Читать книгу Der Untergang Ijarias - Malte Schiefer - Страница 5
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ОглавлениеElno
Ein sanfter Abendhauch fuhr durch die Bäume am Rand des Waldes und ließ die Blätter leise rascheln. Fast klang es wie ein Flüstern. Elno fröstelte. Bedrohlich ragten die Bäume in die Höhe und streckten ihre langen Äste nach ihm aus.
Elno fürchtete den Wald. Trotzdem hatten ihn seine Schritte unmerklich hierhergeführt. Vielleicht war das sogar gut so, dachte Elno, denn hier würde man ihn vielleicht nicht so schnell suchen.
Elno war gelaufen und zum Schluss seiner Erschöpfung zum Trotz sogar gerannt. Aber auch wenn er seine möglichen Verfolger damit hatte abschütteln können, die Gedanken an Nela und ihre alte Hütte wurde er nicht los. Schuldgefühle hatten ihn gepackt und ihr Griff wurde fester, je weiter er ihre Hütte hinter sich ließ.
Gleichzeitig war ein anderer Gedanke in ihm stark geworden, der sich gegen alle Sorgen und Befürchtungen stemmte, die ihn zur Hütte locken wollten.
Ich kehre nie wieder dorthin zurück.
Dieser eine Satz war es, der ihm die Kraft gegeben hatte, gegen alle Erschöpfung weiterzulaufen. Und nun war er hier.
Der Wald musste unendlich groß sein. Elno blickte die Baumgrenze hinauf und hinab, aber in keiner Richtung konnte er ein Ende ausmachen. Die Bäume waren alt und knotig und zwischen ihnen wuchsen verschiedene Pflanzen, die zum Teil größer waren als Elno selbst. Sie hatten spitze, weit herabhängende Blätter. Wenn er nur ein paar Schritte in den Wald wagte, so würden sie ihn verschlucken und er wäre nicht mehr zu sehen. Trotzdem zögerte er. Selbst bei Tag traute er sich kaum einen Schritt in den Wald hinein und nun war es fast dunkel. Er blickte zum Himmel hinauf und sah die ersten Sterne hervorkommen. Wind frischte auf. Elno lauschte. Hatte sich dort im Wald etwas bewegt? Angestrengt starrte er in das grüne Dunkel, doch er sah nichts außer Ästen und Blättern, die sich im warmen Wind des Abends wiegten. Schließlich fasste sich Elno ein Herz und machte einen Schritt hinein in den Wald.
Ihm war, als ob er eine andere Welt betreten hätte. Die Luft fühlte sich anders an und auch die Geräusche der raschelnden Blätter und Äste klangen verändert. Zögernd schob Elno eine der großen Blätterpflanzen beiseite und machte einen weiteren Schritt in den Wald hinein. Die Blätter der Pflanze waren kalt und glatt. Als Elno durch sie hindurchgetreten war, schwangen sie träge wieder an ihren alten Platz zurück. Nach ein paar weiteren Schritten warf er einen Blick über die Schulter. Schon jetzt versperrte ihm ein Dickicht aus Pflanzenblättern die Sicht aus dem Wald hinaus. Ihm wurde klar, dass man hier schnell die Orientierung verlieren konnte. Um einen Weg zurück zu markieren, knickte er einige Blätter ab. Er würde ohnehin nicht mehr viel weiterkommen, denn schon jetzt sah er kaum noch etwas. Vorsichtig machte er noch ein paar Schritte vorwärts, bis er nach wenigen Metern einen dicken und großen Baum erreichte. Sein Stamm war fast grau und seine Rinde alt.
An seinen Wurzeln am Boden befand sich eine kleine Mulde. Nachdem Elno sie flüchtig inspiziert hatte, entschied er, dass dies sein Schlafplatz für die Nacht werden sollte. Etwas Besseres finde ich nicht mehr, dachte er, kletterte in die Mulde und rollte sich dort zusammen.
Trotz aller Erschöpfung wagte er es zuerst nicht, die Augen zu schließen. Er lauschte auf jedes Geräusch, aber dann begann das Rauschen der Blätter und das leise Knacken der Äste ihn schläfrig zu machen. Ohne es zu wollen, dämmerte er langsam weg.
Kurz bevor ein eingeschlafen war, zuckte er noch einmal zusammen. Hatte ein Fußtritt einen Ast zertreten? Vorsichtig schob er seinen Kopf über eine Wurzel am Rande der Mulde, doch er sah und hörte nichts. Er verharrte noch eine Weile und starrte still und reglos in die Dunkelheit. Nichts geschah. Niemand kam, um ihn zu fangen oder ihm wehzutun. Er ließ sich wieder zurück und kurze Zeit später begannen sich die Geräusche des Waldes mit seinen Traumbildern zu vermischen.
Auch im Traum befand er sich im Wald. Er war klein wie ein Käfer und alles um ihn herum erschien ihm riesengroß.
»Es ist ein Junge«, hörte er eine Stimme sagen.
»Lass ihn«, antwortete jemand.
Elno fühlte sich merkwürdig. Schlief er schon oder war er noch wach? Wer hatte gesprochen? Ein Vogel schrie, es war ein langer, hoher Ton. Dann raschelte es wieder in den Ästen. Das Rascheln verwandelte sich in das Plätschern eines Baches, der lustig dahinsprang und ihn mit sich zog, immer weiter und weit, weit fort.
Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich erholt und ausgeruht. Zwischen den Blättern schien die Sonne hindurch. Verwundert setzte er sich auf und streckte sich. Normalerweise schlief er nicht so lange. Nachdem er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, dauerte es eine Weile, bis ihm klar wurde, wo er sich befand. Dann kletterte er aus der Mulde und schaute sich um. Bei Tageslicht wirkte der Wald weniger dicht und viel freundlicher, als er es in der vergangenen Nacht getan hatte. Er folgte den abgeknickten Blättern vom Vorabend und kam zum Waldrand zurück. Vorsichtig spähte er aus dem Wald hinaus. Nichts war zu sehen außer ein paar Vögeln, die über den Himmel zogen, und einigen Kaninchen, die über die Wiese liefen.
Elno hatte Durst und Hunger, doch wagte er es nicht, den Wald zu verlassen. Er beschloss, an dessen Grenze weiterzulaufen, denn in dieser Richtung kannte er einen Bach, aus dem er etwas trinken konnte.
Er kam nur langsam voran. Die Pflanzen am Waldrand waren dicht und auch wenn sie sich beiseiteschieben ließen, war es anstrengend, durch sie hindurchzulaufen. Als er den Bach schließlich erreichte, war er erschöpft und schweißgebadet. Der Bach floss langsam und hatte tiefe Stellen. Sein Wasser war dunkel und als Elno es trank, hatte es einen erdigen Geschmack. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, wusch er sich die Beine und die Arme. Dann überlegte er, wie es weitergehen sollte. Erneut beschlich ihn der Gedanke, dass es vielleicht besser war, umzukehren, aber er verscheuchte ihn und zu seiner Überraschung fiel es ihm leichter als noch am Abend zuvor.
Soweit er sich erinnern konnte, war er noch nie weiter von seiner Hütte weg gewesen als jetzt. Den Bach kannte er, aber er hatte ihn nur selten aufgesucht und überquert hatte er ihn noch nie. Über die Gegend jenseits des Baches wusste er fast nichts. In weiter Ferne konnte er die Umrisse von Bergen sehen, die sich als graue Schemen am Horizont abzeichneten. Er erinnerte sich daran, dass Bolg erzählt hatte, in dieser Richtung gäbe es eine Stadt. Elno war noch nie in einer Stadt gewesen, aber Ana hatte gesagt, dass dort viele Menschen lebten und dass es dort gefährlich war. Dorthin wollte er nicht gehen, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Wie er es auch drehte und wendete, weiter musste er. Elno holte tief Luft und machte einen Schritt in das eisige Wasser des Baches. Vorsichtig tastete er mit den Füßen über die glitschigen Steine im Flussbett. Auf der anderen Seite angekommen, ließ er sich erschöpft ins Ufergras sinken. Noch einmal blickte er zurück über den Bach, dann stand er auf und setzte seinen Weg fort.
Er lief den ganzen Tag und als der Abend kam, suchte er sich erneut einen Schlafplatz im Schutz des Waldrandes. Nelas Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf und während um ihn der Wald zu seinem Nachtleben erwachte, weinte er sich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen tat sein Bauch weh vor Hunger. Fast wäre er einfach liegen geblieben, wo er war, aber er zwang sich, aufzustehen. Er musste dringend etwas essen und als er am Waldrand nichts fand außer bitteren Wurzeln, trieb ihn der Hunger fort aus dem Wald, der bald wie eine Wand hinter ihm lag, während er sich wieder durch weite Wiesen bewegte.
Es dauerte nicht lange, da traf er auf einen breiten, ausgetretenen Weg. Elno folgte ihm ein Stück, bis er an eine Stelle kam, wo ein zweiter Weg den ersten kreuzte. An dieser Stelle steckte ein Wegweiser im Boden, groß und mit Schildern in jede Richtung, doch Elno konnte nicht lesen. Als er noch unschlüssig auf der Kreuzung stand, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.
»Höida!«
Elno zuckte zusammen, duckte sich, machte einen Schritt nach vorn und drehte sich um.
Vor ihm stand eine Gruppe aus Kindern, manche kleiner, manche größer als er. Ein paar von den größeren hielten ein kleineres Kind an den Händen.
Ein Junge aus der Gruppe war vorgetreten. Er trug ein helles Hemd aus Leinen und eine Lederhose. Seine rechte Hand lag auf einem Stock. Auf dem Rücken trug er eine Tasche, die von einem Seil über der Brust gehalten wurde. Er war kleiner als Elno, aber dafür deutlich breiter und kräftiger gebaut. Er grinste.
»Haben wir dich erschreckt?«, fragte er.
Elnos Atem beschleunigte sich und er machte einen weiteren Schritt rückwärts. Außer Nela kannte er kaum andere Kinder und die meisten Begegnungen mit ihnen waren sehr unschön gewesen. Nervös fixierte er den Jungen vor sich. Dieser machte nun seinerseits einen Schritt zurück und das Grinsen auf seinem Gesicht verblasste. Elno fürchtete, der andere würde sich auf ihn stürzen und ihn mit dem Stock schlagen. Gehetzt warf er einen Blick von Wegesrand zu Wegesrand. Einen Stein, dachte er, einen Stock! Doch er sah nichts, was er hätte nehmen können, um sich gegen den anderen Jungen zu verteidigen.
»Immer mit der Ruhe«, sagte dieser plötzlich und hob beschwichtigend die Hände. »Ich will mich nicht schlagen. Tut mir leid, wenn wir dich erschreckt haben.« Er blickte Elno erwartungsvoll an, doch Elno wusste nicht, was er erwidern sollte. Mit einem Mal wirkte die Situation nicht mehr bedrohlich. Trotz allem kam er sich seltsam vor und am liebsten wäre er weggelaufen.
Der fremde Junge und die Kinder hinter ihm beobachteten Elno. Gerade als der Impuls, einfach loszulaufen, so stark wurde, dass Elno ihm nachgeben wollte, begann der Junge wieder zu sprechen.
»Also, ich bin Keff«, sagte er und deutete mit der freien Hand auf sich.
»Und das hier«, er machte eine Pause und eine weit ausholende Geste mit seinem Stock, »sind mein Bruder Hein und sein Freund Jingo, das ist meine große Schwester Gaer, meine kleine Schwester Jula und …«
Elno hörte nicht genau hin. Was passierte hier? Er war fest davon ausgegangen, dass es zum Kampf kommen würde, dass ihn die anderen Kinder überwältigen und ihm weh tun würden. Andere Kinder hatten es bereits getan, hatten mit Steinen nach ihm geworfen, hatten ihn verfolgt, ihn in den Bach gestoßen und Lieder über ihn gesungen. Doch nichts von dem passierte. Nervös trat er von einem Bein auf das andere. Dann schien der Junge vor ihm mit der Vorstellung der Kinder fertig zu sein und wandte sich wieder Elno zu.
»Und wer bist du?«, fragt er.
»Elno!«, platzte es aus ihm heraus. Seine Stimme war laut, viel lauter, als er es beabsichtigt hatte, und in seinen Ohren klang sie wie das Krächzen eines Vogels.
»Elno«, wiederholte der Junge vor ihm mit gesenktem Blick, als dächte er über etwas nach. »Noch nie von dir gehört.« Nachdem sein Blick wieder einen Moment zu Boden gerichtet war, schaute er auf.
»Bist du von Galwigs Hof? Da kenne ich kaum jemanden.«
»Ja!«, stieß Elno hervor, auch wenn es gelogen war. Er kannte keinen Galwig, aber trotzdem schien es ihm eine bessere Antwort zu sein, als zu sagen, wo er tatsächlich herkam.
Keff schien mit der Antwort zufrieden zu sein, denn ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Na schau mal einer an, dann ist ja gut!«, sagte er. »Für einen Moment dachte ich, du würdest gleich auf mich losgehen. Bist du auch auf dem Weg in die Stadt?«
Ehe Elno wusste, was er tat, hatte er auch schon geantwortet.
»Ja!«, sagte er.
Keff nickte zufrieden.
»Na, dann haben wir den gleichen Weg.«
Er hob seinen Stock hoch und deutete nach rechts.
»Nach Steinbrücken geht es da lang. Wir müssen uns beeilen, sonst verpassen wir alles.«
»Ja, los, los!«, riefen die Kinder hinter ihm, und die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Elno blieb einen Moment stehen und zögerte, dann trottete er ihnen in einem kleinen Abstand hinterher.
Es waren insgesamt sieben Kinder, mit denen Elno nun unterwegs war. Vier Jungen und drei Mädchen. Ein Junge und ein Mädchen waren deutlich jünger als Elno. Die anderen schienen sein Alter zu haben. Eines der Mädchen war vielleicht etwas älter, zumindest war es größer als er. Während sie liefen, drehte sich manchmal eines der Kinder zu ihm um und musterte ihn neugierig. Jedes Mal, wenn sie es taten, befürchtete Elno, sein Schwindel könnte auffliegen und sie würden herausbekommen, dass er nicht von Galwigs Hof kam. Doch alles in allem schien es etwas zu geben, was sie deutlich mehr interessierte als die Frage, wer er war. Sie waren aufgeregt und unterhielten sich den ganzen Weg über etwas, das Elno nicht verstand. Die Älteren machten große Gesten und die Kleinen schauten ihnen mit offenen Mündern zu.
Elno blieb immer ein Stück hinter ihnen, denn er wollte nicht mit ihnen sprechen. Das heißt, eigentlich wollte er es schon. Die Kinder schienen freundlich zu sein und sie lachten viel, während sie liefen. Doch er schämte sich für seine Stimme und wusste nicht, was er sagen sollte.
Nach einer Weile ließ Keff die Gruppe an sich vorbeiziehen und wartete, bis Elno zu ihm aufgeschlossen hatte.
»Wir wollen eine Pause machen, Jula und Per sind müde. Bleibst du mit uns hier oder läufst du weiter?«, fragte er.
Elno war von der Frage so überrascht, dass er zuerst mit den Schultern zuckte. Dann besann er sich eines besseren, denn eigentlich wollte er die Gruppe nicht schon wieder verlassen.
»Ich bleibe!«, sagte er schnell.
Keff nickte.
»Prima!«, sagte er, dann lief er wieder nach vorne.
Sie gingen noch ein paar Schritte, dann verließen sie den Weg und setzten sich neben ihm ins hohe Gras. Keff und Gaer packten ihre Bündel vom Rücken und holten etwas zu essen und zwei Wasserschläuche hervor.
Elno blickte auf das Brot und das Fleisch, das die Kinder mitgebracht hatten, und sein Magen knurrte so laut, dass jeder es hören konnte. Gaer schaute ihn an.
»Hast du nichts zu essen dabei, Elno?«, fragte sie.
Elno schüttelte den Kopf. Ihm wurde heiß im Gesicht.
»Junge, Junge«, sagte Keff und schüttelte den Kopf. »Von eurem Hof ist es doch ein ganzes Stückchen bis nach Steinbrücken. Ich würde umfallen vor Hunger.«
»Möchtest du was von uns?«
Gaer schaute Elno an und hielt ihm ein Stück Brot entgegen. Fast hätte Elno instinktiv abgelehnt, aber dann, ohne das Mädchen anzublicken, nahm er das Brot. Es schmeckte herrlich und nachdem er einige Bissen getan hatte, stopfte er den Rest regelrecht in sich hinein.
Als er wieder aufschaute, sah er, dass ein paar der Kinder ihn beobachteten. Er zuckte zusammen und wieder wurde sein Gesicht ganz warm.
»Per«, sagte Keff auffordernd und der kleine Junge neben Keff reichte Elno einen der Wasserschläuche. Dankbar nahm Elno ihn und trank ein paar Schlucke. Er musste rülpsen und die anderen Kinder lachten fröhlich. Auch Elno musste grinsen und gab Keff den Schlauch zurück.
Keff kaute gerade auf einem Stück Wurst.
»Also Elno, deine wievielte Parade ist es?«, fragte er.
Elno wurde nervös. Was war eine Parade? Er wusste nicht, was er antworten sollte und er begann, hin und her zu rutschen. Er zuckte mit den Schultern und blickte nervös von einem zum anderen.
»Heißt das, du bist nicht wegen der Parade auf dem Weg in die Stadt?«, sagte Gaer und schaute Elno ungläubig an. Elno schüttelte den Kopf.
»Aber du weißt, was für eine Parade wir meinen, oder?«, fragte Keff. Wieder schüttelte Elno den Kopf.
»Junge, Junge«, sagte Keff. Er war offensichtlich völlig verdutzt.
