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Kapitel 4
ОглавлениеDer Zustand der Schläfrigkeit dauerte gerade einmal eine Viertelstunde an. Unzählige Gedanken schwirrten Mia im Kopf herum. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, ohne den ersehnten Schlaf finden zu können. Das ging so lange, bis sie wieder aufstand, nach der Flasche mit Mineralwasser suchte und eine kräftigen Schluck nahm. So würde das nichts werden mit der geruhsamen Nachtruhe. Mit einem kräftigen Gähnen stand sie auf, nahm die Notizbücher von dem kleinen Tischchen, warf sich wieder auf das Bett und fing an zu lesen. Tante Juana schrieb:
Unter dem Deckmantel der Neutralität begannen die GOU-Militärs still und heimlich die Nationalsozialisten im fernen Deutschland zu unterstützen. Sie schlossen mit dem Chef des Sicherheitsdienstes der Reichführer SS ein Abkommen über wechselseitige Zusammenarbeit. Es garantierte die Immunität der Nazi-Agenten vor strafrechtlicher Verfolgung und bot ihnen eine Tarnidentität als Mitglieder des argentinischen Geheimdienstes. Ferner konnten sie das argentinische Diplomatengepäck für den Transport von Informationen zwischen Berlin und Buenos Aires nutzen. Von nun an versorgten argentinische Tanker deutsche U-Boote in internationalen Gewässern, ohne das jemand davon wusste. Sie beförderten Personen, Wertgegenstände und Divisen, während Juan Peron seinen Aufstieg zum eigentlichen Machthaber vorbereitete. Ich bestand den Eignungstest bei der GOU mit Bravour und wurde zu einer sechs Monate dauernden Ausbildung in ein Internat geschickt. Dieses befand sich in einem Vorort von Buenos Aires. Das unsere Militärs damals ein gefährliches Spiel trieben, wurde mir erst sehr viel später bewusst. Bei einem Sieg Hitlers sollte Argentinien die Führungsrolle in Südamerika bekommen. Genau darum ging es, um nichts anderes.
Gleich in der ersten Woche bekam ich einen Decknamen und einen Lehrplan. Alles war neu und verwirrend. Abends beim Tango probierte ich meine neue Identität aus, den neuen Namen, und verquatschte mich prompt nach ein paar Minuten. An den Namen Isabel Ortega musste ich mich erst noch gewöhnen, aber Fehler konnte man nicht verhindern. Die Frage war halt, wie man damit umging. Wenn man darüber nachdachte, was man gelernt hatte, dann hatte man schon verloren. Und man durfte keine Angst haben. Ängstliche Menschen lernen nie etwas, hatte ich mal irgendwo gelesen.
Die neue Identität musste so nah wie möglich an der Wirklichkeit sein. Ansonsten verstrickte man sich viel zu schnell in Widersprüche. Bedienstete des Militärs waren eben keine Schauspieler!
Vier Wochen lang wurde ich alias Isabel Ortega in die Organisation der GOU eingewiesen. Fünf Monate lang bekam ich Blockunterricht und eine praktische Ausbildung in Selbstverteidigung und dem Umgang mit Waffen. Dazu brachte man mir bei, wie man verdächtige Personen observierte, geheime Nachrichten verschlüsselte, Kontaktberichte verfasste und bei den Chefs Geld für verdeckte Operationen beantragte. Außerdem umfasste der Unterricht - Staatsrecht, internationale Politik, Kommunikationswesen und Psychologie.
Wie erkannte man, welcher Ideologie jemand angehörte? Das war eine der Fragen, um die es ging. Und eine, auf die es offenbar trotz aller Forschung keine eindeutige Antwort gab. Nebenbei lernte ich Sprachen. Deutsch war Pflicht, Englisch fand ich spannend. Das Internat hatte etwas von einem alten Schullandheim. Es gab eine Sporthalle, einen Aufenthaltsraum, Schlafräume und mehrere Klassenzimmer. Alles lag dicht beieinander. Morgens, wenn ich ins Bad ging, schlurfte mein Mentor oder einer der Dozenten im Bademantel über den Gang. Man musste sich mit den anderen unterhalten, ob man wollte oder nicht. Ich war von Menschen umgeben, die sehr akribisch arbeiteten und genau das entsprach dem, was mir gefiel, und was ich mir aneignen wollte.
