre Beute und stürzten dann sofort wieder nach unten. Dan schauderte. Vor Möwen hatte er sich schon immer gefürchtet. Ihre Augen hatten einen so bösartigen, starren Blick – als ob das, was man sich von ihnen erzählte, tatsächlich stimmte.

Es hieß, die Möwen wären die Seelen toter Seeleute.

Doch das wollte Dan nicht glauben. Sein eigener Vater war tot, und der war Seemann gewesen. Wenn das stimmte, was über die Möwen behauptet wurde, dann mußte Vater ja auch eine von ihnen sein?

Da glaubte Dan doch lieber an Mutters Erzählungen von den Bewohnern des Himmels, den Engeln, die dort oben jenseits der Wolken lebten und wunderschön sangen, anstatt so abscheulich zu schreien und zu kreischen wie die Möwen.

Vielleicht weiß es der Alte dort draußen im Wasser, fragte sich Dan im Halbschlaf. Ich würde ihn gern danach fragen. Ja, der Alte dort draußen lebt hier am Rand des Meeres, überlegte Dan weiter. Bestimmt kennt er die Möwen besser als die meisten anderen. Und alt ist er außerdem, ist selbst dem Tode nahe.

Jetzt drehte der Alte sich um und ging ans Ufer zurück. Der trockene Meerestang am Ufer knisterte, als er mit seinen knochigen Füßen darauf trat. Er trocknete sie am Gras ab und schlüpfte in seine Holzschuhe.

Erst als er oben am Schuppen angelangt war, erblickte er den Jungen. Dan stand auf. Er wußte nicht, ob er davonrennen sollte, oder ob er es wagen konnte, zu bleiben. Doch der Alte nickte ihm nur einen Gruß zu.

Er stellte keine Fragen, obwohl er bestimmt gerne wissen wollte, wer Dan war. Daß der Junge nicht aus der Gegend war, das sah er. Und mit Fremden war er immer vorsichtig. So nah am Rande des Reiches der Meerfrau konnte man nie wissen ...

Umständlich öffnete er die Tür des Schuppens und verschwand darin. Als er wieder herauskam, sagte er zu Dan:

„Wenn du mir etwas Holz sammelst, bekommst du was zu essen!“

Dan sah sich um, brauchte aber nicht lange zu suchen. Silbergraue Holzstücke lagen auf dem Strand verstreut. An manchen konnte man noch die Spuren von Beilen und Schnitzmessern erkennen; das waren Überreste von Schiffen, die hier vor der Küste zerschellt waren.

Während Dan Holz sammelte, füllte der Alte den Topf mit Wasser.

Bald brodelte die Fischsuppe munter über dem Feuer im Schuppen.

Die Brise, die vorhin übers Meer gestrichen war, war zu einem kräftigen Wind angewachsen, der jetzt durch die Spalten und Ritzen der Schuppenwände hereinpfiff. Er ließ das Feuer auf dem Herd flackernd aufflammen. Die Feuerzungen leckten an dem verrußten Kessel, und das Gesicht des Alten nahm im Feuerschein ein geheimnisvolles, bedrohliches Aussehen an.

Dennoch faßte Dan Mut und fragte:

„Kann das wohl stimmen, was man so über die Möwen sagt ... daß sie die Seelen toter Seeleute sind?“

„Ja, ja, das kann schon sein.“ Der Alte nickte. „Aber nur die der Schlechten. Die Guten landen sicher woanders.“

Dan schwieg, dachte aber lange über die Worte nach: „Die Guten landen sicher woanders.“

War Vater schlecht oder gut gewesen? War es so, wie die anderen Menschen in der Stadt behaupteten, oder hatte Mutter recht, als sie von ihm erzählte?

Plötzlich mußte er auch an den Kapitän denken, der gesagt hatte, Vater habe sein Leben gerettet. Vater hätte doch bestimmt nie mit Absicht sein Schiff auf Grund laufen lassen. Er hätte doch nie das Leben seiner ganzen Besatzung aufs Spiel gesetzt, nur um reich zu werden!

Der einzige, der in der Lage wäre, Dans Fragen zu beantworten, der ihm die Wahrheit sagen würde, war Jakob.

Dans gesunde Hand suchte verstohlen unter dem Kittel nach dem Sonnenstein und drückte ihn fest. Es gab so viele Fragen, die Jakob ihm dereinst würde beantworten müssen!

Plötzlich beugte sich der Alte vor und sah Dan in die Augen. „Dein Blick ist grün wie das Meer“, sagte er. „Wer bist du eigentlich? In deinen Augen liegt das Geheimnis der Tiefe.“

Dan schwieg und blickte durch die Tür des Schuppens auf die Wellen hinaus.

„Wer du auch sein magst“, fuhr der Alte fort, „die Wunde in deiner Hand sieht auf jeden Fall bös aus.“

Er zog Dans Arm näher.