»Die Drachenparade!«, sagte das kleine Mädchen, das Jula hieß, mit piepsiger Stimme. Elno wandte sich zu ihr um und seine Augen weiteten sich.
Drachen!
Sein Herz begann zu klopfen. Konnte das wahr sein? Als er klein war, hatte er einmal einen gesehen. Weit, weit oben in den Lüften war er über ihre Hütte geflogen und Elno war ihm nachgelaufen, so schnell er konnte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Doch der Drache war viel schneller gewesen als er und schon bald aus seinem Sichtfeld verschwunden. »Erzähl keinen Unsinn!«, hatte Ana ihm damals gesagt, als er ihr von seiner Beobachtung erzählte. Von da an hatte er nicht mehr weiter davon gesprochen. Manchmal hatte er von dem Drachen geträumt und er hatte für Nela einige Geschichten erfunden, in denen Drachen vorkamen.
»So ist es!«, sagte Keff, »und wenn wir nichts verpassen wollen, dann müssen wir uns wieder auf den Weg machen. Alles zusammenpacken!«
Eilig packten die Kinder ihre Sachen zusammen und verstauten sie wieder in ihren Beuteln.
»Soll ich den Beutel für dich tragen?«, fragte der Junge, den Keff als Jingo vorgestellt hatte. Er stand neben Gaer und sah sie mit verträumten Blick an. Aber Gaer schwang sich den Beutel über den Rücken und stieß Jingo mit einem Schnauben beiseite. Keff lächelte mit einem wissenden Blick zu Elno herüber und Elno gab sich Mühe, zurückzulächeln, auch wenn er nicht verstand, was an der Situation lustig gewesen war.
Es dauerte nicht mehr lange, da wurde ihr Weg breiter, und hie und da traf ein anderer Weg auf ihren. Auch begegneten sie nun anderen Leuten, die ebenfalls Richtung Stadt unterwegs waren.
Die Straße führte einen langen Hügel hinauf, und als Elno und die anderen oben ankamen, waren alle außer Atem.
»Wir sind fast da!«, sagte Keff und deutete den Hügel hinunter.
Von hier oben führte der Weg hinunter in ein Tal. Elno stockte der Atem, denn unten im Tal lag eine Stadt. So etwas hatte er noch nie gesehen. Bisher hatte er nur ihre Hütte und ein paar umliegende Höfe gekannt. Einige der Höfe waren sehr groß und bestanden gleich aus mehreren Gebäuden, aber was er nun sah, war um ein Vielfaches größer. So viele Häuser! Und wie viele Menschen dort erst wohnen mussten! Er bekam es mit der Angst. Verzweifelt überlegte er, mit welcher Ausrede er die anderen verlassen konnte, um nicht mit ihnen hinunterzumüssen, doch da setzte sich die Gruppe schon wieder in Bewegung. Gaer bemerkte, dass Elno stehengeblieben war und drehte sich zu ihm um.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Elno nickte. Gaer wartete, bis Elno sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und Elno trottete mit klopfendem Herzen hinter ihr her.
Die anderen Kinder waren aufgeregt und alle redeten durcheinander. Die älteren Kinder waren anscheinend schon einmal in der Stadt gewesen. Sie gaben zum Besten, was es alles zu sehen gab, und die Kleinen löcherten sie mit Fragen. Elno versuchte, so viel es ging aufzuschnappen, aber er konnte mit vielem, was er hörte, nichts anfangen. Als sie die ersten Häuser erreichten, trat Gaer vor die Gruppe und die Kinder blieben stehen.
»Ab jetzt keinen Unfug!«, sagte sie bestimmend. »Ihr bleibt alle in meiner Nähe.«
»Und in meiner«, sagte Keff, der neben sie getreten war. »Wenn ihr uns verliert, bleibt stehen, wo ihr seid, wir kommen zurück und holen euch. Lauft nicht weg und geht mit niemandem mit! Habt ihr verstanden?«
Die anderen Kinder nickten und auch Elno hätte fast genickt, bevor ihm einfiel, dass diese Ansprache wohl kaum ihm gegolten hatte.
Sie liefen weiter. Der Weg, den sie gekommen waren, wurde zu einer der Hauptstraßen der Stadt. Hier waren viele Menschen unterwegs und je weiter sie kamen, desto voller wurde es. Überall sah Elno bunte Fähnchen und Wimpel, die kreuz und quer über die Straße gespannt waren. An den Straßenecken standen Männer und Frauen in glänzenden Rüstungen und sie trugen Speere und Schwerter.
Auch am Rand der Straße gab es allerlei zu sehen. Es wurde Kleidung verkauft, Werkzeuge, Bücher und andere Dinge. Elno schaute staunend von rechts nach links und er musste aufpassen, dass er nicht den Anschluss an die anderen verlor.
An einem der Läden blieben sie stehen. Es roch herrlich süß, als die Tür aufging und drei Kinder herauskamen, die alle eine Tüte in der Hand hielten.
Gaer holte ihre Tasche vom Rücken und zog einen kleinen Beutel hervor. Sie griff hinein und gab jedem der anderen Kinder eine rotbraune Münze. Als alle eine Münze bekommen hatten, stürmten sie in den Laden und Elno blieb draußen stehen. Einer nach dem anderen kam wieder aus dem Laden heraus und alle hatten sie eine kleine Tüte in der Hand. Jula, die als erste aus dem Laden gekommen war, hielt Elno ihre Tüte hin. Elno zögerte, dann schaute er hinein. Er sah etwas wie kleine Brote, doch sie rochen süß und sehr fruchtig.
»Honinchen!«, sagte Jula. »Nimm!«
Elno griff in die Tüte und nahm sich ein Honinchen heraus. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gegessen. Es war aus weichem und luftigen Teig und schmeckte nach süßen Beeren und Honig. Jula beobachtete ihn erwartungsvoll. Als er das Honinchen aufgegessen hatte, schaute sie Elno so gespannt an, dass er sich gezwungen sah, etwas zu sagen.
»Gut!«, stieß er hervor. Jula lachte und aß nun ihrerseits ein Honinchen. Sie steckte es sich ganz in den Mund und machte ein langes »Mmmmm!«.
Ein angenehmes, warmes Gefühl machte sich in Elno breit, doch mit ihm kam auch eine Erinnerung zurück. Eine Erinnerung an Nela. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen, doch gelang es ihm nicht ganz.
Als alle wieder aus dem Geschäft herausgekommen waren, schlenderten sie weiter die Straße hinunter. Schließlich sahen sie eine große Steinbrücke vor sich und als sie dort angekommen waren, öffnete sich der Blick auf einen breiten Fluss, der unter der Brücke hindurchfloss. Sie blieben eine Weile oben stehen und schauten auf das Wasser.
»Was ist das?«, fragte Per. Er hatte den Blick vom Wasser abgewandt und deutete mit seiner kleinen Hand den Fluss hinunter. Dort sah man hinter einigen Häusern einen großen Turm, der auf einem Hügel lag. Ganz oben an der Turmspitze waren Zinnen und dahinter stand ein Mann, der mal zu der einen Seite und mal zu der anderen Seite ging. Der Turm hatte ein paar kleine Fenster, doch hauptsächlich waren schmale Schachte in die Mauer eingelassen. Die Steine, aus denen er gebaut war, waren ganz weiß und strahlten über die Entfernung und trotz des wolkenverhangenen Himmels zu ihnen herüber. Hinter dem Mann wehte eine weiße Fahne, auf der zwar klein, aber dennoch gut erkennbar ein Zeichen zu sehen war. Es war ein Schwert, welches von oben kommend durch eine Schneeflocke gestoßen war.
»Das ist die Königswacht«, sagte Gaer. »Soldaten sind dort stationiert.«
»Nicht irgendwelche Soldaten«, sagte Jingo. Seine Augen glitzerten, während er sprach. »Sie sind aus der Königsgarde, die stärksten Soldaten des ganzen Reiches!«
»Aber nicht so stark wie die Drachenreiter!«, sagte Keff. Er wandte sich vom Turm ab. »Kommt, lasst uns weitergehen.«
Als sie ihren Weg über die Hauptstraße fortsetzten, spürte Elno, dass eine seltsame Spannung in der Luft lag. Die Leute schienen aufgeregt. Sie wuselten hin und her, als ob sie auf etwas warteten. Auch Elnos Herz begann vor Erwartung zu klopfen. Wie auch die anderen begann er sich umzuschauen und den Blick bald hierhin, bald dorthin zu wenden, ganz so, als ob die Drachen gleich um die Ecke kommen würden.
»Da!«, rief plötzlich eine Frau, die auf der Straße stand und den Blick Richtung Himmel gewandt hatte. Sie zeigte mit ihrem Finger nach oben. Elno blickte hinauf. Weiße Blitze schossen über der Stadt durch die Luft. Erst nur wenige, doch dann immer mehr. Die Leute schauten nach oben, hoben ihre Hände und gestikulierten wild.
»Die Drachen! Die Drachen kommen!«, riefen sie durcheinander.
Dann erklang in der Stadt eine laute Trompete und weitere Trompeten und Trommeln stimmten mit ein. Elno zuckte zusammen.
»Sie kommen! Sie kommen! Macht Platz, macht Platz!«
Die Leute bildeten eine Gasse und auch Elno und die anderen Kinder drängten sich am Straßenrand zusammen. Alle reckten die Köpfe und schauten die Straße hinunter. Nach einiger Zeit brach ein gutes Stück weg von ihnen Jubel los. Er wurde lauter und kam langsam näher.
»Ich sehe sie!«, quiekte der kleine Per plötzlich.
»Quatsch!«, sagte Gaer, »das sind nur die Läufer.«
Über die Straße kamen ein paar junge Männer und Frauen. Sie trugen weiße Leinenhemden und Hosen und feine weiße Lederstiefel. Während sie die Straße herunterkamen, winkten sie nach rechts und links. Alle trugen Körbe, aus denen sie weiße Blumen auf die Straße streuten.
Eine junge Frau löste sich aus der Gruppe und steckte einem jungen Mann, der am Rand stand und ihr eifrig zuwinkte, eine Blume ins Haar. Dann gab sie ihm unter dem Applaus der Menge einen dicken Kuss. Der junge Mann wurde ganz rot ihm Gesicht, dann lachte er fröhlich. Die junge Frau lachte ebenfalls und lief zurück zu den anderen.
Auch Elno hatte zu seiner eigenen Überraschung geklatscht. Als er es merkte, hörte er beschämt auf und schaute sich um, doch niemand schien ihn zu beachten oder irgendwie sonderlich zu finden. Wieder erklangen Trompeten und als Per dieses Mal »Da! Da!« rief und auf und ab springend die Straße hinunterdeutete, hatte er recht.
Die Drachen kamen.
Elno zitterte vor Aufregung. Es war gleich eine ganze Schar von Drachen. Der größte von ihnen lief vorne. Und Elno starrte ihn gebannt an, halb erschrocken und halb fasziniert von diesem Wesen.
Sein Kopf erinnerte Elno an den Kopf eines Hundes. Das feine Haar am Körper des Drachens war strahlend weiß und schien wie in einer seichten Brise in ständiger Bewegung zu sein. Die Augen waren glänzend schwarz. Er hatte ein großes Maul, das jedoch entgegen Elnos Erwartung keine Reihe messerspitzer Zähne zeigte.
Der Drache schwenkte seinen Kopf von links nach rechts und er schaute den Leuten an der Straße tief in die Augen.
Jene, die den Blick des Drachen gekreuzt hatten, erstarrten vor Ehrfurcht. Auch Elno wollte dem Drachen in die Augen schauen, doch glitt der Blick des Drachen an ihm vorüber. »Er hat mich angeguckt!«, rief Jingo laut, griff sich an die Brust und machte einen Schritt rückwärts, während sein Gesicht einen berauschten Ausdruck annahm. Die anderen warfen ihm einen neidischen Blick zu. Als der Drache sie erreichte, lief ein Schauer über Elnos Rücken bis hoch zu seinem Kopf. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
Der Drache hatte vier kurze Beine, die einen langen, schlangenähnlichen Leib trugen. Sein Körper war mit feinsten, weißen Haaren überzogen. Elno hätte sie am liebsten berührt, so weich sahen sie aus. Doch wagte er nicht, sich dem Drachen zu nähern.
Anmutig zog der Drache an ihnen vorüber. Er schien förmlich zu schweben. Jede Bewegung ging so fließend in die andere über, dass Elno an das Wasser in einem Bach oder Wolken, die über den Himmel zogen, denken musste. Auch wenn der Drache viel größer war als er, so schien er doch leicht zu sein wie eine Feder und seine Schritte erzeugten auf der Straße kein Geräusch. Der Drache hatte einen prächtigen Sattel aus Gold und Silber auf den Rücken geschnallt und auf diesem Sattel saß ein Mann in einer ebenso prächtigen Rüstung. Er trug einen Helm, der mit weißen Federn geschmückt war und einen Schlitz für Mund und Augen hatte. In der Hand trug er einen langen Speer mit einer glitzernden Spitze. Auf seinem Rücken hatte er einen fein gearbeiteten Mantel aus weißlich glitzerndem Stoff.
Der Drachenreiter blickte zu den Kindern herüber und nickte ihnen zu. Alle brachen in Jubel aus. Unter dem Helm sah Elno den Reiter lächeln. Dann war der Drache vorüber. Ihm folgten zwei fast ebenso prächtige Drachen, auch wenn sie etwas kleiner waren. Auch sie trugen Reiter, die die Menschen am Rand der Straße grüßten. Wann immer ein Reiter zu ihm herüberschaute, grüßte Elno zurück und winkte wild mit den Armen.
Nach einer Weile kamen Drachen vorbei, deren Reiter noch deutlich jünger zu sein schienen. Sie trugen keine Helme und waren zum Teil kaum älter als Elno. Sie genossen die Parade ebenso wie die Umstehenden. Wie zufällig traf sich Elnos Blick mit dem eines vorbereitenden Mädchens. Sie lächelte ihn freundlich an und winkte ihm. Ihr dunkelrotes Haar war kurz und nach unten hin stand es seitlich von ihrem Kopf ab. Wie auch die anderen jüngeren Reiter trug sie keine glänzende Rüstung, sondern hellgraue Kleidung aus feinen Stoffen und weichem Leder, die eher den Läufern ähnelte, die vor den Drachen die Blumen gestreut hatten. Elno blickte ihr noch nach, als sie schon vorüber war. Auf dem Mantel, den sie über ihre Schultern geworfen hatte, sah Elno zwei gekreuzte Pfeile. Auch die anderen Reiter trugen alle ein Emblem auf ihrem Mantel. Elno erkannte eine Schale, einen Hahn und einen Baum.
Hinter den jüngeren Reitern kamen Drachen, die keine Reiter hatten. Sie trugen die Köpfe besonders hoch und wirkten auf Elno stolz und unnahbar. Auch schauten sie weniger nach rechts und links, sondern funkelten die Umstehenden aus ihren Augenwinkeln an. Sie wurden von Männern und Frauen begleitet, die wie die Reiter an der Spitze der Parade in Gold und Silber gekleidet waren.
Besonders ein Drache fiel Elno auf. Sein Gang war viel weniger elegant und hin und wieder machte er einen torkelnden Schritt nach rechts oder links. Die Drachen, die in seiner Nähe liefen, schauten ihn an, als würden sie seinen Gang missbilligen. Der Kopf des Drachen zuckte wild und er schien die Leute am Rand der Straße zum Teil regelrecht anzustarren. Wenn er es tat, traten die Leute zurück, aber nicht vor Ehrfurcht, sondern eher vor Schrecken oder Verwunderung. Immer wenn er sich zu jemandem umdrehte, kniff der Drache eines seiner Augen zu, während das andere weit offen stand.
Elno wusste nicht wieso, doch der Drache gefiel ihm von allen am besten. Er war die ganze Zeit schon aufgeregt gewesen, doch als er die Augen jenes Drachen sah, legten sich seine Nackenhaare, die sich beim Anblick der Drachen immer wieder aufgestellt hatten. Kein Schauer lief ihm über den Rücken. Stattdessen ergriff ihn eine sonderbare Ruhe.
Dann geschah etwas äußerst Merkwürdiges. Der Drache war fast vorbei, als er noch einmal den Kopf drehte und Elno direkt in die Augen sah. Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte Elno den Blick und für einen Moment vergaß er, wer er war und wo er war. Er erstarrte. Und dann, ganz plötzlich hörte er eine Stimme, so klar und deutlich, als ob jemand direkt in sein Ohr gesprochen hätte. Sie war tief und klang wie das Geräusch des heranrollenden Donners.
»Heyjo, Kleiner, hohohoho.«
Elno zuckte zusammen und stolperte nach hinten. Er verlor den Blick des Drachens und kaum war ihr Blickkontakt gewichen, verschwand das eigentümliche Gefühl. Nervös drehte er sich erst zur einen, dann zur anderen Seite. Neben ihm standen Keff und die anderen, doch keiner schien ihn zu beachten. Alle schauten auf die vorbeiziehenden Drachen. Auch von den anderen Umstehenden schien keiner mit ihm gesprochen zu haben.
Als er nach vorn schaute, sah er noch einmal den Drachen mit dem torkelnden Gang und den wilden Augen, doch schon bald war er außer Sichtweite.
Dem letzten Drachen folgte ein Pulk Schaulustiger und als sie vorbeikamen, stieß Keff Elno in die Seite.
»Komm!«, rief er ihm zu. »Wir gehen zum Marktplatz!«
Die anderen Kinder hatten sich schon in Bewegung gesetzt und Elno folgte ihnen.
Der Marktplatz war groß. Anlässlich der Parade hatte man ihn fast völlig freigeräumt. Nur in der Mitte stand ein Podest, auf dem einige Männer in dunkler Kleidung und einer der Drachenreiter standen. Der Mann in der Mitte schien eine Rede zu halten, doch niemand hörte ihm zu. Die Aufmerksamkeit der Leute galt immer noch alleine den Drachen, die sich nun auf dem Marktplatz versammelt hatten.