„Isabels Präzision ist eine Waffe“, hatte einmal ein Kollege gesagt und ein anderer hatte bestätigt: „Ja, sie ist beeindruckend. Aber mit der darfst du nicht verheiratet sein, da hast du nichts mehr zu lachen.“
Den Kameraden von der „GOU“ war das egal. Den hohen Generälen interessierte es nicht, ob jemand mit ihren Mitarbeitern verheiratet sein wollte. Sie wollten nur die besten Leute in ihren Diensten sehen. Ansonsten entsprach die Ausbildung genau meinen Vorstellungen. Sie ähnelte den Handlungen aus den Hörspielen im Radio, die sich die Leute immer anhörten. Nervtötend war allerdings die bürokratische Trägheit des Verwaltungsapparates. Es dauerte ewig, bis ein Bericht freigegeben wurde. Hierarchie hoch, Hierarchie runter – ein erneutes Überarbeiten. Dann alles wieder von vorne tippen. Ich war erst zufrieden, wenn ich nach einer Recherche ein gutes Lagebild anbieten konnte.
Ich schrieb Berichte, die durch viele Hände gingen. Jeden Tag arbeiteten dutzende Kollegen an solchen Berichten. Sie schrieben Tagesberichte, Wochenberichte, Monatsberichte, Meldungen, Warnungen, verbrauchten eine Unmenge an Papier, je nachdem wie vertraulich das Material war. Von dem, was sie schrieben, kam ein Bruchteil dort an, wo es tatsächlich hingehörte - in die Politik. Das war manchmal frustrierend, aber man musste mit dem Abenteuer und mit der Bürokratie klarkommen. Es war nicht immer einfach zu verstehen, wie beides zusammengehörte, aber mit der Zeit würde ich es lernen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinen festen Freund. Hätte ich einen gehabt, ich hätte ihm niemals erzählen dürfen, wer mein Arbeitgeber war. Eine Legende, ein erfundenes Leben war für mich ein Schutz, aber halt auch eine Lüge und den Menschen zu belügen, den man liebte, das ging gar nicht. Sobald jemand in mein Leben trat, würde ich es melden müssen. Meine Kameraden würde dann entsprechende Untersuchungen anstellen. Das bedeutete, ich durfte nichts mehr auf meinem Schreibtisch liegen lassen. Nichts Persönliches, nichts Berufliches, keine Kontaktliste, keinen Kalender, in dem stand, wo ich wann war und wen ich getroffen hatte. Ich versuchte vorsichtig zu sein, aber nicht übervorsichtig. Ich wurde schnell misstrauisch, wenn Typen zu viel fragten. Ein Mann, der zu viel redete, war nichts für mich. Kollegen, die zu viel redeten, waren auch nicht mein Ding. Das Zauberwort hieß Verschwiegenheit. Darum allein drehte sich beim Militär alles. Am Ende meines Einführungslehrgangs war ich bereit die Welt zu retten, und wenn ich sie von einem Ende zum anderen hätte ausspionieren müssen. Überall drohte die kommunistische Gefahr den Wohlfahrtsstaat Argentinien zu überschwemmen und ich war bereit es mit ihr aufzunehmen. Lang lebe Juan Peron.
Die ersten Gehversuche fielen mir schwer. Ich war eine gerade flügge gewordene Agentin und die Wirklichkeit stellte sich doch ganz anders dar, als wie ich sie mir vorgestellt hatte. Die Zeiten waren unruhiger geworden. Etwas Unheimliches ging in Argentinien vor sich und es sollte noch schlimmer werden, doch davon ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Mein erster Auftrag brachte mich zurück in die Provinz von Cordoba. Genauer gesagt in die Kleinstadt „Villa General Belgrano“. Diese wurde häufig von Marinesoldaten des Panzerschiffs „Graf Spee“ besucht, die sich hier mit deutschen Siedlern trafen, welche schon lange an diesem Fleckchen Erde lebten. Die Besatzung der „Graf Spee“ hatte ihr eigenes Schiff selbst versenkt und befand sich bereits seit mehr als fünf Jahren in argentinischer Internation. Trotzdem hielt sie im Geheimen eine Art Militärregime aufrecht, welches jenseits aller internationalen Normen und Abkommen agierte. Und genau hier sollte ich ansetzen. Mein Auftrag lautete Kontakte zu den Deutschen zu knüpfen und möglichst viel über deren Pläne und Projekte in Argentinien herauszufinden.