„Gegen solche Wunden gibt’s nur ein Heilmittel – Branntwein.“ Er streckte die Hand nach einem Tonkrug aus, der an der Wand lehnte, und drehte ihn um. „Leer wie ... Ach ja, ach ja, der Branntweinkrug des Alten ist zur Zeit fast immer leer ...“

Er blickte in die Wolken hinauf, als stünde in ihnen geschrieben, was außerdem noch Wunden heilen könne.

„Es gibt allerdings noch etwas anderes“, sagte er nach einer Weile. „Totenstaub. Heute abend ist Neumond, da ist es schwarz wie in der Hölle. Begib dich zum Friedhof und hol dir Totenstaub für deine Wunde. Aber sieh zu, daß du dir Erde aus einem frisch geöffneten Grab holst! Sonst hilft es nicht.“

Dan erbleichte. Totenstaub! Er dachte an all die unheimlichen Geschichten von Geistern und Gespenstern, die auf Friedhöfen hausen sollten. Nein, auf einen Friedhof wagte er sich nicht.

Aber seine Hand pochte und brannte. Er stand auf und fragte nach dem Weg.

„Du brauchst nur geradeaus landeinwärts zu gehen. Wenn du den Wald durchquert hast, siehst du die Kirche“, antwortete der Alte und zeigte Dan die Richtung.

Dan bedankte sich und machte sich auf den Weg.

Der Alte blieb lange stehen und sah hinter Dan her. Dann blickte er auf seine Hand, die vorhin noch Dans Arm umfaßt gehalten hatte. Er wischte sie sich sorgfältig am Hemd ab. War das nun ein Junge aus Fleisch und Blut, oder war das einer jener Knechte, die die Meerfrau auszusenden pflegte?

Diese Augen ... Solche Augen hatte er schon früher gesehen. Er wußte, daß die Meerfrau ab und zu ihre Knechte an den Strand schickte, wenn sie die Menschen zu sich locken oder ihnen Unglück vorhersagen wollte.

Eingehend musterte der Alte die Wolken, die über den Himmel jagten. Sie kündigten Sturm an.

„Heute abend werde ich besonders gut auf meine Sachen achtgeben müssen“, murmelte er und ging zu seinem Boot hinunter. Dort schlang er das Tau zusätzlich ein paarmal um einen großen Stein oben am Strand. Sicherheitshalber trat er dann noch einmal in den Schuppen und legte zwei Holzscheite auf dem Boden über Kreuz.

Kreuze hielten Trolle und Geister fern.

Noch einmal blickte er hinter dem Jungen her, der jetzt verschwunden war. Das Sausen in den Kiefern erklang kräftiger als vorhin. Ein Sturm braute sich zusammen, daran bestand kein Zweifel.

Als Dan den jenseitigen Waldrand erreicht hatte, konnte er den Kirchturm aus der Ebene aufragen sehen. Inzwischen war die Sonne schon fast untergegangen, doch bis Mitternacht war es noch lang.

Dans Beine trugen ihn kaum noch, er fühlte sich krank. Wenn er nicht selbst zum Friedhof ging, würden ihn vielleicht andere bald dorthin tragen müssen, das wurde ihm allmählich klar.

„Mit den Geistern muß ich irgendwie fertigwerden“, seufzte er.

Elend und verschwitzt ging er wieder in den Wald hinein. Er mußte einen Platz finden, wo er sich ausstrecken konnte, während er darauf wartete, daß es richtig dunkel wurde.

Es war nicht einfach, einen bequemen Platz zum Liegen zu finden. Die Kiefern hatten ihre Zapfen auf dem Boden verstreut, überall war es hart und uneben. Dennoch kam Dan alles unwirklich vor, wie in einem Traum.

Irgend etwas kitzelte ihn plötzlich im Nacken. Plattnas!

Dan wurde heiß vor Freude. Plattnas war wieder da! Wie hatte er ihn hier nur finden können? Doch als er im Gras um sich tastete, war niemand da. Nur eine Ameise, die sich in seinen Kittel verirrt hatte, kletterte an seinem Hals hoch.

Enttäuscht legte er sich wieder hin. Da hörte er Töne. Wie Engelsgesang! Vorsichtig öffnete er die Augen. Nein, Engel waren das nicht. Es war nur der Wind, der durch die Baumwipfel pfiff.

Dan nahm seine Flöte und schloß die Augen, er sah den Wald nicht mehr, nur noch eine graue kleine Gestalt hoch oben in einer Mastspitze.

Dan mußte spielen. Er setzte die Flöte an den Mund. Aber die Lippen, die in eine Flöte blasen, dürfen nicht zittern. Und die Finger, die über die Löcher der Flöte fliegen, dürfen keine zu großen Wunden haben. Er steckte die Flöte in die Tasche zurück. Heute abend mußte er sich damit begnügen, der Musik zu lauschen, die der Wald ihm vorspielte.