Elno und die anderen zwängten sich durch die Menschenmassen hindurch, bis sie mit einem Mal ganz vorne standen. Die Drachenreiter hatten sich in einer langen Reihe aufgestellt und einige Leute traten vor, um ihnen Blumen umzuhängen oder vorsichtig einen der Drachen zu streicheln.
An einem Ende des Marktplatzes entdeckte Elno die Drachen, welche ohne Reiter an der Parade teilgenommen hatten. »Kommt!«, rief Keff und sie drängelten sich hinter ihm her, bis sie bei den unberittenen Drachen ankamen. Hier hatte sich um die Drachen ein Halbkreis von Schaulustigen gebildet. Das Mädchen mit den roten Haaren, welches Elno bei der Parade aufgefallen war, stand vor den Drachen und machte ein amüsiertes Gesicht. Neben den Drachen stand ein Junge, der dem Mädchen auffällig ähnlich war. Er hatte in etwa ihre Größe und seine Haare waren fast so rot wie die ihren. Er sah gelangweilt aus und lehnte sich gegen einen aufgestellten Fahnenmast.
»Wer traut sich?«, rief das Mädchen den Leuten zu und lief vor ihnen auf und ab. »Wer wagt es, einen Drachen zu reiten?«
»Los Grundil!«, rief jemand laut und ein paar Leute begannen zu applaudieren. Eine Frau, halb ging sie selbst, halb schob man sie, trat in den Halbkreis. Sie grinste schief und wandte sich noch einmal nach hinten um.
»Los, los!«, riefen die Leute hinter ihr und Grundil drehte sich nach vorne. Sie war groß und kräftig. Ihr braunes Haar hatte sie links und rechts am Kopf zu einem Knoten zusammengebunden. Das Mädchen verbeugte sich vor ihr.
»Welcher soll es sein?«, fragte sie. Grundil schaute an der Reihe der Drachen auf und ab und deutete schließlich auf einen großen Drachen mit hoch erhobenem Kopf und stolzem Gesichtsausdruck.
»Der da!«, sagte sie laut. Die Leute hinter ihr klatschten.
»Wie Ihr wollt«, sagte das Mädchen, verbeugte sich und machte sich daran, den Drachen zu satteln. Dann führte sie ihn nach vorn.
»Seid Ihr bereit?«, fragte sie.
Die Frau nickte. Elno sah, wie sich unter ihrem Hemd die Muskeln spannten, dann machte sie ein paar rasche Schritte auf den Drachen zu und schwang sich in den Sattel.
Einen Moment ging alles gut. Der Drache verharrte regungslos und Grundil ergriff das Zaumzeug. Triumphierend drehte sie sich zu den Zuschauern und reckte die linke Faust in die Höhe. Die Zuschauer jubelten, doch in diesem Moment ging ein Ruck durch den Drachen. Er wölbte seinen Rücken erst nach unten und dann in einer wellenartigen Bewegung wieder nach oben. Grundil versuchte sich festzuhalten, doch der Rücken des Drachen machte eine schnappende Bewegung und Grundil flog im hohen Bogen durch die Luft. Krachend landete sie auf einem nahestehenden Karren. Es gab tosenden Applaus. Grundil richtete sich stöhnend auf und humpelte dann grinsend in die Masse der Zuschauer zurück.
»Noch jemand?«, fragte das Mädchen. Anscheinend genoss es die Vorführung, doch niemand meldete sich. Sie nahm dem Drachen den Sattel wieder ab und führte ihn zurück zu den anderen.
Elno folgte ihr mit seinem Blick, dann entdeckte er den merkwürdigen Drachen von der Parade. Die anderen Drachen hielten Abstand von ihm und sein Kopf zuckte wie bei der Parade hin und her, bis sein Blick sich mit Elnos traf. Der Drache hörte auf, seinen Kopf zu schaukeln und sah Elno durchdringend an.
»Na Jüngelchen, wie wär’s mit einer kleinen Runde?«, fragte eine tiefe, dröhnende Stimme.
Elno zuckte zusammen und schnell drehte er sich, um zu sehen, wer ihn angesprochen hatte. Doch da war niemand. Die anderen unterhielten sich aufgeregt darüber, welche der Drachen der schönste und stärkste war, keiner aber achtete auf Elno. Er schüttelte sich. Dann begann sich eine seltsame Spannung in ihm aufzubauen. Zwar wusste er nicht, wer mit ihm gesprochen hatte, aber die gestellte Frage beschäftigte ihn trotzdem. Was war, wenn er es wirklich versuchen würde? Was, wenn er versuchte, einen der Drachen zu reiten? Es musste herrlich sein, durch die Luft zu fliegen. Er warf dem seltsamen Drachen einen weiteren Blick zu, doch dieser schien ihn nicht mehr zu beachten. Er hatte sich auf dem Boden zusammengerollt und sah aus, als ob er eingeschlafen sei. Elnos Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Die Zuschauer warteten gespannt, doch als niemand weiteres sich hervortat, auf einem Drachen zu reiten, begannen die ersten, sich abzuwenden. Auch Keff und die anderen schienen das Interesse zu verlieren und drehten sich bereits halb weg.
Elnos Gedanken überschlugen sich. Wenn sie gingen, war seine Möglichkeit einen Drachen zu reiten vermutlich für immer vorbei. Ein Ruck ging durch seinen Körper.
Bevor er wusste, was er tat, machte er einen Satz nach vorne, stolperte, fing sich wieder und rannte los, den Blick auf den seltsamen Drachen geheftet.
Der Junge, der an der Fahnenstange lehnte, erwachte zum Leben.
»He!«, rief er laut und auch die Leute drehten sich wieder um. Das Mädchen hatte Elno den Rücken zugewandt, doch als sie den Jungen rufen hörte, wirbelte sie herum. In ihrem Blick lag Erschrecken und Erstaunen, als sie Elno sah. Mit ein paar schnellen Schritten versuchte sie Elno den Weg abzuschneiden.
Doch Elno ließ sich nicht aufhalten.
Noch zehn Schritte bis zu den Drachen.
Die hatten ihn nun bemerkt und drehten nervös ihre Köpfe in seine Richtung. Alle bis auf den seltsamen Drachen, der immer noch zu schlafen schien.
Noch fünf Schritte.
Elno hörte das Raunen der Menge hinter sich und irgendwo meinte er auch Keffs und Julas Stimme zu hören. Riefen sie ihn zurück oder feuerten sie ihn an? Es war ihm egal. Mit einem letzten Sprung erreichte er den Drachen und mit einer ungelenken Bewegung schwang er sich ihm auf den Rücken. Augenblicklich sprang dieser auf die Beine und gab ein lautes Grollen von sich. Voller Panik krallten sich Elnos Hände in das zottelige Fell am Hinterkopf des Drachens, als dieser mit ruckeligen Bewegungen loslief, schneller wurde und geradewegs auf die Zuschauer zustürmte, die sich, jetzt wo es wieder etwas zu sehen gab, umdrehten und johlend auf Elno und den Drachen zeigten. Als ihnen jedoch klar wurde, dass der Drache genau auf sie zusteuerte und keine Anstalten machte, anzuhalten, rempelten sie durcheinander, bis sie eine kleine Gasse freigemacht hatten, durch die der Drache hindurchlaufen konnte.
Elno keuchte. Er konnte kaum fassen, was er getan hatte, und noch weniger begreifen, was gerade vor sich ging. Der Lauf des Drachen schüttelte ihn durch und nur schemenhaft sah er die Gesichter der Menge, an der sie vorbeirasten. Als der Drache das Ende der Gasse erreicht hatte, spürte Elno eine Veränderung in der Bewegung des Rückens. Panisch krallte er sich noch fester in die Haare des Drachens. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, wie der Drache sich vom Boden abstieß und im nächsten Augenblick erhoben sie sich in die Luft. Elno begann zu schreien. Er schrie, so laut er konnte, doch es half nichts. Der Drache drehte einen Kreis über den Marktplatz und fegte über die Köpfe der Leute hinweg, die sich erschrocken duckten und ebenfalls schrien, dann änderte er seine Richtung und schoss nach oben.
Elno warf einen Blick nach unten. Die Stadt wurde in rasendem Tempo kleiner und kleiner. Menschen konnte er schon keine mehr erkennen. Als er wieder nach vorn schaute, sah er, dass sie sich den Wolken näherten. Elno hatte sich schon oft gefragt, was eine Wolke wohl war, wenn er sie auf dem Rücken liegend beobachtet hatte, aber jetzt schwand sein Interesse daran, es herauszufinden. Er duckte sich in das Fell des Drachens hinein und schloss abermals die Augen und im nächsten Augenblick flogen sie in die Wolken hinein. Hier war es nass und kalt. Elno öffnete die Augen wieder, aber er sah nichts als weiß um sich herum.
Dann waren sie auf der anderen Seite herausgekommen und flogen nun im warmen Licht der Sonne unter einem strahlend blauen Himmel.
Noch nie hatte Elno etwas Vergleichbares gesehen. Es sah aus, als ob man auf den Wolken laufen könnte, als wäre dies hier oben eine eigene Welt, still und friedlich fernab der Menschen dort unten. Wie weit oben musste er sein? Ihm wurde angst und bange, doch der Drache nahm keine Rücksicht auf ihn. Mit einem Mal drehte er sich um sich selbst, flog in einem großen Kreis nach oben, sodass Elno mit dem Kopf nach unten hing. Wenn er nun abstürzen würde! Er krallte sich so fest in das Fell des Drachens, dass seine Muskeln schmerzten. Sterne begannen vor seinen Augen zu tanzen. Ihm war, als könnte er den Drachen leise lachen hören.
Dann sah er in einiger Entfernung einen weiteren Drachen durch die Wolkendecke schießen. Er flog einen großen Halbkreis und schloss dann von hinten zu Elnos Drachen auf. Als der andere Drache mit Elno auf gleicher Höhe war, erkannte er auf dessen Rücken das rothaarige Mädchen. Im Gegensatz zu Elnos Drachen flog ihr Drache in einer fließenden ruhigen Bewegung. Das Mädchen warf Elno einen beruhigenden Blick zu.
»Hey!«, rief sie ihm zu und winkte. Dann flog sie so dicht, wie es möglich war, neben Elno. Sie legte eine Hand neben ihren Mund und brüllte dann zu ihm herüber: »Krall dich nicht so sehr im Fell fest, das tut ihm weh!«
Elno sah sie ungläubig an. Er sollte sich nicht so sehr festkrallen? Sie nickte bekräftigend und Elno löste seinen Griff im Fell. Tatsächlich wurde der Flug seines Drachens ein wenig ruhiger. Das Mädchen lächelte ihn an.
Auf der anderen Seite tauchte nun noch ein Drache auf, auf dessen Rücken der Junge saß, der dem Mädchen so ähnlich sah. »Ein Glück hast du ihn gefunden!«, rief er an Elno vorbei zu ihr hinüber. Dann blickte er zu Elno.
»Wir bringen dich schon wieder runter!« Auch er brachte seinen Drachen näher an Elno heran. Elnos Drache warf einen Blick zu den beiden Drachen neben ihm. Er schüttelte den Kopf, als wäre er mit der Situation unzufrieden, passte aber seinen Flug den anderen Drachen an. Als die beiden anderen Drachen wieder nach unten durch die Wolkendecke tauchten, folgte er ihnen.
Der Weg nach unten dauerte länger als der nach oben und kam Elno deutlich weniger gefährlich vor. Jetzt, wo er Begleitung hatte, und der Drache, auf dem er saß, ruhiger flog, fiel auch ein wenig seiner Angst und Anspannung von ihm ab.
Der Marktplatz kam in Sicht und je näher er kam, desto mehr fürchtete sich Elno vor dem, was nun kommen würde. Was würde passieren, wenn er unten ankam? Wie schlimm war das, was er getan hatte? Würde man ihn bestrafen? Fast wäre er lieber wieder hinaufgeflogen und einfach weit, weit weg. Die Drachen aber steuerten unaufhaltsam den Boden an.
Elno sah, dass sich auf dem Markt eine große freie Fläche gebildet hatte. An ihrem Rand standen Drachenreiter und um diese herum die große Menge von Schaulustigen. Inmitten der freien Fläche standen ebenfalls zwei Drachenreiter. Alle Blicke waren nach oben gerichtet, folgten ihrem Flug, bis sie landeten.
Zu Elnos Verwunderung war es vollkommen still. Das Mädchen und der Junge schwangen sich aus ihren Sätteln. Auch Elno kletterte von seinem Drachen, doch als seine Füße wieder festen Boden berührten, wäre er fast gestürzt. Seine Beine waren wackelig und seine Knie weich. Er war schweißgebadet und sein Atem ging flach.
Der Drache, auf dem er geritten war, schnaubte und rollte sich auf dem Boden zusammen. Einmal ließ er seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, dann schloss er die Augen und legte den Kopf auf den Boden. Es schien, als würde er keine weitere Notiz vom Geschehen nehmen.
Mit großen Schritten kam einer der Drachenreiter auf Elno und die beiden anderen zu.
»Wie konnte das passieren?«, fragte er mit donnernder Stimme und Elno duckte sich. Doch hatten die Worte nicht ihm gegolten, sondern dem Mädchen und dem Jungen.
»Er kam einfach angerannt …«, begann das Mädchen, doch mit einer unwirschen Handbewegung schnitt der Mann ihr das Wort ab.
»Ihr hattet den Auftrag aufzupassen, dass so etwas nicht passiert! Was, wenn er heruntergefallen wäre?«
Das Mädchen schaute den Mann mit funkelnden Augen an und einen Moment sah es so aus, als wollte sie noch etwas antworten, doch sie entschied sich dagegen. Der Junge blickte auf seine Füße.
Dann wandte sich der Mann zu Elno. Er zog seinen Helm ab und darunter kam ein hartes und strenges Gesicht zum Vorschein. Der Mann hatte dunkles Haar und zwischen seinen Augenbrauen waren tiefe Furchen zu sehen. Als er Elno anblickte, entspannte sich seine Miene. Elno hob den gesenkten Kopf und schaute den Mann schief von unten an.
»Geht es dir gut?«
Die Stimme des Mannes war jetzt ruhig und freundlich.
Elno nickte, doch er wagte es nicht, dem Mann in die Augen zu sehen. Stattdessen starrte er auf die glänzende Rüstung des Mannes und das Schwert, das er an der Seite trug. Der Griff hatte die Form eines Drachens.
»Das ist gut.«
Der Mann streckte Elno die Hand aus und Elno machte instinktiv einen Schritt rückwärts, doch der Mann folgte Elno mit einem Schritt und ergriff seine Hand.
»Ich bin Drachenfürst Girion. Und wer bist du?«
Elno wollte antworten, doch es kam nur ein heiserer, kratzender Laut hervor. Mit offenem Mund starrte er Girion an und seine Hand zuckte im Griff des Mannes.
»Elno!«, rief plötzlich eine Stimme aus der Menge der Umstehenden, die das Geschehen beobachteten, »Er heißt Elno! Wir kennen ihn!«
Das war Keff. Elno drehte den Kopf und sah Keff, der den Kopf an zwei Drachenreitern vorbeistreckte und ihm mit einer Hand zuwinkte. Dahinter sah er Jula, Jingo, Per und die anderen.
Girion schaute zu den Kindern hinüber und dann wieder zu Elno.
»Elno also«, sagte er, »Es freut mich, dich kennenzulernen.«
Er klopfte Elno auf die Schulter.
»Du hast deine Sache recht gut gemacht.«
Er schien noch etwas anderes sagen zu wollen, doch aus der Menge der Umstehenden drängelte sich mit einem Mal ein Mann hervor. Er trug schwarze, samtige Kleidung und Elno erinnerte sich daran, ihn vor seinem Drachenflug auf der Tribüne reden gesehen zu haben. Haar und Bart waren weiß. Ihm folgten zwei weitere, ähnlich gekleidete Männer und denen wiederum folgten vier Soldaten der Stadtwache. Sie alle schienen in heller Aufregung zu sein, doch liefen sie merkwürdig steifbeinig und schienen bemüht, einen würdevollen Eindruck zu machen.
»Was ist los, ist das der Junge, geht es ihm gut?«, sprudelte es aus dem ersten Mann hervor, als er Girion erreicht hatte. Er warf einen flüchtigen Blick auf Elno und schaute dann erwartungsvoll zu Girion.
»Es geht ihm gut«, antwortete Girion.
»Es geht ihm gut«, wiederholte der Neuankömmling, dann drehte er sich zu der Menschenmenge um, breitete die Arme aus, als wollte er für Ruhe Sorgen, obwohl es Still genug war, eine Nadel fallen zu hören, und rief laut: »Es geht ihm gut!«
Ein erleichtertes Murmeln ging durch die Menge. Dann begann jemand zu klatschen und immer mehr der Umstehenden fielen mit ein. Dem Mann schien die Entwicklung zu gefallen und so rief er noch ein weiteres Mal: »Es geht ihm gut!«
Der Applaus ebbte ab und es kehrte wieder erwartungsvolles Schweigen ein. Alle blickten auf den alten Mann, der wiederum erwartungsvoll in die Menschenmenge blickte. Einer der anderen in schwarzen Samt gekleideten Männer flüsterte ihm leise etwas ins Ohr.
»Was?«, fragte der Mann, und der andere wiederholte seine Worte, dieses Mal lauter und Elno hörte etwas wie: »…ablenken …weiter …in Ruhe besprechen.«
»Oh, natürlich«, sagte der alte Mann, drehte sich wieder zu der Menschenmenge um und rief laut: »Das Fest kann weiter gehen!«
Alle jubelten. Langsam wandten sich die Menschen von Elno ab und die Drachenreiter lösten den Kreis um Elno und die beiden anderen Kinder wieder auf.