Ich kam in Cordoba an, als das deutsche Reich in Europa unglaubliche militärische Triumphe erzielte und es bereits abzusehen war, dass Hitler nicht Halt machen würde, bevor der Endsieg erreicht war. Alles was ich besaß waren ein Starterpaket mit etwas Kleingeld, meine neue Identität und ein alter Lederkoffer mit ein paar Habseligkeiten. Das war nicht gerade viel. Was ich am dringendsten benötigte, waren eine Unterkunft und eine legale Arbeit.
„Am besten, Sie suchen sich etwas öffentliches, wo Sie persönlichen Kontakt zu den Menschen bekommen“, hatten mir die Kameraden der GOU eingebläut. Nun, Buenos Aires war weit weg und ich hieß auch gar nicht mehr Juana, sondern Isabel. Dafür musste ich mich ab sofort irgendwie allein durchbeißen. Und genau das tat ich, in dem ich in einer Cafeteria saß und die Tageszeitung studierte. Am meisten interessierten mich die Kleinanzeigen. Bei vielen Arbeitsangeboten handelte es sich um Hilfe bei der Ernte oder um Putzjobs. Das war nicht unbedingt das, was ich suchte. Gedankenversunken ging ich die Seiten durch und nippte dabei an meinem Kaffee. Irgendetwas musste mir einfallen, und zwar schnell. Später war meine Tasse leer, ich stand auf, bezahlte das Getränk an der Kasse. Dann schlenderte ich zur Garderobe, nahm meine Strickjacke vom Haken und ging weiter in Richtung Ausgang. Da sah ich das Schild. Es hing im Schaufenster neben der Tür. Serviererin gesucht, stand da beidseitig in großen Lettern geschrieben. Ich machte auf meinem Absatz kehrt und ging zurück zur Kasse. Die alte Dame, bei der ich gerade den Kaffee bezahlt hatte, lächelte freundlich.
„Haben Sie etwas vergessen, junges Fräulein?“
„Äh nein, ich habe nur gerade eben das Schild im Fenster gesehen. Komisch, dass es mir nicht schon beim Betreten des Cafés aufgefallen ist. Nun, ich bin neu hier in der Stadt und suche dringend einen Job.“
Der Gesichtsausdruck der alten Dame veränderte sich ein wenig. Reine Neugierde, ersetzte die Höflichkeit. Trotzdem schien ihr zu gefallen, was sie sah. Ich musste einen adretten und gepflegten Eindruck auf sie gemacht haben.
„Und woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?“, lautete ihre erste Frage.
„Aus Buenos Aires“, antwortete ich schnell.
„Ah, natürlich. Und Sie heißen?“
„Isabel Ortega.“
„Haben Sie schon einmal im Service gearbeitet?“
Ich beschloss die Unwahrheit zu sagen.
„Aber sicher! Ich habe mehrfach in den Gaststätten in Recoleta ausgeholfen.“
Der Name wirkte Wunder. Den Stadtteil Recoleta kannte jeder in Argentinien. Er stand für eines der elegantesten und teuersten Wohn- und Geschäftsviertel von Buenos Aires.
„Aber warum nur sind sie von der Hauptstadt weggegangen? Ich meine, eine so schöne große Stadt bietet doch sicher unzählig viele Möglichkeiten für eine junge Dame?“
Das genau war der Knackpunkt. Hier musste eine einfache, aber glaubhafte Antwort her. Die hatte ich parat. Ich erzählte ihr die Geschichte, die ich mir zurechtgelegt hatte.“
„Das hat eher persönliche Gründe, verstehen Sie? Ich habe mich von meinem Freund getrennt.“
Jetzt lächelte die alte Dame wieder.
