Читать книгу Der Krimscher - Manfred A. Sahm - Страница 7

Оглавление

Was lange währt, wird endlich gut!

Deutsches Sprichwort

Erfolg nach 4 Jahrzehnten

Wenn eine Mordkommission wegen der Besonderheit eines Falles, eines gewaltigen Arbeitsaufkommens und der schon erwähnten Eilbedürftigkeit nicht mit dem Stammpersonal auskam, mussten schon immer Kräfte von anderen Kommissariaten oder Dienststellen zur personellen Verstärkung zugeordnet werden. Dazu gehörten in schöner Regelmäßigkeit auch sämtliche Kriminalanwärter, die dann, oft zum Unwillen ihrer jeweiligen Ausbildungsleiter, alles stehen und liegen lassen mussten / durften und keiner sagen konnte, wann sie wieder zurück sein würden.

Es war im Juni 1969, als auch mir als Kriminalanwärter diese »Ehre« zuteil wurde. Im Kreis Segeberg, nördlich der Hansestadt Hamburg, war im Vorgarten eines Hauses die Leiche einer 22-jährigen jungen Frau gefunden worden. Ihr Unterleib war entblößt, die Unterwäsche war zerrissen, sie war Opfer eines Sexualmörders geworden! Die Tatortarbeit war den fachkundigen taktischen und technischen Beamten der Mordkommission vorbehalten, wir als »Hilfskräfte« wurden bei der Absuche der näheren Umgebung des Tatortes und bei der Befragung der Anwohner eingesetzt. Auch diese Tätigkeiten waren nicht nur unumgänglich sondern auch dringend geboten. Derartige Befragungen trugen und tragen auch heute noch die treffende Bezeichnung »Klinkenputzen«. Wir gingen von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung, klapperten einen ganzen Ortsteil ab, teilten mit, was der Anlass unseres Besuches war und stellten immer wieder dieselben Fragen: »Haben Sie etwas gesehen? Können Sie sachdienliche Angaben machen? Wer wohnt noch bei Ihnen, den wir auch fragen könnten?«, denn wir konnten uns ja nicht auf die gerade anwesenden Personen beschränken.

Es war wie stets ein mühseliges Unterfangen, nicht immer trifft man jemanden an, weil viele Leute tagsüber zur Arbeit sind. Also – mehrfach versuchen! Überstunden waren vorprogrammiert, da wir oftmals erst am Abend zum Erfolg kamen. Während die Mordkommission weiterhin unermüdlich versuchte, einen Täter zu ermitteln, waren wir Anwärter relativ schnell wieder bei unseren Stammdienststellen. Selbstverständlich aber verfolgte ich den Fortgang der Ermittlungen, schließlich war ich ja auch »stolzes« Mitglied einer Mordkommission gewesen! Und das sogar schon am Anfang meiner Laufbahn.

Eine Erfolgsmeldung blieb leider für Monte aus. Wie hieß es so schön, aber lapidar: die Ermittlungen dauern an. Sie hatten u.a. ergeben, dass der Täter sein Opfer an einer Bushaltestelle traf und in seinem Fahrzeug mitgenommen haben musste. Wo er die junge Frau dann später tötete, blieb unbekannt. Die Rechtsmediziner stellten fest, dass sie vergewaltigt und erwürgt worden war. Hinweise, die auf einen Tatverdächtigen hindeuten könnten: Fehlanzeige! Auch wenn sie seinerzeit noch nicht einem Tatverdächtigen zuzuordnen waren, gab es immerhin eine Reihe von kriminaltechnischen Spuren, die gefunden und gesichert wurden. Sie wurden für den Fall aufbewahrt, dass irgendwann in der Zukunft ein Abgleich möglich sein könnte.

Stattdessen ein neuer Fall: im September 1969 meldeten Angehörige ihre 16 Jahre alte Verwandte als vermisst. In dem gleichen Gebiet des Mordes vom Juni war das Mädchen verschwunden. Da läuteten bei den Kriminalisten sämtlicher Dienststellen alle Glocken!