»Das war ja ein starkes Stück!«, sagte der alte Mann jetzt aufgebracht zu Girion, »Wenn etwas passiert wäre, nicht auszudenken, was die Folgen gewesen wären. So ein zerlumpter Junge …«
Girion hob die Hand und sah den alten Mann streng an, der daraufhin verstummte. Er wandte sich wieder Elno zu.
»Warte hier kurz auf uns, der Bürgermeister und ich müssen kurz etwas zu besprechen. Lauf nicht weg!«
Elno nickte und blieb stehen, wo er war.
»Elno!«
Elno drehte sich um und sah, wie Keff und die anderen auf ihn zugestürmt kamen.
»Junge, Junge!«, sagte Keff, als er Elno erreicht hatte, »Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Aber, toll!«
Auch die anderen redeten auf ihn ein. Elno wusste nicht, wie er mit ihrer Bewunderung umgehen sollte. Alle berührten ihn, klopften ihm auf die Schultern oder auf den Rücken. Elno ließ es über sich ergehen, auch wenn es nicht die Freude für ihn war, die ihm die anderen damit vermitteln wollten. Immer wieder fragten sie ihn, wie es gewesen war, aber er zuckte nur die Schultern. Vor Verlegenheit grinste er schief.
Dann sagte Gaer auf einmal: »Wo ist Jula?«
Keff wandte sich von Elno ab und drehte den Kopf.
»Jula?«, fragte er laut, doch niemand antwortete.
»Jula!«, rief Gaer lauter und nun begannen auch die anderen Kinder, sich nach ihr umzuschauen.
»Jula!«, rief auch der kleine Per. Gaer und Keff tauschten nervöse Blicke aus.
»Du wartest hier«, sagte Gaer entschlossen. »Ich komme gleich zurück.«
»Ich komme mit!«, sagte Jingo und zusammen mit Gaer eilten sie durch die Menschenmenge davon.
»Der Rest bleibt hier!«, sagte Keff bestimmt. »Nicht, dass noch jemand verloren geht.«
Auch Elno wurde nervös. Was konnte passiert sein? Er war sich nicht sicher, ob Jula mit den anderen bei ihm angekommen war, oder ob sie von Anfang an gefehlt hatte. Er war zu durcheinander gewesen und nun fühlte er sich elend. Sie waren seinetwegen gekommen und ängstlich dachte er, dass es womöglich seine Schuld war, dass Jula verloren gegangen war.
Keff und die anderen riefen immer wieder ihren Namen. Ein paar Vorbeikommende schauten sich zu ihnen um und gingen dann achselzuckend weiter oder warfen ihnen einen mitleidigen Blick zu. Elno wollte gerade anfangen, auch nach Jula zu suchen, da traten Girion und der Bürgermeister wieder zu ihm.
»Wir müssen etwas mit dir besprechen«, sagte Girion. Er blickte über den Platz.
»Aber hier ist es zu laut. Wir werden ins Rathaus gehen.«
Wieder schaute er sich um.
»Bist du mit deiner Familie hier?«
Elno schüttelte den Kopf. Bei der Erwähnung seiner Familie wurde ihm heiß. Girion betrachtete die anderen Kinder.
»Deine Geschwister?«
Wieder schüttelte Elno den Kopf, auch wenn er lieber genickt hätte. Er wollte nicht von den anderen getrennt werden, wo Jula noch verschwunden war. Doch Girions Pläne waren andere.
»Dann verabschiede dich bitte von ihnen.«
Elno drehte sich zu den anderen um, die aber weniger ihn beobachteten, sondern mehr mit der Suche nach Jula beschäftigt waren. Keff hatte seine Mühe, die anderen Kinder zusammen zu halten, denn alle meinten, in dieser oder jener Richtung suchen zu müssen. Vergebens bemühte sich Elno, Keffs Blick einzufangen. Schließlich zwang er sich dazu, ihn zu rufen.
»Keff!«
Keff blickte zu ihm herüber.
»Zusammenbleiben!«, sagte er noch einmal streng zu den anderen, dann kam er zu Elno.
»Was ist?«
Es entstand eine Pause, denn Elno wusste nicht, was er sagen sollte. Keff wurde ungeduldig und blickte über seine Schulter zu den anderen.
»Ich muss weg!«, stieß Elno hervor.
Keff schaute von Elno zu Girion und dem Bürgermeister und nickte.
»Ich verstehe.«
Er rang sich ein Lächeln ab, doch es sah mühsam und gequält aus.
»Hat mich gefreut dich kennenzulernen, Elno. Ich komme dich mal auf eurem Hof besuchen, wenn du noch da bist.«
Er streckte Elno die Hand entgegen und Elno ergriff sie schwach. Keff winkte noch einmal und lief dann zurück zu den anderen.
Gaer und Jingo kamen ohne Jula zurück und die Kinder begannen zu diskutieren. Girion sah kurz zu ihnen hinüber, dann winkte er das rothaarige Mädchen heran, welches immer noch zusammen mit dem Jungen neben ihrem Drachen wartete. Mittlerweile waren sie wieder von einer Schar Schaulustiger umgeben. Als das Mädchen sah, dass Girion etwas von ihr wollte, kam sie zu ihnen. Girion deutete auf die Kinder.
»Sie suchen jemanden. Hilf ihnen bitte.«
Das Mädchen nickte und wandte sich zu der Gruppe um Keff und Gaer.
Girion legte seine Hand auf Elnos Schulter.
»Wir müssen los.«
Elno wagte nicht zu widersprechen. Er trottete zwischen Girion und dem Bürgermeister weg von Keff, Gaer und den anderen. Hinter ihnen schlossen sich die anderen Männer in den schwarzen Gewändern und die Stadtwache an.
Sie liefen nicht weit. An einem Ende des Marktplatzes befand sich ein großes Gebäude. Es war das größte Gebäude, das Elno je gesehen hatte. Treppen führten von zwei Seiten zu einem großen Portal und aus dem Haupthaus wuchsen kleine Türme. Elno legte den Kopf in den Nacken und ein Schauer lief über ihn, als er die Treppen hinauf ging.
Zwei Wachen, die neben dem Portal standen, machten einen steifen Gruß und öffneten dann jeder eine der beiden Flügeltüren.
Der Bürgermeister, seine zwei Begleiter und Girion traten durch das Portal. Elno folgte ihnen. Hinter dem Portal kamen sie in eine Halle. Durch schmale, aber hohe Fenster, die mit dunklem Glas besetzt waren, fiel nur wenig Licht ins Innere. Elno sah an den Seiten je zwei Türen. Auf der anderen Seite der Eingangshalle führte eine Treppe hinauf.
Der Bürgermeister steuerte zielstrebig auf eine der hinteren Türen zu. Dahinter befand sich ein großer Raum. In der Mitte stand ein langer Tisch aus dunklem, spiegelglatten Glas. Auch hier war ein schmales Fenster und das Licht war eben so trüb wie in der Eingangshalle.
»Setzt Euch«, sagte der Bürgermeister.
Mit einer Armbewegung deutete er zu den Stühlen rechts und links des Tisches. Er selbst setzte sich an das Ende der Tafel. Seine beiden Begleiter nahmen links und rechts von ihm Platz und auch Girion setzte sich. Elno blieb stehen.
»Nun setz dich doch, mein Junge!«
Der Bürgermeister deutete mit dem Kinn auf einen der Stühle. Einer der Männer stand wieder auf, zog einen Stuhl am Ende der Tafel vor. Er schaute zu Elno herüber und deutete auf den Stuhl. Zögernd setzte Elno sich. Der Stuhl war hart und viel zu groß für ihn. Verunsichert blickte er auf die Tischplatte. Dort sah er im Dämmerlicht sein Spiegelbild. Sein Haar war verzottelt. Einzelne Strähnen klebten auf seiner Stirn. Sein Gesicht sah schmutzig und fahl aus. Er schloss die Augen und wünschte sich hinaus zu Keff, den anderen – und dem Drachen. Elno wäre gern zu ihm zurückgekehrt. Es war Girions Stimme, die ihn aus seinen Gedanken riss.
»Weißt du, warum du hier bist?«, fragte er Elno.
Elno schüttelte den Kopf. Er vermutete, dass er Ärger bekommen würde, aber es fiel im schwer, sich zu konzentrieren. Abermals glitten seine Gedanken aus dem Zimmer hinaus auf den Marktplatz. Ob sie Jula schon gefunden hatten?
»Elno«, sagte Girion und Elno wurde erneut aus seinen Gedanken geholt. Er schaute zu Girion hinüber, der ihn mit durchdringendem Blick anschaute.
»Du bist heute auf einem Drachen geritten. Weißt du, was das bedeutet?«
Elno schüttelte den Kopf.
»Das ist doch lächerlich!«, sagte einer der beiden Männer neben dem Bürgermeister plötzlich, »Der Junge hat überhaupt keine Ahnung, worum es geht!«
Er drehte sich zu Girion.
»Ihr könnt doch unmöglich ernsthaft darüber nachdenken, ihn mitzunehmen. Er ist ein Straßenjunge! Seht ihn Euch an!« Mit ausgestrecktem Finger deutete er auf Elno. Seine Hand war dünn und knochig.
»Da draußen laufen sicher fünfzig Kinder umher, die besser geeignet sind und -«
Girions hob die Hand und sah den Mann so durchdringend an, dass dieser verstummte, auch wenn er Elno weiterhin aus dunklen Augen anfunkelte.
»Beruhigt Euch, Imeus«, sagte der Bürgermeister und legte seine Hand auf die Hand des Mannes, der gesprochen hatte. »Fürst Girion wird wissen, was er tut.«
Er warf einen Elno einen Blick zu, in welchem er seine Zweifel kaum verbergen konnte und sah dann zu Girion.
»Nicht wahr?«, fragte er, sichtlich verunsichert.
Girion antwortete nicht. Er sah den Bürgermeister einen Moment nachdenklich an, dann drehte er sich zu Elno.
»Dass du heute auf dem Drachen geritten bist, ist etwas Besonderes«, sagte er, ohne die anderen Anwesenden weiter zu beachten und seine Stimme war weich und freundlich, während er sprach.
»Du musst wissen, Drachen lassen fast niemanden auf sich reiten. Man kann nicht einfach Drachenreiter werden und sich einen Drachen aussuchen. Es ist andersherum. Der Drache wählt seinen Reiter.«
Nur langsam entfalteten die Worte ihre Wirkung in Elno, doch als er sie verstand, zog sich etwas in ihm zusammen. Der Raum um ihn schien mit einem Mal größer zu werden, während er auf seinem Stuhl immer kleiner wurde. Sein Herz raste. Er atmete stoßartig ein und wieder aus und ihm wurde schwindelig. War es das gewesen, was er gespürt hatte? Hatte der Drache ihn ausgewählt?
»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«, fragte Girion. Elno gab ein ächzendes Geräusch von sich. Als er sah, dass Girion sich erheben wollte, nickte er schnell.
»Gut«, sagte Girion. Dann fuhr er fort: »Auf die Wahl des Drachens haben wir Menschen keinen Einfluss. Manche Drachen wählen viele Jahre niemanden aus.« Er seufzte. »Das ist auch der Grund, warum wir bei der Parade eine Art Auswahlspiel betreiben. Jeder, der will, kann versuchen einen Drachen zu reiten. Die meisten schaffen es nicht einmal, auf einen Drachen aufzusteigen, und die, die es schaffen werden fast immer abgeworfen.«
Elno dachte an die Frau, die vor ihm versucht hatte, einen Drachen zu reiten. Immerhin hatte sie es geschafft, auf den Sattel zu steigen.
»In manchen Fällen aber akzeptiert der Drache seinen Reiter.« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »So wie bei dir.«
Elno schluckte. Eine Ahnung dämmerte in ihm, was dies zu bedeuten hatte. Die Stimme Girions klang auf einmal weit entfernt und für einen Moment verschwamm der Raum vor Elnos Augen. Er schüttelte sich und seine Sinne wurden wieder etwas klarer.
»Natürlich geht man mit dem Versuch keine Verpflichtung ein, doch die meisten, die es probieren, wünschen sich sehr, ein Drachenreiter zu werden. In deinem Fall jedoch scheint es mir so zu sein, dass du gar nicht wusstest, worauf du dich einlässt. Wenn du also nicht willst, dann …«
»Doch!«, platzte es aus Elno heraus.
Vor Schreck schlug er sich die Hand vor den Mund. Er hatte gar nicht vorgehabt, etwas zu sagen. Aber die Worte waren aus ihm heraus gepurzelt und er konnte sie nicht wieder zurücknehmen.
Girion lächelte. Neben ihm schnaubte Imeus verächtlich, während der Bürgermeister aufsprang und in die Hände klatschte.
»Wunderbar!«, rief er aus, doch niemand beachtete ihn.
Nur Imeus musterte ihn spöttisch und der Bürgermeister setzte sich wieder. Der dritte Mann saß weiterhin schweigend neben dem Bürgermeister. Er hatte die Augen geschlossen und die Fingerspitzen gegen die Nase gedrückt, als würde er nachdenken. Vielleicht war er aber auch einfach eingeschlafen.
»Das freut mich«, sagte Girion. »Wir müssen selbstverständlich noch deine Eltern fragen, ob du uns begleiten kannst. Wenn sie wollen, können sie nun ebenfalls mit zu uns kommen.«
»Nein!«, rief Elno und erneut war er überrascht über seine eigenen Worte.
»Ich habe es Euch doch schon gesagt, er ist ein Straßenjunge! Was für Eltern soll er schon haben, wenn er überhaupt noch welche hat? Vermutlich haben sie ihn hier sitzen lassen und sind weiter gezogen.«
Imeus Stimme war kalt und voll Verachtung. Elno rutschte auf seinem Stuhl hin und her und blickte zu Boden. Trotz allem war er Imeus fast dankbar für das, was er sagte. Vielleicht würde Girion nicht weiter nachfragen, dachte er.
Girion blickte von Imeus zu Elno.
»Hast du noch Eltern?«, fragte er.
Ohne den Blick zu heben, schüttelte Elno den Kopf. Du bist ein Verräter, schoss es ihm durch den Kopf, du verrätst deine Mutter und deinen Vater und du verrätst deine Schwester. Elno musste schlucken. Seine Eltern zu verraten bedeutete ihm nichts. Er spürte nichts als Leere, als er an sie dachte. Doch als Nelas Gesicht in seinen Gedanken auftauchte, wurde ihm fast übel. Er konnte Nelas letzten ängstlichen Blick, bevor seine Mutter ihn aus dem Haus geschickt hatte, wieder vor sich sehen und wie nichts anderes wünschte er sich, er hätte sie mitnehmen können. Nun saß er hier und sie war immer noch dort in ihrer dunklen und schmutzigen Hütte. Sein Hals wurde trocken und er schluckte laut. Er merkte, wie seine Augen feucht wurden und er kauerte sich noch mehr auf seinem Stuhl zusammen, damit die anderen seine Tränen nicht sehen konnten.
»Schon gut«, sagte Girion. Er war aufgestanden und stand nun neben Elno. Beruhigend legte er die Hand auf Elnos Schulter. Elno zuckte zusammen, doch dann tat ihm die Berührung gut und der Schmerz, der sich in ihm ausgebreitet hatte, war etwas weniger drückend.
Mit einem Mal waren durch die Tür aufgeregte Stimmen zu hören. Kurz darauf klopfte es und ein dünner, hochgewachsener Mann öffnete die Tür. Er hatte einen langen Schnurrbart und langes Haar, das er zu einem Zopf zusammen gebunden hatte. In der Hand hielt er einen goldenen Stab und seine Kleidung ähnelte der des Bürgermeisters, war aber nicht ganz so prächtig. Der Mann verbeugte sich tief.
»Verzeiht, dass ich Euch störe, aber Siero Lorwick ist hier und er fordert, Euch zu sprechen.«
»Siero Lorwick?«, fragte der Bürgermeister überrascht und warf einen unsicheren Blick in die Runde, »Was will er hier?«
Er überlegte kurz.
»Schickt ihn weg und sagt ihm, ich habe keine Zeit, ich empfange ihn morgen.«
Der Mann in der Tür machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zwiebel gebissen.
»Ich glaube nicht, dass er sich damit zufriedengeben wird. Er ist …«
Weiter kam er nicht. Polternde Schritte kamen näher, dann erschien ein riesiger Mann in der Tür. Er trug eine prächtige weiße Rüstung, deren Schulterstücke fast seinen Kopf überragten und die ihn noch breiter und wuchtiger aussehen ließ, als er es wohl ohne Rüstung schon gewesen wäre. Die Rüstung war fast ganz weiß, nur auf den Schulterpolstern war ein blaues Emblem aufgemalt. Ein Schneekristall, der von oben mit einem Schwert durchstoßen wurde. Das Gesicht des Mannes war grimmig und sein helles Haar kurz geschnitten.
»Wagt es nicht, mich warten zu lassen!«
Er sprach laut und seine Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton. Nicht nur Elno schrumpfte auf seinem Stuhl zusammen. Auch der Bürgermeister und seine Beisitzer wirkte auf einmal kleiner als zuvor. Nur Girion blieb unbeeindruckt und stand weiter neben Elnos Stuhl.
»Siero Lorwick, wie schön Euch hier zu sehen!«, sagte der Bürgermeister nervös. »Wir sind gerade in einer Besprechung und …«
Siero Lorwick unterbrach ihn.
»Ich weiß, dass Ihr in einer Besprechung seid, und ich weiß auch, worüber Ihr redet! Die ganze Stadt spricht bereits davon! Nach was weiß ich wie vielen Jahren hat es ein gewöhnlicher Junge geschafft, einen Drachen zu reiten!«
Er schob den Mann mit den langen Haaren und dem Schnurrbart einfach beiseite und machte einen Schritt in den Raum herein.