„Ah, ich verstehe, Liebeskummer. Das tut weh, was? Na ja, ihr jungen Leute nehmt die Gefühlsangelegenheiten einfach viel zu ernst. Das Leben geht immer weiter!“
„Ja schon, aber ich mochte einfach nicht mehr in der gewohnten Umgebung bleiben, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Aber sicher, Kindchen. Luftveränderung, nicht wahr? Und da haben Sie sich ausgerechnet unsere Kleinstadt ausgesucht?“
Auch darauf wusste ich eine passende Antwort.
„Warum denn nicht? Ich habe von den herrlichen Bergen und von den vielen Flüssen und Bächen gehört. Ich liebe die Natur, müssen Sie wissen.“
„Wann können Sie anfangen?“
Diese direkte Frage hatte ich so nicht erwartet, aber anscheinend hatte ich die alte Dame mit meinen Antworten zufriedengestellt.
„Von mir aus gleich morgen. Allerdings muss ich mich noch um eine Unterkunft bemühen....“
„Was, die haben Sie auch nicht?“
„Nein, ich habe ihnen doch erzählt, dass ich gerade erst angekommen bin. Eine entfernte Tante von mir wohnt in Cordoba, aber das ist wohl zu weit, was?“
„Viel zu weit, Kindchen. Da können Sie sich auch gleich am Rio de la Plata eine Arbeit suchen.“
„Oh nein, vielen Dank, ich denke ich möchte lieber hier bleiben.“
„Warten Sie mal, ich habe da oben noch eine Dachkammer frei. Die könnte ihnen mein Mann ein wenig Zurecht machen. Ich meine, es ist nicht gerade eine Luxuswohnung aber zum schlafen reicht es alle Mal. Und wenn ich mich recht erinnere, dann steht da oben sogar noch ein alter Elektro-Ofen herum, damit Sie es in den kälteren Jahreszeiten schön warm haben.“
Das war meine kleinste Sorge.
„Perfecto!“
Ich brachte eine der Redewendungen an, die ich vorab einstudiert hatte. Innerhalb von ein paar Minuten hatten sich meine Probleme gelöst. Ich hatte a) einen Job und b) eine Unterkunft. Außerdem würde mir der Job als Kellnerin direkten Kontakt zu den Gästen ermöglichen. Na, Senor Oberst Perón - wie habe ich das gemacht...?
Bereits am nächsten Tag begann mein neues Leben in der Kleinstadt Villa General Belgrado. Ich richtete mich in dem kleinen Dachgeschoss oberhalb des Cafés häuslich ein. Das war nicht weiter schwer, denn ich hatte ja kaum etwas mitgebracht. Trotzdem versuchte ich es mir so gut wie es ging gemütlich zu machen. Meinen Job als Serviererin nahm ich sehr ernst. Am Anfang war ich noch ein wenig unbeholfen, aber lernwillig. Und ich lernte schnell. Meine Chefin, Dona Rivera zeigte mir sämtliche Kniffe, die Frau brauchte, um den meist männlichen Gästen ein gutes Trinkgeld zu entlocken. Dabei kam mir mein angeborener Charme zugute und nach ein paar Tagen ging mir die Arbeit wie von selbst von der Hand. Fast kam es mir so vor, als hätte ich in meinem noch so jungen Leben nie etwas anderes getan als Servieren. Neben der Senora arbeitete auch eine junge Angestellte in dem Café. Sie hieß Catalina und war mit ihren 20 Jahren nur unwesentlich jünger als ich. Wir schlossen schnell Freundschaft. Catalina stammte aus der Gegend und wusste immer, wo etwas los war. Durch sie lernte ich die ersten Deutschen kennen und begann mich mit ihrer Mentalität auseinanderzusetzen. Das war beileibe nicht so schwer, denn die meisten von ihnen waren einfach gestrickt. Sie liebten Geld, dunkelhaarige Frauen, Fußball und feucht-fröhliche Feste. Darauf ließ sich aufbauen...
War ich einmal nicht mit Catalina unterwegs, dann fing ich an all das zu fotografieren, von dem ich glaubte, es könnte die Kameraden von der GOU interessieren. Ich unternahm Ausflüge in die nähere Umgebung und fotografierte die Häuser der Deutschen, wann immer ich in ihre Nähe kam. Ganz besonders interessierte mich das Militärische Institut für Sozialarbeit „IOSE.“ Hier waren die fremden Marinesoldaten untergebracht. Sie begeisterten sich für unser wohlschmeckendes Fleisch und verliebten sich in die hübschen Kreolinnen auf dem Land. Der Ort lag am Ufer des Rio Rearte, mitten im Bergland, etwa zehn Kilometer von Villa General Belgrano entfernt. Es war zum Anstich des Oktoberfestes 1944 als ich hier zu einer ausschweifenden Party eingeladen wurde.