Zwischen den Bäumen wurde es immer dunkler. Aber der Abend zog sich in die Länge. Schließlich war Dan so müde, daß ihm selbst der harte Erdboden wie ein weiches Bett zu sein schien. Schlafen wollte er, nur schlafen.

Aber jetzt war die Mitternachtsstunde nah, die richtige Zeit, um auf den Friedhof zu gehen, wenn man solche Dinge vorhatte wie er, das wußte er. Jetzt mußte er wach bleiben.

Um nicht einzuschlafen, ging er auf den Weg hinaus, der zur Kirche führte. Dort erblickte er einen Baum, den größten Baum, den er je gesehen hatte. Es war eine Eiche mit einem Stamm so breit wie eine Kirchentür. Dan setzte sich unter die Eiche, den Rücken lehnte er an den harten Stamm. Immer wieder mußte er die Augen aufreißen. Die Augenlider wollten nur eines – sie wollten zufallen und die Träume hervorlassen.

Plötzlich sah Dan, wie eine Kutsche den Weg entlanggefahren kam. Direkt vor der Eiche bäumten sich die Pferde auf. Sie schlugen mit den Vorderhufen durch die Luft und rasten dann im wildesten Galopp davon. Die Kutsche schleuderte und kippte um!

Dan stürzte auf den Weg hinaus, um dem Kutscher zu helfen. Doch auf dem Weg war nichts zu sehen, weder Kutsche noch Pferde. Erst da ging es Dan auf, daß er kein einziges Geräusch gehört hatte, weder von Hufen noch von Rädern!

Die Geisterstunde war da! Jetzt mußte er sich zum Friedhof aufmachen. Sein Herz begann, wie wild zu hämmern.

Je näher er der Kirche kam, desto langsamer ging er. Er preßte den Sonnenstein in der Hand und wünschte, daß Jakob neben ihm ginge. Wenn nur Jakob ..., dachte er.

Noch nie hatte Dan sich so verlassen gefühlt wie in dieser Nacht.

Was hat der Alte am Strand außerdem noch gesagt? überlegte er. Daß Branntwein auch gut sei? Vielleicht sollte ich lieber zu einer Schenke gehen, als mich mit Geistern einzulassen?

Doch Schankwirte waren auch kein angenehmer Umgang. Dan zögerte nicht mehr lange, sondern kletterte auf die Friedhofsmauer. Dahinter standen die Steine dicht nebeneinander auf den alten Gräbern. Ein frischgeschaufeltes Grab mit einem Erdhaufen daneben konnte er nirgends sehen.

Er sprang hinunter und ging langsam zwischen den Gräberreihen hindurch. Doch, halt! Dort hinten sah er etwas, das ein Erdhaufen sein konnte. Dan schaute sich vorsichtig um. Keine weißen Gestalten, keine geisterhaften Schreie. Dennoch fürchtete er sich so sehr, daß ihm die Zähne klapperten.

Es dauerte eine wahre Ewigkeit, bis er den Erdhaufen erreicht hatte. Rasch bückte er sich, um seine wunde Hand mit Totenstaub zu füllen. Da hörte er hinter dem Haufen ein Rascheln. Auf der anderen Seite, wo das offene Grab lag!

Dan hielt den Atem an.

Eine dunkle Gestalt löste sich aus der Finsternis. Wie ein heulender Wind flog sie geradewegs auf Dan zu, der sich entsetzt hinter das nächste Grab warf. Jetzt war er des Todes!

Aber noch lebte er – er kämpfte mit dem Geist um sein Leben. Der Geist hackte mit messerscharfem Schnabel nach Dans Augen und schlug mit harten Flügeln um sich.

Dan erwischte den einen Flügel und schleuderte den Geist zum Grab hinüber. Dort gehörte er hin! Der Geist stieß einen heiseren Schrei aus, dann flatterte er davon.

Starr wie Eis blieb Dan auf dem Boden liegen. Da sah er, wie sich eine größere Gestalt aus dem Grab erhob. Eine Gestalt, die wie ein Mensch geformt war. Eine Zeitlang blieb sie am Rand des Grabes stehen. Dann wandte sich das Gespenst dem Stein zu, hinter dem Dan lag. Er wagte nicht einmal zu atmen.

Nach einiger Zeit bewegte es sich sachte vom Grab weg, auf die Mauer zu. Der Geist, der vorhin mit Dan gekämpft hatte, hüpfte neben ihm auf der Erde. Bisher hatte Dan immer geglaubt, Geister schwebten und sähen wie Nebel aus. Jetzt wußte er, daß sie Schnäbel hatten, mit denen sie hacken konnten, und daß sie klettern mußten, um Mauern zu überwinden.

Nachdem die Geister verschwunden waren, rannte Dan, so schnell er konnte, in die entgegengesetzte Richtung davon. Erst als er weit, weit weg war, fiel ihm der Totenstaub wieder ein.

Seine Hand war leer.

Die zerbrochene Flöte

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