»Ich frage mich nur, wieso ich es nur durch den Klatsch und Tratsch der einfachen Leute erfahren habe und nicht von Euch, werter Herr Bürgermeister!«
»Nun, ich …«
Der Bürgermeister strich sich verlegen über den Bart an seinem Kinn.
»Ich wollte Euch gerade einen Boten …« Schicken, wollte er wohl sagen, doch der Blick von Siero Lorwick ließ ihn verstummen. Betreten schaute er zu Boden.
»Der Junge ist ein Untertan des Königs und als solcher wird er nicht ohne weiteres von diesen Drachenreitern mitgenommen!«, sagte Siero Lorwick laut. »Ich verlange ihn zu sehen!«
»Er sitzt direkt neben Euch.«
Das war Girions Stimme. Sie war ruhig und freundlich. Trotz allem drehte sich Siero Lorwick fast hektisch zu ihm um. Zum ersten Mal sah er Girion an und musterte ihn abschätzig.
»Was?«, fragte Siero Lorwick, so, als ob er nicht verstanden hätte, was Girion gerade gesagt hatte.
»Er sitzt neben Euch«, wiederholte Girion, ohne sich von Elnos Seite weg zu bewegen.
Siero Lorwick zog die Augenbrauen zusammen und schaute irritiert neben sich. Elno war so auf seinem Stuhl zusammen gesackt, dass er kaum noch zu sehen war. Er wagte nicht den Kopf zu heben und schaute stattdessen auf den Boden, wo die Panzerstiefel von Siero Lorwick in sein Blickfeld kamen.
Es wurde still im Zimmer.
»Schau mich an!«
Elno zitterte, doch Siero Lorwicks Stimme war so bestimmend, dass er sich zwang, seinen Kopf zu heben, bis er Siero Lorwick ins Gesicht blicken konnte. Siero Lorwicks Blick war ausdruckslos. Er betrachtete Elno einen Moment, dann wandte er sich ab.
»Ihr wollt ihn mitnehmen?«, fragte er Girion, ohne ihn anzuschauen.
»Das liegt an Elno. Wenn er mit will, werden wir ihn mitnehmen«, antwortete Girion.
Elno blickte von Girion zu Siero Lorwick, ohne schlau aus ihnen zu werden.
»Er …«, begann der Bürgermeister mit piepsiger Stimme. Er räusperte sich, »Erhebt Ihr ebenfalls Anspruch auf den Jungen?«, fragte er zu Siero Lorwick gewandt.
Siero Lorwick schnaubte verächtlich. Er warf einen letzten abschätzigen Blick auf Elno.
»Macht mit dem Jungen, was Ihr wollt. Wir brauchen ihn nicht.«
Noch einmal wandte er sich zum Bürgermeister.
»Vergesst nicht, wer über Steinbrücken regiert, Bürgermeister. Das seid nicht Ihr und auch keine Leute, die mit Drachen in den Bergen hausen.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den Raum. Wieder kehrte Stille ein.
Der erste, der wieder etwas sagte, war der Mann mit dem goldenen Stab und den langen Haaren.
»Ich denke, ich werde dann nicht mehr gebraucht?«, fragte er den Bürgermeister.
»Was?«, fragte dieser verdutzt und blickte zu dem Mann hinüber. »Oh, ja, nein, ich meine, nein, Tölf, ihr könnt gehen.«
Tölf verbeugte sich, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Der Bürgermeister stieß einen erleichterten Seufzer aus und auch Imeus und der andere Mann, der bisher kein einziges Wort gesagt hatte, kamen wieder zum Vorschein, nachdem sie vorher fast von ihren Stühlen gerutscht waren.
»Bleibt es bei deinem Entschluss?«, fragte Girion zu Elno gewandt.
Elno zwang sich zu nicken. Girion lächelte ihn aufmunternd an.
»Eine gute Entscheidung. Und mach dir keine Sorgen, wir müssen noch einige Sachen erledigen und reiten nicht sofort los. Der Bürgermeister wird dir ein Zimmer zur Verfügung stellen.«
Er warf dem Bürgermeister einen strengen Blick zu.
»Selbstverständlich!«, sagte dieser sofort, »In meinem eigenen Haus, er wird schlafen wie ein junger Fürst!«
»Sehr schön«, sagte Girion, »Ich schicke jemanden zu dir, der schauen wird, ob du noch etwas brauchst. In ein paar Tagen reisen wir ab. Wenn du bis dahin noch etwas erledigen musst, dann tu es bitte. Ich kann dir noch nicht sagen, wann du, das nächste Mal wieder hier sein wirst.«
Er legte seine Hand erneut auf Elnos Schulter.
»Willkommen bei den Drachenreitern. Du wirst sehen, es wird dir bei uns gefallen.« Dann drehte er sich zum Gehen und überließ Elno dem Bürgermeister und seinen Beratern.
Vinja
»Vinja!«
Die Stimme ihrer Mutter, schrill und streng, riss Vinja aus ihren Gedanken. Erschrocken zuckte sie so heftig zusammen, dass die Kiste, die sie eben erst aufgehoben hatte, ihr aus den Händen fiel. Der Inhalt verteilte sich scheppernd auf dem Boden. Ein Glas ging zu Bruch und Becher und Schalen rollten klappernd durch den Raum.
»Verdammt noch mal!«, rief Rigund wütend.
»Entschuldigung!«
Schnell bückte Vinja sich und begann mit zittrigen Fingern die Gegenstände wieder einzusammeln.
»Lieber Himmel!«
Rigund trat neben Vinja, nahm ihr die Kiste weg und begann nun selbst, die Sachen einzusammeln. »Das kann ich nicht mit ansehen!«, schimpfte sie, »Schlimm genug, dass beim Herausfallen etwas kaputtgegangen ist, aber so grob wie du den Rest einräumst, wird gleich wieder etwas zu Bruch gehen.«
Vinja erhob sich. Scham und Ärger stiegen in ihr auf. Scham, dass sie wieder einmal etwas kaputt gemacht hatte und Ärger, weil sie fand, dass ihre Mutter es schlimmer darstellte, als es war. Letztlich überwog das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie noch einmal, doch der strafende Blick ihrer Mutter verschlimmerten Vinjas Schuldgefühl eher noch, als dass es sich besserte.
»Hol einen Besen und mach die Scherben weg!«
Vinja lief in den hinteren Teil des Raumes, wo sich ein Stapel weiterer Kisten befand. Nach kurzem Suchen hatte sie auch einen Besen erspäht. Er steckte zwischen einigen Gerätschaften und Koffern. Nervös wollte Vinja ihn herausziehen, doch schon beim ersten Ruck geriet der Stapel gefährlich ins Wanken.
Ruhig, ermahnte sie sich, langsam.
Sie drückte mit der rechten Hand gegen den Teil des Stapels, der besonders wackelig zu sein schien und zog mit der linken am Besen. Holz kratzte über Glas und Leder und Vinja fürchtete, noch mehr würde zu Bruch gehen, aber zum Glück blieb alles heil. Erleichtert nahm sie den Besen in der Hand, ging zurück, öffnete die Tür, die nach draußen führte und begann, die Scherben hinauszufegen.
Von draußen drang Straßenlärm herein, ein fernes Gewirr von Stimmen, das Trampeln und Stampfen von Füßen und irgendwo das Wiehern eines Pferdes.
»Na, das gibt ja ein schönes Bild ab«, schimpfte ihre Mutter, »Aus unserem neuen Laden fegen wir den Müll auf die Straße und falls jemand hereinschauen sollte, sieht er, wie ich Gerümpel vom Boden aufsammle!«
Wütend stand sie auf und brachte die Kiste hinüber zur großen Theke, die quer durch den hinteren Teil des Raumes ging. Dort stellte sie die Kiste so grob auf den Tresen, dass es erneut laut schepperte. Vinja warf ihr einen finsteren Blick zu.
Bei dir könnten die Sachen auch kaputtgehen, dachte sie.
»Habe ich nicht gerade gesagt, du sollst die Tür schließen?«, fragte ihre Mutter gereizt, als sie sah, dass Vinja immer noch Dreck nach draußen beförderte.
Hast du nicht, dachte Vinja.
Sie betrachtete den Streifen Sonnenlicht, der in den Raum fiel und den aufgewirbelten Staub, der in ihm herum waberte.
Dann schloss sie seufzend die Tür und ließ den Blick durch den Raum wandern, der nun wieder im Dämmerlicht lag. Das hier würde also ihre neue Wäscherei werden, oder zumindest der Bereich, den die Kunden zu Gesicht bekommen würden. Die eigentliche Wäscherei würde im hinteren Teil liegen. Dorthin räumte sie gerade die Gerätschaften, die zum Waschen benötigt wurden, oder aber zur Herstellung von Seife. »Aber nicht irgendeine Seife, eine besondere Seife! Einzigartig vom Wald bis zur See«, hörte sie die Stimme ihres Vaters im Kopf. Einen Spruch, den er sich schon in ihrer Heimatstadt Halwar ausgedacht hatte und der Vinja gehörig auf die Nerven ging. Er brachte ihn immer, wenn er bemüht war, einen neuen Kunden zu gewinnen. Darin war er sehr erfolgreich, vor allem bei den Wohlhabenden und Reichen, die immer auf der Suche nach etwas Besonderem waren.
Auf der Theke lag eine lange Stoffbahn. Ihr Vater hatte mit roter Farbe, groß und in der einfachen Schrift »Neueröffnung« darauf geschrieben. Dem war ein langer Streit vorangegangen, denn Rigund war der Meinung gewesen, Belfonso solle besser die verschnörkelten Buchstaben der Hochschrift verwenden, um zu zeigen, dass sie nicht irgendwer, sondern jemand besonderes waren. Doch letztlich hatte sich Belfonso damit durchsetzen können, damit durchsetzen können, dass die Hochschrift nicht mehr in Mode sei. Ihre Buchstaben seien zu aufwendig, zu schwierig zu lesen. Vinja wusste, dass diese Einigung entscheidend davon geprägt war, dass keiner von beiden die Hochschrift sonderlich gut beherrschte. Solche Scheinstreitereien gab es oft und das ärgerte Vinja sehr.
Sie machte sich wieder daran, den Stapel Kisten vom Vorderzimmer nach hinten in die Werkstatt zu räumen. Auch Rigund half dabei, doch unter ihren wachsamen Augen fühlte sich Vinja alles andere als wohl. Sie hätte lieber alleine gearbeitet. Andererseits, dachte Vinja, würde es dann den ganzen Tag dauern, bis sie fertig würde, denn wenn sie alleine war, dann trödelte sie oder versank in Gedanken, so wie es ihr eben erst passiert war.
Es war der Anblick ihres altern Ladenschildes gewesen, welches achtlos in einer Ecke des Verkaufsraumes lag, das ihre Gedanken fort getragen hatte. »Rigund und Belfonso«, stand darauf und darunter »Wäscherei«. Ein Bild von ihrer alten Straße war in ihr aufgetaucht. Sie lief direkt auf den Halwarer Markt zu. Vinja kannte alle Geschäfte und Werkstätten, die sie zu bieten hatte. An vielen hing ein Schild, aber ihres war das schönste auf der ganzen Straße gewesen. Trotz allem hatte Belfonso angekündigt, dass sie ein neues Schild bekommen würden, das alte sei zu klein für Ijaria, hatte er gesagt. Es war eine der vielen Ausgaben, die ihre Eltern tätigten, um einen erfolgreichen Start in Ijaria zu haben.
Die größte war jedoch die für das Haus gewesen, in dem sich nun ihr Laden und ihr Wohnbereich befanden. Vinja war erstaunt darüber, wie viel Geld ihre Eltern haben mussten, denn das Haus war groß und ihre Wohnung über dem Laden mehr als geräumig. Jeder hatte sein eigenes Zimmer, es gab eine Küche, einen Essraum und sogar noch eine weitere Kammer. »Für Bedienstete«, wie ihr Vater stolz und träumerisch gesagt hatte. Für Bedienstete aber reichte das Geld noch nicht und Vinja war froh, dass es so war. Der Gedanke, dass jemand Fremdes bei ihnen wohnen würde, um für sie zu arbeiten, behagte ihr nicht.
Zuletzt gab es noch einen Dachboden, auf dem allerlei Gerümpel lagerte. Nach ihrem ersten Blick hatte Vinja große Lust gehabt, in den Sachen herumzustöbern, doch die nötigen Arbeiten ließen ihr keine Zeit dafür.
»Hilf mir mal!«
Rigund stand neben der Kastenmangel, jener große Wäschereiapparatur, die es ihnen ermöglichte, viel mehr Wäsche zu waschen, als es für eine einzelne Person sonst möglich wäre. Offensichtlich wollte Rigund sie an ihren richtigen Platz zu rücken.
Zu zweit machten sie sich daran, das schwere Gerät zu verschieben, doch auch unter Aufbietung aller Kräfte schafften sie es nur wenige Zentimeter. Erschöpft gaben sie auf.
»Verflixt«, schimpfte Rigund. Sie ließ den Blick über den verbleibenden Rest schweifen. Der Stapel war deutlich geschrumpft. Nur noch eine Wanne, einige Töpfe und zwei etwas in die Jahre gekommene Wäschestangen standen dort.
»Wenn du das noch nach drüben geräumt hast, ist es gut für heute. Ich weiß nicht, wann Belfonso wieder da ist und vorher kommen wir eh nicht weiter.«
Rigund schaute sich noch einmal um und warf einen Blick in den hinteren Raum, dann nahm sie die Treppe, die in den Wohnbereich führte.
Vinja wartete noch ein paar Augenblicke. Ihre Arme waren zittrig geworden und sie fühlte sich müde und schwach. Als sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, machte sie sich daran, den Rest vom vorderen in das hintere Zimmer zu räumen.
Sie hatte gerade zwei Wäschestampfer aufgehoben, als Belfonso die Ladentür öffnete.
»Wunderbar!«, rief er zufrieden und nickte Vinja anerkennend zu, »Ihr habt alles nach hinten geschafft, das ist ja großartig!«
Vinja brachte ein erschöpftes Lächeln zustande.
»Der Kastenmangler«, sagte sie, aber Belfonso winkte ab.
»Der hat Zeit bis morgen.«
Er warf einen Blick über die Apparaturen, die Vinja und Rigund hinübergetragen und sortiert hatten. Links an der Wand stand der große Tisch und die Gerätschaften, die Belfonso für die Seifenherstellung brauchte, an der anderen Seite standen die Wäschereiapparaturen. Belfonso nickte.
»Das kann so bleiben«, sagte er zufrieden. Dann schaute er zu Vinja herüber.
»Hättest du Lust, heute noch etwas die Stadt zu erkunden?«
Vinja zögerte. Seit sie angekommen waren, hatte sie kaum einen Fuß vor die Tür gesetzt und das lag nicht nur daran, dass es im Haus und im neuen Laden viel zu tun gab. Ijaria behagte ihr nicht. Sie fürchtete, sich zu verlaufen. Andererseits wusste sie auch, dass sie irgendwann hinausmusste und sie spürte, wie ihre Neugier stärker wurde.
»Ja«, antwortete sie schließlich.
»Gut!«
Belfonso rieb sich die Hände und Vinja ahnte, dass er nicht einfach so gefragt hatte, sondern einen Hintergedanken verfolgte.
Er lief hinter den Tresen, wo er eine lederne Mappe mit allerlei Papieren hervorholte. Belfonso blätterte sie durch und zog dann eines hervor. Er warf noch einen prüfenden Blick darauf, dann überreichte er es Vinja.
Vinja betrachtete es. Im dämmrigen Licht des Ladens war die Schrift nicht gut zu lesen, auch wenn sie sorgfältig und schön geschrieben war.
»Was ist das?«
»Das ist eine Auftragsbescheinigung einer der wichtigsten Schreibereien Ijarias«, antwortete Belfonso stolz, »Ich habe vor ein paar Tagen Werbungsschriften in Auftrag gegeben und sie sollten zur Abholung fertig sein.«
Er griff in eine Tasche seines Mantels und holte einen kleinen Sack hervor, aus welchem er eine Reihe von Münzen abzählte. Dann kramte er aus einer weiteren Tasche einen kleineren Beutel hervor, füllte die Münzen hinein und übergab ihn Vinja.
»Steck ihn in die Innentasche deines Mantels!«, wies er Vinja an »Die Straßen sind voller Diebe und Halsabschneider.«
»Es ist viel zu warm für einen Mantel«, entgegnete Vinja. Ihr Interesse, den Laden zu verlassen, schwand.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Belfonso und hob beschwichtigend die Hände, »aber du willst doch nicht ausgeraubt werden, oder?«
Vinja schluckte. Natürlich wollte sie nicht ausgeraubt werden. Aber sie wollte sich auch nicht zum Gespött machen, wenn sie das erste Mal durch Ijarias Straßen lief.
»Ich werde auffallen, wenn ich hier mit Mantel herumlaufe!«
Belfonso lachte.
»Auffallen? In Ijaria kann man nicht auffallen, du wirst sehen!«
Unzufrieden stieß Vinja Luft durch die Nase aus, doch sie wusste, dass es sinnlos war, sich mit Belfonso zu streiten.
Kurz bevor sie sich auf den Weg machen wollte, gekleidet in den dünnsten Mantel, den sie finden konnte, hielt Belfonso sie noch einmal zurück.
»Hier«, sagte er und hielt ihr zwei weitere, beschriebene Papierstreifen hin, »Das sind Gutscheine. Ich habe sie selbst gemacht. Versuch mal, ob du sie dem Schreiber andrehen kannst, statt ihm Geld zu geben. Dann haben wir in einem Rutsch noch einen Kunden gewonnen.«
Vinja steckte die Gutscheine in eine Tasche, ohne einen Blick darauf zu werfen.