Diese Einladung hatte ich in erster Linie einem deutschen Marinesoldaten zu verdanken, den ich bei uns im Café kennengelernt hatte. Sein Name war Walter Dettelmann. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich vor dem Haus mit einem roten Ziegeldach und kleinen Fenstern stand, meine Handtasche öffnete und einen kleinen Taschenspiegel hervor nahm, um mein Make-up zu überprüfen, bis ich mich vergewissert hatte, das optisch alles in Ordnung war. Dann legte ich den Spiegel zurück und kramte stattdessen eine Maske heraus, die ich mir extra für diesen Abend zugelegt hatte. Dettelmann hatte darauf bestanden, dass ich eine Maske trug und was es damit auf sich hatte, sollte ich sogleich erfahren. Ich drückte auf den Klingelknopf. Im Hintergrund ertönte ein tiefer Gong. Jemand öffnete die Luke an der Tür.
„Das Kennwort bitte...“
„Adel verpflichtet.“
Die Tür öffnete sich, ich betrat das Haus und staunte. Das Innenleben war ganz den extravaganten Wünschen des Gastgebers angepasst worden. Allein die Ausmaße des Salons verschlug mir die Sprache. Mit mehr als 100 m2 Größe übertraf er alles, was ich bisher gesehen hatte. Eine exklusive Auswahl an Antiquitäten und teuren Teppichen auf blitzblank geputzten Marmorböden, vermittelten den Eindruck von Wohlstand und Vermögen. Ich war überwältigt. Anscheinend lebten die Deutschen hier in Saus und Braus.
„Na, was haben wir denn da für ein hübsches Kätzchen?“, begrüßte mich eine angenehm männliche Stimme. Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht eines Dobermanns. Es war natürlich eine Maske, sie gehörte meinem Gastgeber Walter Dettelmann. Ich bedankte mich für das Kompliment und machte einen Knicks, wobei ich gleichzeitig meinen Mantel öffnete und kokett lächelte.
„Ich hoffe, dieses hier wird ihnen noch besser gefallen.“
Dettelmann pfiff durch die Zähne und half mir aus dem Mantel. Darunter trug ich ein schwarzes Mieder mit halterlosen, hautfarbigen Nahtstrümpfen und rote Pumps mit hohen Pfennigabsätzen. Mein Gesicht hielt ich hinter einer Katzenmaske versteckt. Dettelmann schien zu gefallen, was er sah. Er ließ ein weiteres Kompliment folgen.
„Freut mich sehr, dass Sie kommen konnten, Sie sehen hinreißend aus. Kommen Sie, ich möchte ihnen die weiteren Gäste vorstellen.“
Mit diesen Worten nahm er mich bei der Hand und zog mich mit sich fort. Ich schaute mir alles genau an. Die Party war bereits voll im Gange. Die Gäste tanzten, tranken und flirteten, was das Zeug hielt. Ich sah, wie sich die ersten Pärchen bildeten. Auf einem Sofa verführten zwei Herren, maskiert als Adolf Hitler und Mussolini eine Dame mit einer Maske von Eva Braun. Ein Typ mit einer Maske von Präsident Ramirez gab irgendwelche Anweisungen. Mir dämmerte langsam um welche Art von Party es sich hier handelte und aus welchem Grund mich der Marinesoldat eingeladen hatte. Hinter dem Salon stand ein Springbrunnen. Was er beinhaltete, sollte ich sofort zu schmecken bekommen - Fruchtbowle mit alkoholischen Zusätzen.
Ich hielt es allerdings für besser bei Mineralwasser zu bleiben, wollte wissen, was ich tat, während ich über die frivole Meute staunte, die sich zusammengefunden hatte, um eine ausschweifende Party zu feiern. Ich spazierte weiter durch das Haus. In der Mitte einer Wand war eine große Fahne mit einem Eisernen Kreuz zu sehen. Links daneben hing die Hakenkreuzfahne und rechts davon ein Kriegssymbol der Reichsmarine. Ich schaute mich weiter um. Im Flur hingen Portraits von Adolf Hitler und Mussolini. An der Decke hing eine Lampe, die mir sofort ins Auge stach. Sie war handgearbeitet, bestand aus einem runden Rahmen von dem drei Fassungen mit Leuchtmittel abgingen. Sie soll von den Soldaten der „Graf Spee“ aus Teilen des Schiffes angefertigt worden sein, wie mir jemand später erzählte.
Die meisten Gäste standen bereits unter Alkoholeinfluss. Um eine gewisse Anonymität zu bewahren, trugen sie wie ich eine Maske. Dahinter konnte man sich so wunderschön verstecken, wenn man die Sau raus lassen wollte. Ich machte mir einen Spaß daraus, ihr Verhalten zu beobachten. Manch einer befand sich bereits im fortgeschrittenen Stadium. Ein Individuum mit einer Piratenmaske starrte mich an. Als ich in ein anderes Zimmer ging, schlich er mir nach und trat genau in dem Moment aus einer Ecke hervor, an der ich vorbeigehen musste. Er stand ganz plötzlich vor mir, als ich mich umdrehte. Durch die Augenschlitze der Maske konnte ich seine Augen sehen - hellblau und eiskalt. Wie grausig! Ich fröstelte. Schnell drehte ich mich um, hielt Ausschau nach jemandem mit dem ich mich unterhalten konnte, aber da war niemand, der auch nur halbwegs charmant oder witzig war.
Gegen 23.00 Uhr war ich die einzige, die noch ohne fremde Hilfe aufrecht stehen konnte. Alle anderen hatten kräftig einen sitzen. Ein Mann mit einer Affenmaske lag tief schnarchend unter einem antiken Holztisch. Seine Hose war verschwunden, dafür hatte jemand sein bestes Stück rot angemalt. Ich musste grinsen, als ich sein kümmerliches Geschlechtsteil sah.
Die meisten der kostbaren Möbelstücke waren auf Seite geschoben worden. Überall standen halbvolle Gläser und Becher mit Fruchtbowle herum. Reste von Gebäck und Lachsschnittchen schmückten sich mit Konfetti und Luftschlangen. In den Salatschüsseln schwamm alles Mögliche, nur kein Salat. Es sah aus wie flüssige Empanadas. Ich hielt Ausschau nach Walter Dettelmann - ohne Erfolg. Anscheinend wollte er sich nicht finden lassen. Ich fand, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um mich unbeobachtet aus dem Haus zu schleichen. Ich sah die beiden schmalen Türen, die dicht nebeneinander lagen und von denen eine hinaus auf den großen Innenhof führen musste. Ich tat genau zwei Schritte auf sie zu, da spürte ich es. Von hinten senkte sich ein gewaltiges Gewicht auf mich. Hastig drehte ich mich um, nur um festzustellen, dass ein übergewichtiger Bursche mit einem Löwenkopf im Begriff war, sich um meinen Rücken zu schlingen.
„Hi, isch bin de Alfred.“
Ich hatte alle Mühe ihn mir vom Leib zu halten, wollte ihn unbedingt loswerden.
„Ich wollte gerade gehen, trinken Sie doch noch einen“, sagte ich.
Alfred rülpste und lallte. „Isch will nischs su drinken. Nur ma so Hallo sagen. Du bisssu süß. D…das wollte ich dir nua sagen.“
„Vielen Dank.“
Ich versuchte weiterhin den Löwen von mir abzuschütteln. Der war jetzt gerade dabei meinen Hals mit seinen Händen zu umklammern, was nicht gerade angenehm war. Ich krächzte ihm etwas ins Ohr, in der Hoffnung, dass er verstand und dahin verschwand, woher er gekommen war.