Als sie auf die Straße trat, Münzen und Auftragsbescheinigung in einer Tasche verborgen und einen Stadtplan zur Orientierung in der Hand, wünschte sie sich, einfach nein gesagt zu haben, als Belfonso sie fragte, ob sie die Stadt erkunden wolle. Denn kaum hatte sie ein paar Schritte die Straße hinuntergemacht, da lief ihr der Schweiß bereits über Rücken und Beine. Der Mantel war zwar dünn, aber schwarz und Belfonso hatte darauf bestanden, dass sie ihn ganz zuknöpfte, damit niemand heimlich in ihre Innentasche greifen konnte.
Je weiter sie sich in Richtung der großen Hauptstraße bewegte, der sie fast bis zum Zentrum Ijarias würde folgen müssen, desto belebter wurde es. Belfonso hatte ihr auf der Karte kleine Markierungen gemacht, damit sie den Weg finden würde, doch der Weg war auch so nicht schwierig. Das Viertel, in welchem sie ihren Laden hatten, hieß Lichterviertel. In der ersten Nacht, die sie in ihrem neuen Zuhause geschlafen hatte, hatte sie gesehen, dass an den Straßenecken große Laternen angezündet wurden und sie vermutete, dass das Viertel hierher seinen Namen hatte. Ihre Straße war nach den vielen Handwerkern, die sie bewohnten benannt und hieß Handwerkergasse. Falls sie sich verliefe, würde sie sicher danach fragen können.
Ich werde die Karte nur im Notfall benutzen, dachte Vinja und verstaute sie sicher in einer Manteltasche. Wenn sie mit einem Stadtplan in der Hand herumlief, würde jeder sofort erkennen, dass sie nicht von hier war und das wollte sie nicht.
Der Weg zur großen Hauptstraße war weiter, als sie gedacht hatte. Einen Moment war sie sich unsicher, ob sie sich vielleicht schon verlaufen hatte, doch nach einer Weile erreichte sie die große Straße, die vom Tor in der Stadtmauer bis in Ijarias Zentrum verlief.
Es fiel Vinja gar nicht leicht, auf dieser Straße voranzukommen. Immer wieder rempelte sie jemand an und manches Mal erntete sie einen bösen Blick dafür. Erst mit der Zeit gewöhnte sie sich an das Treiben.
Viele Menschen um sie herum schienen ein bestimmtes Ziel zu haben, andere schlenderten am Rand entlang und betrachteten die Läden. Und auch für Vinja gab es hier viel zu entdecken. Neben Ladengeschäften und Ständen, an denen allerlei Waren angepriesen wurden, sah Vinja auch einige Bettler, die mit Bechern nach ein paar Münzen fragten. Hie und da standen kleinere Gruppen von Soldaten und manchmal sah Vinja sie auch über die Straße patrouillieren. Sie musterten alle Passanten mit kritischen Blicken und als einer der Soldaten seine Augen auf Vinja richtete, fühlte sie sich seltsam ertappt. Schnell schaute sie fort und war froh, als sie an den Soldaten vorbei war, ohne angesprochen zu werden.
Sie passierte eine alte Frau, die aus einer Tonne Äpfel verkaufte. Vinja dachte an die alte Masia und fragte sich, ob sie wohl ihre Schwester gefunden hatte.
Ich hätte sie fragen sollen, wie ihre Schwester heißt, dann hätte ich nach ihr suchen können, dachte Vinja.
Sie blieb an der Apfeltonne stehen, holte das Säckchen mit den Münzen hervor und bezahlte der alten Frau einen Kupferschilling. Danach verbarg sie den Beutel schnell wieder und schaute sich nervös um, bevor sie anfing, den Apfel zu essen. Er war rot, hatte einen süßlichen Geschmack und war herrlich erfrischend. Vinja bedauerte, dass sie nicht gleich zwei gekauft hatte, aber ihr Vater war geizig und schon jetzt war sie besorgt, dass die Münzen nicht mehr zum Bezahlen reichen würden.
Ich habe ja noch die Gutscheine, dachte Vinja und bei dem Gedanken musste sie lachen.
Nach einer Weile weitete sich die Straße zu einem Platz, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Die Festung des Königs und der Berg, auf dem sie stand und der sich genau im Zentrum der Stadt befand, waren schon sehr nahe. Beide waren größer, als Vinja gedacht hatte und sie spürte die Verlockung, einfach weiter geradeaus zu laufen, um sie sich aus der Nähe anzuschauen.
Sie beschloss, eine kleine Pause zu machen und kurz am Brunnen zu trinken, bevor sie weiterging.
Es war heiß und sie war nicht die einzige, die sich am Brunnen erfrischen wollte. Mithilfe einer Pumpe wurde Wasser aus einem Hahn gepumpt. Vinja betrachtete ihn fasziniert. Er war aus glatt geschliffenem Stein, voller Verzierungen mit Fabelwesen aller Art. Sie sah Drachen, Zwerge, Monster und Hexen. Gerade dachte sie darüber nach, ob die Figuren, so wie sie angeordnet waren, eine Geschichte erzählten, als jemand sie ansprach. Es war ein Mann mit zotteligem Haar und rauem Gesicht, der den Hebel der Pumpe in der Hand hielt.
»Na Kleine, willst du etwas Wasser?«
Die Ansprache mit »Na Kleine« versetzte ihr einen Stich, doch sie nahm den angebotenen Becher an und trank, bevor sie den Platz für jemand anders frei machte. Das Wasser schmeckte frisch und klar und war angenehm kühl.
Wo es wohl herkommt, überlegte Vinja. Ihr altes Zuhause in Halwar hatte direkt am Fluss gelegen und das Wasser, welches sie für die Wäscherei brauchten, hatten sie von dort in Eimern holen müssen. Wo aber kam das Wasser für den Brunnen her? Und woher würden sie das Wasser für die Wäscherei bekommen? Die Vorstellung, jeden Tag bis hier zum Brunnen laufen, gefiel ihr gar nicht. Ich werde Belfonso fragen, wenn ich zu Hause bin, dachte sie und hätte beinahe die Abzweigung Richtung Schreiberei verpasst. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie noch auf dem richtigen Weg war, bog sie ab. Sie lief die Straße hinunter, bis sie den Platz erreichte, an welchem die Schreiberei liegen sollte. Vinja schaute sich um und entdeckte dann auf der Nordseite einen Laden, der sich im Erdgeschoss eines großen und reich verzierten Hauses befand. Darüber war ein Schild angebracht, auf welchem neben einer geschwungenen goldenen Feder in den aufwendigen und ebenfalls goldenen Buchstaben der Hochschrift ›Scrivorium Tevius‹ stand. Vinja hatte das Wort Scrivorium noch nie gehört. Vermutlich entstammte es der alten Sprache. Zögernd ging sie auf den Laden zu und bemühte sich, einen Blick durch das Fenster an der Ladenfront zu werfen. Durch die Scheibe sah sie einen gemütlich eingerichteten Raum mit einer Sitzecke, in welcher zwei Sessel und ein Sofa mit aufwendigen Sitzpolstern standen. Dazwischen ein kleiner Tisch, auf dem eine Schale mit Früchten stand. Am Ende des Raumes befand sich eine Theke und hinter der Theke saß ein großer, hagerer Mann. Vinja fasste sich ein Herz, drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Ein Glöckchen, das durch die geöffnete Tür angestoßen worden war, gab ein hohes und leises Klingeln von sich. Der Mann hob den Kopf und stand auf. Er hatte ein schmales Gesicht und seine Augen waren dunkel unterlaufen, so, als ob er länger nicht mehr richtig geschlafen hätte. Sein Haar war zerzaust und passte nicht so recht in die aufgeräumte und ordentliche Umgebung. Vinja hatte den Eindruck, dass er nicht viel älter war als sie selbst. Sie schloss die Tür hinter sich und machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Der Boden war glatt und aus polierten Steinen gelegt und Vinjas Sandalen hinterließen staubige Abdrücke darauf.
»Guten Tag«, sagte der Mann. Seine Stimme war sanft, wenn auch etwas abwesend.
»Guten Tag«, antwortete Vinja unsicher und blieb mitten im Raum stehen.
»Was kann ich für dich tun?«
Er klingt unglücklich, dachte Vinja. Sie knöpfte ihren Mantel auf und holte die Auftragsbescheinigung hervor.
»Ich soll etwas für meinen Vater abholen«, sagte sie, trat an die Theke heran und überreichte dem jungen Mann das sauber beschriebene Blatt Papier. Der musterte es kurz.
»Die Werbezettel für die Wäscherei?«, fragte er, doch es klang eher wie eine Feststellung.
»Genau«, antwortete Vinja.
Wortlos schlurfte er durch eine Tür seitlich der Theke und verschwand in einem dahinter liegenden Raum. Vorsichtig lehnte sich Vinja über den Tresen, um durch die Tür sehen zu können. Sie erhaschte einen Blick auf Tische, an denen Leute saßen und schrieben. Vinja lehnte sich noch etwas nach vorn, um besser sehen zu können und verlor für einen Moment das Gleichgewicht. Fast wäre sie vorn über die Theke gestürzt, doch sie fing sich und schob sich schnell wieder auf die Füße, gerade in dem Moment, als der junge Schreiber zurückkehrte. Er musterte sie mit verwirrtem Blick. In den Händen hielt er ein Bündel Papiere, das mit einer Kordel zusammen geschnürt war. Er legte es auf den Tresen, knotete die Kordel auf und nahm das obere Blatt, um es Vinja zu zeigen.
Wäscherei
Rigund und Belfonso
Feinste Seife, feinster Duft
Wenn edel noch nicht edel genug ist
Neueröffnung
Vinja betrachtete den Werbezettel fasziniert. In der sorgfältigen und genauen Schrift wirkte der Text ihres Vaters irgendwie peinlich auf sie. Die Genauigkeit der Arbeit hingegen beeindruckte sie. Alle Buchstaben schienen sich exakt auf der gleichen Linie zu befinden. Die Tinte franste an den Rändern nicht aus, war nicht verlaufen und nirgends befand sich ein Klecks.
»Das sieht toll aus!«, sagte Vinja laut.
Vinja sah die Andeutung eines Lächelns auf dem sonst traurigen Gesicht des jungen Schreibers.
»Danke«, sagte er höflich. Er legte den Zettel zu den anderen zurück und verschnürte das Bündel wieder. Dann gab er Vinja eine Rechnung. Vinja holte den Beutel mit Münzen aus ihrer Jacke und begann, sie vor den Augen des Schreibers abzuzählen.
Es war zu wenig, genau ein Kupferschilling.
Der Schreiber sagte nichts, sondern starrte auf die Münzen, als wisse er nicht, was er damit anfangen sollte. Vinja griff in die Tasche ihres Mantels und bekam einen der Gutscheine zu fassen, die ihr Vater ihr mitgeben hatte. Sie zog ihn hervor und legte ihn neben die Münzen. Erst jetzt sah sie, wie schlecht er gemacht war und neben den sorgfältig gearbeiteten Werbeschriften sah er besonders schäbig aus. Die Buchstaben waren unterschiedlich groß, rutschten in den Zeilen hoch und runter und die Tinte war verlaufen.
Gutschein
Eine Wäsche zum halben Preis!
Wäscherei Rigund und Belfonso
Vinja merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Auch wenn es kaum möglich war, wurde ihr noch heißer, doch dieses Mal kam die Hitze von innen.
Der Schreiber, der immer noch auf die Münzen schaute, drehte den Kopf und seine Augen wanderten über den Gutschein, den Vinja auf die Theke gelegt hatte. Er las ihn, dann wandte er sein Gesicht zu Vinja.
Vinja schaute weg. Die Peinlichkeit der Situation ließ ihr Herz schneller schlagen und sie wünschte sich, sie hätte den Apfel nicht gekauft.
»Wir nehmen keine Gutscheine«, sagte er mit bedrückter Stimme. Dann begann er wortlos die Münzen zusammenzukehren.
»Das passt auch so«, sagte er, nachdem er das Geld in einer kleinen Kiste verstaut hatte. Vinja nickte.
»Danke«, sagte sie leise und mit trockenem Mund. Dann griff sie nach dem Bündel und zog es an der Kordel von der Theke. Als sie den Blick hob, sah sie, dass der junge Schreiber sie immer noch musterte. Er strich sich mit der Hand über die Augen und zog die Finger über der Nase zusammen, dann schüttelte er den Kopf, als wollte er einen unliebsamen Gedanken loswerden. Wieder schaute er sie an.
»Ist es nicht viel zu heiß in dem Mantel?«, fragte er unvermittelt und Vinja zuckte innerlich zusammen. Sie wünschte sich, den Laden endlich verlassen zu können, aber sie wollte nicht unhöflich sein. Hilflos zuckte sie die Schultern.
»Mein Vater will, dass ich ihn trage«, antwortete sie.
Der Schreiber machte ein fragendes Gesicht.
»Warum?«
Vinja schaute aus dem Fenster hinaus auf den Platz, der immer noch vom Sonnenlicht erhellt wurde.
»Weil …«, begann sie und im Kopf suchte sie nach einer Ausrede, irgendetwas, was nicht so blöd und peinlich war, aber ihr fiel nichts ein, »weil er Sorge hat, dass ich ausgeraubt werde.«
Der Schreiber schwieg, folgte ihrem Blick nach draußen, dann auf den Stapel mit den Werbezetteln und schien einen Moment nachzudenken. Dann nickte er.
Als er nichts mehr sagte, machte sich Vinja daran, den Laden zu verlassen.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie.
Aber wir werden uns nicht wiedersehen, dachte sie, nächstes Mal kann Belfonso seine Schriften selber holen oder Rigund. Sie hatte die Tür fast erreicht, als der Schreiber sie abermals zurückhielt.
»Warte!«, rief er und Vinja drehte sich um.
»Was denn noch?«, hätte sie beinahe gesagt, aber sie schluckte die Worte herunter.
»Ja?«, fragte sie stattdessen.
»Der Gutschein, kann ich ihn nochmal sehen?«
Vinja seufzte, griff aber in die Tasche und ging zurück zum Tresen, wo sie einen der Gutscheine hervorzog. Der Schreiber musterte ihn nachdenklich. Dann holte er unter dem Tresen ein kleines Schreibpult hervor. Links und rechts am Brett befanden sich Klemmen, in welche er ein Blatt sandfarbenes Papier einspannte. Dann nahm er ein Lineal und begann feine Linien auf das Papier zu zeichnen. Hin und wieder prüfte er den Abstand zweier Linien. Nachdem er mit den Linien fertig war, nahm er Feder und Tinte zur Hand und begann, den Text des Gutscheins abzuschreiben. Viermal passte er auf das Blatt. Er blies vorsichtig auf die Tinte. Als sie trocken war, nahm er ein kleines Messer zur Hand und entlang des Holzstückes, das er auf das Blatt drückte, schnitt er die Gutscheine auseinander. Ein letztes Mal prüfte er seine Arbeit, dann gab er die Gutscheine Vinja.
»Hier«, sagte er und nach kurzem zögern fügte er hinzu: »Falls du sie nochmal brauchen solltest.«
»Danke!«, sagte Vinja. Behutsam faltete sie die Gutscheine und ließ sie in die Tasche gleiten. Als sie den Laden verließ, war sie froh, sich auf den Heimweg machen zu können.
Zu Hause angekommen, strahlte ihr Vater über das ganze Gesicht.
»Wunderbar!«, kommentierte er die Werbeschriften, nachdem er zwei zur Prüfung hervorgeholt hatte. »Hat es mit den Gutscheinen geklappt?«
»Nein«, antwortete Vinja und zeigte ihm einen der neu gefertigten. »Aber ich habe die hier bekommen.«
Belfonso betrachtete die Gutscheine mit prüfendem Blick, dann zog er die Brauen zusammen.
»Was heißt ›bekommen‹? Musstest du sie bezahlen?«,
»Nein«, sagte Vinja.
»Aber wieso hast du sie dann ›bekommen‹?«, fragte er irritiert.
Weil deine Gutscheine offensichtlich peinlich und schlecht gemacht sind, dachte Vinja. Ärger stieg in ihr auf und fast hätte sie gesagt, was sie dachte. Sie bekam Lust, Belfonso anzuschreien, aber sie tat es nicht.
»Ich glaube, der Schreiber fand mich nett«, sagte sie stattdessen und zu ihrer eigenen Verwunderung.
Auf dem Rückweg hatte sie über die gleiche Frage nachgedacht und war zu dieser Antwort gekommen. Sie gefiel ihr, denn der Schreiber war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen, aber eigentlich hatte sie keine Lust gehabt, es ihrem Vater zu sagen.
Auf dem Gesicht ihres Vaters breitete sich ein Grinsen aus, bis es von einem Ohr zum anderen zu reichen schien.
»Ahaaa!«, sagte er lang gezogen. »Er fand dich nett, ja? Und da hat er dir die Gutscheine umsonst gemacht, wie?«
Er lachte vergnügt.
»Nun, das werden wir zu unserem Vorteil zu nutzen wissen, nicht wahr? Beim nächsten Mal gehst du wieder hin!«
Er strich Vinja über die Haare.
»Das hast du gut gemacht, meine Kleine!«
Mit diesen Worten lief er hinüber ins Esszimmer, wo er Rigund großspurig von den Gutscheinen erzählte.
»Er scheint ganz verrückt nach Vinja zu sein, hier!«, hörte Vinja einen Teil seines Berichtes, worauf Rigunds verächtliches Schnauben folgte, das sie oft schnaubte, um ihr Wohlgefallen zu überdecken. Vinja seufzte. Sie hatte keine Lust ihren Eltern weiter zuhören zu müssen und ging mit hängenden Schultern zu ihrem Zimmer. Als sie im Flur stand fiel ihr Blick auf die Treppe zum Dachboden. Die Kisten mit dem Gerümpel fielen ihr wieder ein und sie entschied sich, hinaufzusteigen.