„Ich glaube, du brauchst dringend etwas frische Luft, Alfred!“
Tat er aber nicht, sondern klammerte sich noch fester an mich, während ich panisch versuchte, nach hinten auszubrechen. Durch den Mundschlitz sah ich seine sabbernde Zunge, die sich leicht nach außen schob, während er mich rückwärts auf die Veranda drückte. Ein eng umschlungenes Paar stand in der hinteren Ecke fest an das schmiedeeiserne Geländer gepresst. Eine Frau hinter einer Vampir Maske kicherte und ließ ihre Hand im Hosenschlitz des Mannes verschwinden. Danach zog sie ihn mit sich in die Dunkelheit des anliegenden Gartens. Dort verwandelte sich der Klang des Kicherns allmählich zu einem Laut des Schleckens -und Stöhnens.
„Willst du dich nicht setzen?“
In meinen Augen glomm eine gewisse Hoffnung, den Störenfried bald loszuwerden.
„Nein!“
Alfred zog mich zu sich hinunter, mit einer Kraft, die ungefähr dem doppelten meines Gewichts zu entsprechen schien.
„Isch will mit dir bumsen.“
„Äh nun…“
Angesichts seiner geballten Unverschämtheit wollte ich gerade etwas erwidern, da sackte Alfred plötzlich in sich zusammen, seine Arme rutschten von meinem Hals. Der Alkohol hatte ihm den Rest gegeben.
Gott sei Dank! Ich versuchte erst gar nicht, ihn aufzufangen und vor einem Sturz zu bewahren, sondern lehnte mich erleichtert gegen das Geländer und atmete tief durch. Die Luft war klar und sauber, und es war immer noch warm hier draußen und allemal angenehmer, als in der gerammelt vollen Bude, mit dem Gestank nach Zigaretten, Schweiß und Alkohol.
Die hintere Tür quietschte, ich drehte mich um. Zum Glück war es nicht Alfred, der sich erholt hatte, sondern ein weiteres Pärchen, das bis auf die Masken kaum noch etwas am Körper trug und ebenfalls in Richtung der schützenden Dunkelheit des Gartens verschwand. Meine Füße schmerzten fürchterlich in den neuen Schuhen mit den hohen Pfennigabsätzen und so überließ ich Alfred seinem süßen Schlaf mit taufeuchten Träumen und ging zurück ins Haus. Hier wartete bereits das nächste Unheil auf mich.
„Juhu, die Stripperinnen sind da!“
Auch das noch. Bleibt mir denn heute gar nichts erspart?
Die erste Tänzerin, eine resolut wirkende Rothaarige mit einer Augenblende, begann sich hin und her zu schlängeln, während sie sich einiger unnötiger Kleidungsstücke entledigte. Als sie fast nackt war, setzte sie sich auf den Schoß eines männlichen Gastes und leckte an seinem Ohrläppchen. Während sie mit dem Po wackelte, zwang sie den Kopf des betrunkenen Mannes zwischen ihre Brüste, bog ihren Rücken durch und sprang nach hinten weg. Eine vollbusige Blondine wiederholte den gesamten Vorgang, beugte sich allerdings dabei soweit vor, dass ihre Brüste über sein Gesicht strichen. Der Mann versuchte nach ihnen zu grapschen, war aber viel zu voll um einen Treffer zu landen. Also versuchte er es erneut, grölte etwas in die Menge und schnalzte mit der Zunge. An dieser Stelle brachte jemand den Tänzerinnen Gläser mit Fruchtbowle, die sie rhythmisch wackelnd tranken.
Mir wurde speiübel. Eine Feier bei den Deutschen hatte ich mir weiß Gott ganz anders vorgestellt.
Ich drängte mich vorsichtig an der Meute vorbei, ging auf die Haustür zu und wurde prompt wieder aufgehalten. Diesmal war es der Hausherr persönlich. Er war mir gefolgt und bugsierte mich nun zurück in sein Haus. Er schien kein bisschen betrunken zu sein.
„Sie wollen doch nicht etwa schon gehen, hübsches Fräulein?“
„Ihre Party ist wirklich wunderbar, aber ich muss leider…“
„…etwas trinken!“ Schnell hielt er einen Becher in den Springbrunnen und stieß ihn mir entgegen, sodass etwas von der Flüssigkeit auf meine Seidenbluse schwappte. Dann hielt er seine eigene Tasse hoch, prostete mir zu und ließ das Zeug in seine Kehle laufen. Jetzt sah er mich lüstern an, nahm mich bei der Hand und zog mich mal wieder mit sich fort.