Der Dachboden war groß und geräumig. In seiner Mitte konnte Vinja ohne Probleme aufrecht stehen. Der Boden war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Die Fußabdrücke ihres ersten Besuches waren gut zu erkennen. Durch ein kreisrundes Fenster fiel Licht herein.
Vinja ließ ihren Blick über die alten Truhen und Kisten schweifen, die unter dem Staub der Zeit fast verschwunden waren. Sie ging zum Fenster hinüber. Es reichte vom Boden bis etwas über ihre Hüfte. Direkt davor war das Holz glatt und eben und bot die Möglichkeit, sich zu setzen. Dem Staub und der stickigen Luft zum Trotz ließ Vinja sich nieder und lehnte sich in die Fensteröffnung.
Alles in allem war es gut gewesen, vor die Tür zu kommen, dachte sie. Sie hatte den Rückweg ohne Probleme gefunden und niemand hatte versucht sie auszurauben. Vielleicht würde sie sich ja doch eines Tages daran gewöhnen, hier zu leben.
Auf der gegenüber liegenden Straßenseite entdeckte sie einen dicklichen Jungen, der damit beschäftigt war, vorbeilaufenden Brot und Gebäck anzubieten. Er gab sich redliche Mühe und soweit sie es sehen konnte, war er recht erfolgreich. Sie versuchte, sein Gesicht zu erkennen. Ob er zufrieden war, mit dem, was er tat? Vinja versuchte sich vorzustellen, wie sie sich mit gleichem Elan für die Wäscherei einsetzte, aber es kam kein überzeugendes Bild zustande. Stattdessen kam ihr der Schreiber wieder in den Sinn. Seine Tätigkeit hatte sie fasziniert, aber ob das am Schreiberhandwerk gelegen hatte? Sie betrachtete ihre Hände, die schmutzig waren vom Staub des Dachbodens. Die Hände des Schreibers waren feingliedrig und schlank gewesen. Dagegen wirkten ihre Hände geradezu grob. Sie sehen nicht aus wie Schreiberhände, dachte sie. Aber sie sahen auch nicht aus wie Wäscherhände, denn die Hände ihrer Eltern waren dick und fleischig und vom vielen Waschen regelrecht aufgeschwemmt. Wofür Hände gut sein sollten, wenn man nicht wusste, was man mit ihnen machen wollte? Auf diese Frage fand sie keine Antwort und auch wenn sie den Rest des Abends mit Grübeln verbrachte, änderte sich daran nichts.
Jorian
Die Luft war staubig. Im Scrivorium wurde nicht oft sauber gemacht, aber wenn es dazu kam, so, hatte Jorian den Eindruck, dass es mehr schadete, als nutzte. Sicher, der gröbere Teil des Drecks und Staubs, der sich auf dem Boden und den Regalen sammelte, wurde hinausbefördert. Trotzdem würde es den ganzen Tag dauern, bis sich der feine Staub, der jetzt durch den Arbeitsraum tanzte, wieder gesenkt hatte. Bis es soweit war, würde er auf die frische Tinte nieder rieseln und beim Atmen in Mund und Nase eindringen. Jorian hatte sich schon öfters gefragt, wieso Tevius nicht daran dachte, das Scrivorium vor einem der Tage reinigen zu lassen, an denen nicht gearbeitet wurde. Er musste niesen, rieb sich die Augen und versuchte sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren.
Er war froh, dass er die Arbeit an den Werbeschriften abgeschlossen hatte. Wie es der Zufall wollte, hatte er sie sogar persönlich übergeben. Ein Mädchen war da gewesen, um sie abzuholen.
Jorian war mit den Gedanken die ganze Zeit zu Hause gewesen, denn Helma ging es noch schlechter als zuvor. Er hoffte, in den nächsten Tagen genug Geld zu verdienen, dass er danach ein paar Tage zu Hause bleiben konnte.
Seine Hoffnung ging auf, zumindest bis jetzt, denn nachdem er im öffentlichen Teil des Scrivoriums gearbeitet hatte, gab Tevius ihm einen weiteren Auftrag. Er sollte den Brief einer gewissen Alota Finegan abschreiben. Sie hatte ihn mit schneller und ungeschickter Hand geschrieben. Für jemand Ungeübtes wäre er kaum zu lesen gewesen. Jetzt war es an Jorian, ihn in eine ansehnliche Form zu bringen. Normalerweise eine leichte Aufgabe, aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Nase war trocken und seine Augen juckten. Außerdem schien es ohnehin nur um Belanglosigkeiten zu gehen. Ein Bericht an Verwandte auf dem Land, was es Neues in der Stadt gab, welche Beziehungen sich auftaten und die übliche Einladung, in welcher die Verfasserin sich nichts mehr wünschte, als dass ihre Verwandtschaft sie doch endlich mal besuchen kommen möge. Alles in allem war der Inhalt fast schon übertrieben langweilig.
Das war nicht unüblich. Wenn es um speziellere Inhalte ging, dann gaben sich die Verfasser meistens selbst genug Mühe, den Brief zu schreiben, um keine Informationen an einen Unbekannten weiter zu geben. Oder aber sie beauftragten einen Schreiber ihres Vertrauens. Bei diesem Brief hatte die Verfasserin offensichtlich kein Interesse gehabt, ihn überhaupt zu schreiben. Es irritierte Jorian immer wieder, dass jemand einen Brief schrieb, der den Eindruck vermittelte, man würde den Empfänger mögen und vermissen, während man eigentlich gar keine Lust hatte, den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Mädchen, das die Werbezettel abgeholt hatte. Es war ihr offensichtlich peinlich gewesen, die Zettel abzuholen. Sie hatte die Kosten für die Arbeiten nicht ganz bezahlen können und Jorian hatte aus eigener Tasche den fehlenden Teil dazu gegeben. Warum um alles in der Welt hatte er das getan? Seine Mutter hätte an seinem Verstand gezweifelt, wenn sie es erfahren hätte. Und nicht nur das, er hatte sich sogar die Mühe gemacht, einige selbst gemachte Gutscheine vom Vater des Mädchens neu zu machen. Irgendetwas an ihr hatte Jorian angerührt, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was es war. Ohne sie zu kennen, hatte sie ihm Leid getan, wie sie in ihrer viel zu warmen Kleidung und mit dem lächerlichen Gutschein ihres Vaters vor ihm gestanden hatte.
Er seufzte und musste erneut niesen. Als er zusammen zuckte, machte seine Hand einen Ruck nach vorne und seine Feder hinterließ einen dicken Klecks auf dem bisher kopierten Teil des Briefes. Rasch breitete sich der Fleck aus und zerstörte die bisher geleistete Arbeit. Einen Moment saß er da, betrachtete das Papier, legte es dann zur Seite und nahm einen neuen Bogen zur Hand. Alvik würde es ihm von seiner Bezahlung abziehen. Ärger stieg in ihm auf und er atmete einige Male ein und aus, um sich zu beruhigen.
Jorian wusste, dass er nur eine Möglichkeit hatte, aus dem Kreislauf von Fehlern, verlorener Zeit, Ärger und erneuten Fehlern, herauszukommen. Er musste langsamer arbeiten, sich stärker auf seine Arbeit konzentrieren, statt Satz für Satz und Wort für Wort, Buchstaben für Buchstaben zu kopieren.
Als er mit der ersten Seite fertig war und Jorian gerade eine Pause machen wollte, pochte es mit einem Mal laut an der Tür des Scrivoriums.
Bumm. Bumm.
Das Geräusch hatte etwas so Eindringliches an sich, dass das Kratzen der Federn einen Moment verstummte, und sich alle Blicke zur Tür richteten. Auch Jorian wandte sich um. Beotrum trat mit ungehaltenem Gesichtsausdruck an die Tür und öffnete sie.
Jorian hätte das Gefühl nicht beschreiben können, das ihn in dem Moment ergriff, als die Tür geöffnet wurde und den Blick freigab auf den Neuankömmling, der so fordernd Einlass begehrte. Eine kalte Müdigkeit griff nach ihm und legte sich bleischwer auf seine Glieder. Er fühlte sich schwach und sein von der staubigen Luft ohnehin schon trockener Hals zog sich zusammen.
Draußen stand ein Mann, groß und breit, in einen langen Mantel gehüllt. Das Gesicht verschwand unter einer weiten Kapuze, die tief über die Stirn gezogen war.
Jorian wusste, wer der Neuankömmling war oder zumindest was er war. Er war ein Maegro, einer der mächtigen Hofzauberer des Königs selbst. Nur einmal hatte er einen von ihnen gesehen, aus der Entfernung, als seine Mutter ihn als kleinen Jungen mit in die königliche Bibliothek genommen hatte. Seitdem hatte er viele Geschichten über sie gehört und nicht alle davon waren schmeichelhaft. Es hieß, dass ihre Macht größer sei als die jedes anderen Sterblichen, einmal vom König abgesehen. Selbst den Tod sollten sie besiegen können, weshalb sie manchmal auch Totenzauberer genannt wurden. Jorian hatte das immer für Schauermärchen gehalten. Jetzt aber, als der Maegro sich mit seiner dunklen Präsenz ins Scrivorium hereinbewegte, war der Gedanke, es könne sich um mehr als nur um Märchen handeln, nicht mehr so abwegig, wenn auch gleichsam das Schaudern blieb.
Jorian blickte sich um und sah, dass auch einige der anderen Schreiber sich unbehaglich fühlten. Manche wandten sich ab und versuchten sich wieder ihrer Arbeit zu widmen, saßen dann aber nur da und starrten regungslos auf ihr Papier. Andere schauten immer noch in Richtung Tür. Ikani, die nur wenige Arbeitsplätze von ihm entfernt saß, warf ihm einen fragenden und verunsicherten Blick zu.
Der Maegro wechselte einige Worte mit Beotrum. Der nickte nervös, verbeugte sich und forderte den Maegro auf, ihm zu folgen. Gemeinsam schritten sie durch die Reihen der Arbeitsplätze. Jorian war froh, dass sie nicht direkt an ihm vorbeigingen. Er sah in das bleiche Gesicht Beotrums, der den Maegro auf die andere Seite des Scrivoriums und in das Büro von Tevius führte. Als sich die Tür hinter den beiden schloss, ging ein Aufatmen durch das Scrivorium.
Jorian spürte, wie das Gefühl der Müdigkeit und Schwäche von ihm abfiel, auch wenn es nicht gänzlich verschwand. Er hatte das Bedürfnis, aufzustehen und ins Sonnenlicht hinauszutreten. Als er auf den Brief blickte, verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen und er musste sich mit der Hand über die Lider fahren, um wieder klar zu sehen.
Er nahm die Feder zur Hand, aber seine Hand zitterte, als ob sein Arm von schwerem Tragen müde geworden wäre.
Gerade hatte er sich entschieden, tatsächlich aufzustehen und das Scrivorium für eine Weile zu verlassen, einen Schluck Wasser zu trinken und draußen ein wenig die Sonne zu genießen, als sich die Tür zu Tevius Arbeitszimmer erneut öffnete. Tevius blickte ins Scrivorium, blickte sich prüfend um und rief dann einen Namen.
»Ikani, kommst du bitte mal in mein Arbeitszimmer?«
Die junge Frau stand auf und warf den Umsitzenden einen nervösen Blick zu. Tevius wartete, bis sie das Arbeitszimmer erreicht hatte, dann schloss er die Tür hinter ihr.
Es war still geworden im Scrivorium. Jorian sah sich um und ahnte, dass er nicht der einzige war, der sich fragte, was im Arbeitszimmer vor sich ging. Niemand setzte seine Arbeit fort.
Nach einer Weile trat Ikani wieder aus dem Arbeitszimmer. Sie war blass und lief mit wackeligen Beinen zurück zu ihrem Arbeitsplatz. Als sie ihn erreicht hatte, hörte Jorian sie einen erleichterten Seufzer von sich geben. Er wäre gerne aufgestanden, um sie zu fragen, was der Maegro von ihr gewollt hatte, aber Tevius machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
»Jorian, kommst du mal bitte?«
Jorian stand auf. Fast vorsichtig lief er zwischen den Tischreihen zum Arbeitszimmer. Sein Herz begann zu klopfen und seine Hände wurden feucht. Er war sich sicher, dass er nichts zu befürchten hatte, aber trotzdem war ihm nicht wohl. Die Maegri führten manchmal Befragungen durch, hatte er gehört und das sollte für den Befragten alles andere als angenehm sein. Aber wieso sollte man ausgerechnet ihn befragen? Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Was wollte der Maegro? Und warum erst Ikani und jetzt er?
Ihm war fast schlecht, als er Tevius erreichte. Auch Tevius wirkte nervös. Er leckte sich über seine trockenen Lippen, als er die Tür zum Arbeitszimmer hinter Jorian zuzog.
Das Arbeitszimmer sah noch genau so aus wie bei seinem letzten Besuch, doch es wirkte weniger gemütlich. Der Maegro saß in einem der Sessel und sein großer und breiter Körper passte nicht zu der Form der Möbel. Seine Kapuze hatte er zurückgeworfen und darunter war ein kahler Kopf hervorgekommen, der im Vergleich zu seinem massigen Körper fast schmächtig wirkte. Seine Augen waren klein und lagen tief in den Höhlen und es war nicht möglich zu erkennen, wohin er schaute. Auch ihre Farbe hätte Jorian nicht beschreiben können. Sie wirkten wie zwei dunkle Flecken im sonst bleichen und fleischlosen Gesicht, in dem sich Haut über Knochen spannte.
Beotrum stand an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers vor einer der Bücherwände. Jorian musste ihm nur einen kurzen Blick zuwerfen, um zu erkennen, dass er sich nichts mehr wünschte als den Raum zu verlassen.
Als Jorian eintrat, nickte der Maegro ihm zu.
»Das ist Jorian«, stellte Tevius ihn vor und seine Stimme war unruhig und höher als sonst, »und Jorian, das hier«, er deutete auf den Maegro, »ist Maegro Kallvas. Er ist hier im Auftrag unseres geliebten Königs.«
Der Maegro lächelte dünn.
Jorian musste schlucken. Unter dem durchdringenden Blick des Maegros beschlich ihn erneut das seltsame Gefühl von Müdigkeit und Schwäche.
»Maegro Kallvas sucht jemanden, der ein Buch für ihn kopieren kann«, begann Tevius in Jorians Rücken erneut zu sprechen, »und er sucht jemanden mit bestimmten Voraussetzungen.«
»Voraussetzungen?«, wollte Jorian fragen, aber seine Zunge war schwer und wollte seinem Willen nicht folgen. »Voraus …?«, war alles, was er schaffte. Ihn fiel auf, dass er den Maegro gar nicht wirklich begrüßt hatte und neben die Müdigkeit und Schwäche trat die Angst, sich nicht angemessen zu verhalten.
»Sprichst du die alte Sprache?«, fragte ihn der Maegro. Seine Stimme war tief und leise und hatte etwas Bedrohliches an sich.
Jorian wollte sich räuspern, doch es misslang und er musste husten. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet, aber sie war leicht zu beantworten. Er konnte die alte Sprache nicht sprechen, aber ein wenig konnte er sie lesen. Stumm blickte er den Maegro an und ihm wurde klar, dass es für einen Hofzauberer des Königs sicher nicht reichen würde, es ein wenig zu können. Wenn er die Frage mit »Ja« beantworten würde, würde sein Gegenüber wohl davon ausgehen, dass er es besser konnte, als es bei ihm der Fall war.
»Nein«, sagte er heiser.
Der Maegro sah ihn durchdringend an und Jorian hatte mit einem Mal das Gefühl, ihn angelogen zu haben.
»Kannst du sie lesen?«
»Nein«, antwortete Jorian. Das stimmte zwar nicht ganz, aber Jorian wagte es nicht, die Wahrheit zu sagen. Seine Stimme war noch leiser geworden und nun kaum mehr als ein Flüstern.
Der Maegro nickte.
»Zeigt mir eine seiner Arbeiten«, sagte er zu Tevius gewandt.
Tevius nickte und machte sich daran, ein dünnes Büchlein aus dem Regal zu ziehen. Jorian erkannte es sofort. Es war die Kopie einer Sammlung von lustigen Texten, zusammen getragen von zwei Schwestern, Joka und Wema. Die beiden hatten eine Forschungsreise quer durch das ganze Land unternommen und dabei die Texte zusammengetragen, eigentlich um Jokas Kinder zu belustigen, die zu Hause auf sie warteten. Es war eine seiner früheren Arbeit, die Jorian für Tevius einmal erledigt hatte und sie war ein gutes Beispiel seines Könnens.
Maegro Kallvas blätterte durch das Büchlein. Hin und wieder hielt er inne, um einige Textpassagen zu lesen. Für einen Moment hatte Jorian den Eindruck, ein wehmütiges Zucken auf dem Gesicht des Maegros zu erkennen, das jedoch sofort verschwand.
»Sehr gut«, sagte der Maegro, als er fertig war. Er stand auf und reichte das Buch zurück an Tevius.
»Ihr besprecht alles weitere mit dem Jungen?«
Tevius nickte unterwürfig.
»Natürlich, natürlich.«
»Gut.«
»Beotrum wird Euch hinausbegleiten.«
Ein beinahe gequälter Ausdruck fiel in Beotrums Augen. Er nickte und löste sich aus seiner Position vor dem Bücherregal. Der Maegro wartete, bis Beotrum vor ihm das Zimmer verlassen hatte, zog sich dann seine Kapuze wieder über und folgte ihm hinaus. Tevius wartete noch einen höflichen Moment, dann schloss er die Tür beinahe ruckartig und stieß einen Seufzer aus. Jorian konnte ihm nachfühlen.