Der Raum, in den er mich brachte, sah aus, wie die Bühnenaufmachung in einem nie enden wollenden Märchen. Dazu kam der penetrante Geruch nach Laster und Verderbnis. Wie viele Frauen vor mir mochten hier durch paradiert sein? Ich konnte es nur erahnen. Jedenfalls hatte jede das ihre zu dem Geruch beigetragen.
Ich harrte der Dinge, die auf mich zukommen würden. Doch zunächst geschah gar nichts. Ich wunderte mich über meine eigene Gelassenheit, während ich mich auf das Bett legte und auf die über mir befindliche Decke blickte. In ihrer Mitte waren acht Spiegelplatten eingesetzt. Der violette Samtüberwurf auf dem Bett vermittelte mir ein eigenartig prickelndes Gefühl. Es war ein Teil des fragwürdigen Vergnügens, dass ich noch vor mir haben sollte. An den Wänden hingen Poster von europäischen Großstädten und von exotischen Frauen.
Dettelmann hatte es keineswegs eilig. Er wartete gelassen ab, beobachtete mich, wie es ein Raubtier mit seinem Opfer tun würde. Erst nach einer Weile des Beobachtens, griff er hinter sich, wo ein Wandbrett stand, auf dem lag ein Kästchen, dass die Form einer Harfe hatte.
„Ach ja, meine Süße, ich habe da noch was für dich“, sagte er lüstern.
Er drückte mir das Kästchen in die Hand.
„Mach auf!“
Ich zögerte einen Augenblick, wusste nicht was ich davon halten sollte. Mein Gastgeber hinter der Dobermann Maske nahm mir das Kästchen wieder ab, öffnete es und entnahm ihm einen Gegenstand, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Hufeisen hatte. Ich staunte nicht schlecht. Was sollte das sein?
Er ließ das Ding zwischen seinen Fingern baumeln und gab mir durch ein Zeichen zu verstehen, was ich damit machen sollte. So langsam dämmerte mir, was es war. Zunächst zeigte ich jedoch keine Reaktion, sondern schaute Dettelmann mit einem etwas ratlosen Gesichtsausdruck an. Dabei spielte ich mein Spielchen. Er grinste, formte mit Daumen und Zeigefinger einen Ring und ließ den gabelförmigen Gegenstand hindurch gleiten. Jetzt musste ich ihm zu erkennen geben, dass ich wusste, was es war. Vorsichtig berührte ich die glatte Oberfläche.
„Oh...es ist kalt!“
Er grinste wieder.
„Natürlich, im Augenblick schon...“
„Das ist ein Doppel-Dildo“, nicht wahr?
Mit Befriedigung registrierte ich, dass meine Stimme völlig ruhig blieb. Mein Gastgeber grinste noch immer.
„Es wird dir gefallen, Schätzchen. Es ist außerordentlich interessant.“
„Wirklich?“
Ich war der Meinung, ich hätte bereits vieles kennengelernt, aber das hier...
Er gab mir keine Antwort, gab sich völlig entspannt. Offensichtlich wartete er auf eine Entscheidung, die nicht seine sein würde. Wieder sah ich ihn an, erkannte das Verlangen in seinen Augen - und setzte alles auf eine Karte. Ich zog meine Kleider aus und legte mich vor ihm hin. Mein Körper zitterte leicht, als ich die Beine spreizte und mir die kalte Spitze des Dildos einführte.
Das war verdammt starker Tobak. Mia rieb sich verblüfft die Augen. So langsam bekam sie eine Idee von dem, was ihre Tante Juana getrieben hat und was es mit dem schwarzen Schaf der Familie auf sich hatte. Insgeheim fürchtete sie sich davor, die ganze Wahrheit zu erfahren. Soldaten, Nazis und Doppeldildos waren überhaupt nicht ihr Fall. Trotzdem war sie weit davon entfernt Tante Juana zu verurteilen. Den Inhalt des ersten Notizbuchs hatte sie bereits verschlungen. Welche Offenbarungen würde das nächste für sie bereithalten? Sie beschloss Ruhe zu bewahren und zu versuchen ein paar Stunden zu schlafen, denn Morgen wollte sie hinaus zu Tante Juanas Grab nach la Falda fahren, wo sich vielleicht ein paar Dinge klären würden.