Tevius setzte sich an seinen Schreibtisch und wies Jorian an, sich ebenfalls zu setzen. Auch er wirkte angeschlagen, denn er hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest und blickte vor sich ins Leere.
»Also gut, dann an die Arbeit.«
Er griff nach einem Päckchen aus braunem Stoff und schob es hinüber zu Jorian.
»Das ist das Buch«, sagte er. Jorian wollte gerade danach greifen, als Tevius die Hand hob.
»Einen Augenblick noch.«
Zum ersten Mal seit er sich gesetzt hatte, blickte er Jorian an.
»Ich … es …«, begann er, brach dann ab und setzte erneut an, »Ich möchte dir noch einige Dinge sagen, bevor du deine Arbeit beginnst. Dieser Auftrag hat höchste Wichtigkeit Jorian, nicht nur für dich, sondern auch für mich und für das ganze Scrivorium. Ich erwarte, dass du dir größte Mühe gibst.«
Jorian nickte. Das tat er eigentlich immer. Es wunderte ihn, dass Tevius es besonders betonte.
»Hast du eine Idee, warum der Maegro wissen wollte, ob du die alte Sprache sprichst?«
Jorian schüttelte den Kopf. In Wahrheit hatte er eine Ahnung, aber sicher würde er erst sein, wenn er das Buch ausgewickelt und einen Blick darauf geworfen hätte. Vermutlich ging es darum, dass das Buch in der alten Sprache geschrieben war und der Maegro nicht wollte, dass er es verstand.
»Das ist gut«, sagte Tevius und rieb sich nervös die Hände, »das ist gut so.«
»Wieso lässt der Maegro es nicht von einem Hofschreiber kopieren?«
Tevius sah Jorian einen Moment schweigend an.
»Es gibt da anscheinend …« Tevius machte eine Pause, überlegte und schüttelte dann den Kopf.
»Die Angelegenheit ist etwas delikat, Jorian. Ich denke es ist am besten, wenn du dir keine Gedanken über das warum machst. Kopiere das Buch, so gut du kannst, das ist alles. Am besten sprichst du mit niemandem darüber, was du machst. Vielleicht arbeitest du ja auch lieber zu Hause als hier im Scrivorium.«
Jorian nickte. Das war ihm tatsächlich lieber, auch wenn ihm die unvollständigen Informationen, die Tevius ihm gab, nicht befriedigten.
Tevius zwang sich zu einem Lächeln.
»Weißt du, der Maegro hat nicht gesagt, wann die Kopie fertig sein soll, vielmehr schien es ihm wichtig zu sein, dass sie gut wird. Vielleicht … Ich denke, es ist das Beste, wenn du so arbeitest, wie du eben am besten arbeitest.«
Wieder nickte Jorian. Er verstand, was Tevius meinte.
»Was ist mit der Bezahlung?«, fragte er.
»Oh«, sagte Tevius und tat so, als ginge es um eine Beiläufigkeit. »Der Maegro wird über die Höhe der Bezahlung entscheiden, wenn du fertig bist.«
Jorian seufzte innerlich. Er hatte keine konkrete Zahl erwartet, aber eine ungefähre Angabe hätte ihm auch gereicht. Dazu war er sich sicher, dass Tevius nicht alles gesagt hatte, was er wusste und er ahnte, dass über die Bezahlung bereits mehr verhandelt wurde, als Tevius preisgab.
»Und der Brief?«
»Welcher Brief?«
»Der Brief der Laeda Alota Finegan, an dem ich arbeite.«
»Das wird jemand anderes weiter führen. Du erhältst die Bezahlung für die Seiten, die du bisher fertiggestellt hast.«
Damit war für Jorian alles geklärt. Er griff nach dem eingewickelten Buch, zog es an sich und wollte den Stoff, der das Buch umwickelte, entfernen. Tevius hielt ihn abermals zurück.
»Pack es zu Hause aus, in Ordnung?«
Jorian nickte, klemmte sich das Buch unter den Arm und stand auf. Als er an die Tür trat, hörte er noch einmal Tevius Stimme.
»Sprich mit niemandem über das Buch, in Ordnung?«
Abermals nickte Jorian, dann verließ er das Arbeitszimmer.
Im Scrivorium waren die meisten Schreiber wieder zu ihrer Arbeit zurückgekehrt, aber Jorian sah auch, dass einige Plätze leer waren, an denen kurz zuvor noch jemand gesessen hatte.
»Was hat er zu dir gesagt?«, fragte Ikani leise, als Jorian an ihrem Platz vorbeikam.
Jorian sah sie an.
»Nichts Besonderes«, antwortete er, »Ich soll etwas kopieren.«
Ikani verzog das Gesicht. »Und dafür dieser seltsame Auftritt? Mir wurde ganz anders, als ich in Tevius Arbeitszimmer war.«
Sie warf Jorian einen fast mitleidigen Blick zu.
»Ich bin fast froh, dass ihm meine Arbeiten nicht gefallen haben.«
Jorian wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Einen Moment stand er unschlüssig da, dann hob er die Hand zum Abschied. »Ich muss los.«
Ikani warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Jorian nickte. »Ich arbeite zu Hause weiter.«
Ikani sah ihn zweifelnd an, dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. »Na, dann mach es gut, Jorian.«
Ohne mit jemand anderem ein Wort zu wechseln, bewegte er sich Richtung Ausgang. Nachdem Beotrum ihm das Tor geöffnet hatte, trat er hinaus auf die schmale Gasse hinter dem Scrivorium. Er beeilte sich, auf die Hauptstraße zu gelangen, wo helles Sonnenlicht ihn empfing.
Eigentlich war ihm schon den ganzen Tag zu heiß gewesen, aber jetzt genoss er die wärmenden Strahlen der Sonne und die Reste der Müdigkeit fielen von ihm ab. Das immer noch umwickelte Buch lag schwer in seinem Arm. Jetzt, wo er hier im Licht stand, spürte er die Aufregung, die ihm über den Rücken bis in den Kopf stieg. Was für ein Buch war es, das er kopieren sollte? Und wie viel würde er verstehen? Unruhe gesellte sich zur Aufregung. Was, wenn der Maegro herausfand, dass Jorian Teile des Textes verstehen konnte? Er schüttelte den Kopf und verscheuchte ein Bild des Maegros, der gerade herausgefunden hatte, dass Jorian ihn angelogen hatte. Das würde nicht passieren. Wenn der Maegro jetzt nicht wusste, dass Jorian die alte Sprache ein wenig lesen und verstehen konnte, dann würde er es auch zukünftig nicht erfahren. Es war Zeit, sich auf den Heimweg zu machen, so schnell er konnte.
Zu Hause angekommen sah er zuerst nach seiner Mutter, doch sie war nicht da. Vermutlich arbeitete sie in der königlichen Bibliothek.
Dann ging er in den Garten zu Helma.
Sie hatte den Kopf auf die Seite gelegt und hechelte leise. Als Jorian zu ihr trat, wedelte sie schwach mit dem Schwanz. Eine Weile saß er schweigend bei ihr. Wenn es am Abend kühler wurde, würde sie vielleicht etwas mehr Kraft haben. Vielleicht konnte er dann eine kleine Runde mit ihr durch den Garten drehen. Jetzt aber konnte er nichts für sie tun. Er ging zurück ins Haus und setzte sich an seinen Arbeitstisch, auf welchem nun das immer noch in Stoff eingewickelte Buch lag.
Mit einem fast schon feierlichen Gefühl löste er den Faden, der den Stoff zusammen hielt.
Zum Vorschein kam ein dickes Leder eingebundenes Buch. Das Leder war schwarz und abgegriffen.
Das Buch war schmucklos und wies keine Verzierungen auf, wie es bei alten Büchern gewöhnlich der Fall war, keine verstärkten Ecken, keine Beschläge, nichts. Einzig der Titel stand in silbernen Buchstaben, die schon bessere Tage gesehen hatten, in der oberen Hälfte des Einbandes.
Deho Magyr
Unwillkürlich musste Jorian tief Luft holen und sein Atem zitterte. Um sich zu beruhigen, legte er seine Hände neben dem Buch auf den Tisch und atmete erneut ein und aus. Dann blickte er zurück zum Titel. Er wusste, was er bedeutete.
In den Überschriften und Titeln der alten Sprache war es üblich, Artikel und Adjektiv zusammenzuziehen. Das Wort ›Deho‹ bestand also eigentlich aus zwei Wörtern, ›de‹ und ›ho‹. Übersetzt hießen sie ›die hohe‹, ›der hohe‹ oder ›das hohe‹. Und ›Magyr‹ … Jorian bezweifelte, dass man tatsächlich die alte Sprache sprechen musste, um zu erahnen, wie das Wort zu übersetzen war. Es bedeutete Magie oder vielleicht auch Maegro. Ganz sicher war er sich dabei nicht, aber er vermutete, dass ihm der Inhalt des Buches weitere Hinweise geben würde. Der Titel des Buches konnte ›Die hohe Magie‹ oder vielleicht auch ›Der hohe Maegro‹ sein.
Seine Hände wurden feucht. Verärgert wischte er sie an seinem Hemd trocken. Wenn er sich nicht irrte, so lag vor ihm eines der Handwerksbücher der Maegri, ein Buch über Magie und Zauberei.
Mit einem Mal erschien es ihm recht seltsam, dass ausgerechnet er den Auftrag bekommen hatte. Wieso um alles in der Welt sollte ein Maegro ein solches Buch freiwillig abgeben? Jorian konnte sich nicht vorstellen, dass es nur darum ging, dass es Ärger mit dem Schreiber der Maegri gab. Eine Ahnung, dass hinter dem Auftrag, das Buch im Scrivorium kopieren zu lassen mehr steckte, als er wusste, beschlich ihn, ohne dass er den Gedanken wirklich greifen konnte.
Vielleicht irrte er sich auch, schließlich hatte er bisher nicht mehr gesehen, als den Titel. Möglicherweise handelte es sich bei dem Buch in Wirklichkeit um ein Geschichtswerk und er machte sich unsinnig viele Gedanken. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Buchdeckel mehr versprach, als der Inhalt halten konnte.
Jorian wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab herauszufinden, was für ein Buch es war, doch irgendetwas hielt ihn davon ab, es zu öffnen. Stattdessen schob er es beiseite und zog ein Blatt Papier hervor, nahm ein Tintenfässchen aus der Schublade und holte seine restlichen Arbeitsmaterialien aus seiner Tasche. Die ihm vertraute Tätigkeit half, die Gedanken aus dem Kopf zu bekommen, die auf ihn einströmten und seine Arbeit und vor allem auch das Verständnis des Textes nur erschweren würden. Erst als er alles vorbereitet hatte, nahm er das Buch erneut zur Hand. Einen Moment zögerte er noch, dann öffnete er den ledernen Deckel.
Jorian war sich nicht sicher, ob es an seiner Anspannung lag, oder an den erwartungsvollen Gedanken, die er sich gemacht hatte, aber als er den Buchdeckel anhob, hatte er den Eindruck, ein entferntes Geräusch zu hören. Es klang eigentlich nach nichts Besonderem und sicher hatte er es sich eingebildet, aber es hatte sich angehört, als ob jemand im Nebenzimmer geseufzt hätte. Unwillkürlich drehte er sich um, aber natürlich war niemand da. Das Haus war ruhig und still wie zuvor. Oder hatte sich doch etwas geändert? War das Zimmer nicht mit einem Mal irgendwie dunkler als zuvor?
Jorian schüttelte sich und musste grinsen. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der sich vor einer Spukgeschichte gruselte. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah das Grün der Blätter im Licht der Sonne. Dann wandte er sich wieder dem Buch zu.
Die ersten Seiten waren seltsamerweise nicht beschrieben. Jorian blätterte vor, bis auf einer Seite so etwas wie eine Widmung auftauchte. Sie war mit dünner Feder und zittriger Hand geschrieben.
Hem gretjo vis, Marli, in slendet Mol
Jorian überlegte, ob er die Widmung ebenfalls kopieren sollte und entschied sich dafür. Er begann damit, eine dünne Linie auf das vor ihm liegende Blatt zu ziehen. Dann wählte er eine Feder aus, deren Spitze in etwa so dünn war wie die Schrift der Widmung. Der Verfasser schien unkonzentriert gewesen zu sein, als er sie schrieb, oder aus anderen Gründen zittrig. Jorian beschloss, sie sorgfältiger aufzuschreiben, als der Verfasser es getan hatte. Er tunkte seine Feder in schwarze Tinte und schrieb den Satz nieder. Dann legte er die Feder wieder beiseite. ›Ich grüße dich, Marli, ein letztes Mal‹ war die Übersetzung, soviel verstand er. Eine eigentümliche Widmung, fand Jorian, es klang vielmehr wie ein Abschiedsgruß. Er zuckte mit den Schultern, legte das frisch beschriebene Blatt beiseite, nahm sich ein neues und blätterte die Seite um und stieß einen Seufzer aus. Auf der nächsten Seite begann der eigentliche Text. Er war schmucklos, was zwar nicht schön aussah, aber erst einmal weniger Arbeit bedeutete. Auch wirkte er weniger unsicher geschrieben als die Widmung, dafür waren die Buchstaben sehr klein und der Abstand zwischen den Zeilen sehr gering. Er zählte die Zeilen und las zweimal über den Text, um sich ein Bild davon zu machen, was er vor sich hatte. Dabei merkte er, dass sein Verständnis der alten Sprache doch viel schlechter war, als er es gedacht hatte. Er verstand nur wenig und wenn er auch nach der Widmung noch gedacht hatte, er könne das Buch einfach so herunterlesen, so wurde er nun eines Besseren belehrt. Die Art, wie der Text geschrieben war, machte es zusätzlich schwierig und anstrengend. Er wusste nicht genau, woran es lag, aber sein Blick sprang immer wieder zwischen den Zeilen hin und her. Vorsichtig blätterte er im Buch vor und ließ dann schneller werdend die Seiten durch seine Finger blättern. Was er sah, gefiel ihm nicht.
Das gesamte Buch war in der gleichen Art und Weise geschrieben, nur dass die Qualität der Handschrift weiter hinten noch mehr abzunehmen schien und auf den letzten Seiten schon stark dem zittrigen Ausdruck der vorderen Widmung glich. Auch gab es im Buch einige Zeichnungen. Sie zeigten einen Mann in verschiedenen Positionen und war mit Pfeilen kommentiert. Jorian betrachtete sie mit gemischten Gefühlen. Er konnte gut zeichnen, sie zu kopieren würde nicht schwer werden, zumal die Zeichnungen im Buch von jemandem gemacht worden waren, der es offensichtlich nicht gekonnt hatte. Sie wirkten recht funktional und wiesen keine Besonderheiten auf, abgesehen davon, dass der Zeichner dem Mann keine Augen gemalt hatte, oder vielmehr anstatt der Augen unpassend große dunkle Flecken gezeichnet hatte, die ihn wie eine Schauergestalt aussehen ließen. Er dachte an das Märchenbuch, dass seine Mutter ihm manchmal vorgelesen hatte und an die Trümmerzwerge und Grabkobolde, die darin vorgekommen waren. Abermals schüttelte er sich, blätterte zurück und las erneut die erste Seite.
Das Verständnis wurde zwar ein wenig besser, je öfter er die Seite las, aber gut war es immer noch nicht. Soviel er verstand, war das Buch in der Ich-Form geschrieben und schien eine Art Bericht oder so etwas wie eine Art nachträglich verfasstes Tagebuch zu sein. Es ging um einen Jungen, ein Haus, einen See. Den Zusammenhang konnte er sich nicht erschließen, auch wenn es ihm insgesamt kein erfreulicher Text zu sein schien. Er las Wörter wie ›Tjor‹ – Tod, ›halwag‹ – allein oder auch ›dunven‹ – dunkel. Schließlich begann er, die Seite zu kopieren. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort.
Es dauerte lange und als er mit der Seite fertig war, schmerzten ihm die Augen und der Kopf tat ihm weh. Draußen stand die Sonne bereits tief. Bäume und Gartenmauer warfen lange Schatten. Jorian stand auf, streckte sich, und beschloss, die Arbeit am nächsten Tag fortzusetzen. Sorgfältig räumte er seine Sachen zusammen, wickelte das Buch erneut in das braune Tuch ein und brachte es in sein Zimmer. Ein wenig wunderte er sich darüber selbst, denn normalerweise ließ er die Sachen, an denen er arbeitete, auf dem Tisch liegen, aber der irgendwie behagte ihm der Gedanke nicht. Nachdem er das Buch in dem kleinen Schrank neben seinem Bett verstaut hatte, ging er zurück und fühlte sich auf einmal gedrängt, die Abschrift ebenfalls wegzuschließen. Als er sie zum Buch in den Schrank geräumt und das kleine Türchen, das ihn schloss, verriegelte hatte, fühlte er sich zu seiner Verwunderung erleichtert.
Jorian ging in den Garten, wo Helma auf ihn wartete. Er half ihr auf die Beine und führte sie ein wenig im Garten herum. Wind kam auf und brachte einen angenehmen Geruch von Gewürzen mit sich und Jorian dachte an fremde und ferne Länder, die er bereisen könnte, wenn er irgendwann einmal das Haus seiner Mutter verlassen würde. Dann setzte er sich auf die Steinbank, die an der östlichen Mauer des Gartens stand und verbrachte den Rest des Tages draußen.
Er wusste nicht, woran es lag, aber als er später am Abend seiner Mutter eine gute Nacht wünschte und in sein Zimmer ging, um sich schlafen zu legen, beschlich ihn ein eigentümliches Gefühl. Er musste an das Buch in seinem Schrank denken und als er einschlief, hatte er höchst unruhige Träume.