Dieses Verschwinden der jungen Frau wurde deshalb nicht nur als Vermisstensache bei der örtlich zuständigen Dienststelle bearbeitet, auch wurde sofort wieder eine verstärkte Mordkommission eingesetzt. Und wieder gehörten wir zu den Verstärkungskräften, also sämtliche Kriminalanwärter der Behörde.

Die 16-Jährige wurde zuletzt gesehen, als sie gegen 20.00 Uhr eine Diskothek verließ. Zeugen beobachteten sie zuletzt an einer stark befahrenen Durchgangsstraße, wo sie versuchte, als Anhalterin mitgenommen zu werden. Dass ein derartiges Verhalten sehr gefährlich sein konnte, war allgemein bekannt. Nicht nur die kriminalpolizeilichen Vorbeugungsratschläge, die Medien und auch die Eltern minderjähriger Kinder hatten ständig auf diese Gefahren hingewiesen. Damals war die Motorisierung von Disko-Gängern noch längst nicht auf einem mit heute vergleichbaren Stand. Und das Leistungsangebot des öffentlichen Nahverkehrs mit Bussen, Bahnen oder sogar »Disko-Bussen« ließ doch noch stark zu wünschen übrig! Taxis waren zu teuer.Also, was blieb? Trampen! Und es kam, was kommen musste: in einem der Fahrzeuge, das anhielt, saß ihr Mörder! Davon gingen nicht nur die eingesetzten Polizei- und Kriminalbeamten aus, in der Öffentlichkeit machte sich Unruhe breit!

Da aber bisher keine Leiche gefunden werden konnte, war es theoretisch aber auch denkbar, dass sie »nur« von zu Hause weggelaufen oder entführt worden sein könnte. Allerdings gab es keinerlei Aktivitäten, z.B. Erpresseranrufe möglicher Täter. Für ein Verschwinden aus eigenem Antrieb gab es ebenfalls keine Anhaltspunkte. Grundlos weggelaufen?? Sicher nicht, denn so eine Verhaltensweise passte nicht zu ihrer Persönlichkeit. Wir mussten von dem Schlimmsten ausgehen.

Was folgte, war eine groß angelegte Suchaktion bei jedem Wetter des beginnenden Herbstes in Wald- und Heidegebieten, und davon gab es reichlich viele und in Ausmaßen, die eine komplette Absuche fast unmöglich machten. Wir hatten manchmal das Gefühl, dass wir schon alle Bäume kannten und die Bäume und Sträucher uns. Trotz des monatelangen Einsatzes von Polizei-Hundertschaften und Suchhunden fand sich keine Spur des Mädchens. Auch meldeten sich trotz diverser Aufrufe im Fernsehen, im Rundfunk und in den Tageszeitungen keine Zeugen, die etwa Angaben zu dem Fahrzeug machen konnten, in das die Vermisste eingestiegen sein könnte. Auch die lobenswerte Hilfsbereitschaft der Bewohner der umliegenden Gemeinden brachte nicht den entscheidenden Hinweis. Unruhe und wohl auch Angst hatten sich in der Öffentlichkeit der betroffenen Gemeinden breit gemacht, so dass wir auf eine sehr große Hilfsbereitschaft stießen.

Es war und ist immer frustrierend, wenn über Monate trotz des Einsatzes von sehr vielen Beamten und einer umfangreichen Ausrüstung kein Erfolg zu verzeichnen ist. Jeder Einzelne und die gesamte Mordkommission stellten sich nicht nur in den täglichen Lagebesprechungen permanent die Fragen:

»Haben wir etwas übersehen? Lagen wir mit unserem Profiling der Täterpersönlichkeit richtig? Welche Maßnahmen könnten jetzt noch erfolgversprechend sein?«

Und irgendwann war es dann soweit, die Mordkommission wurde auch wieder aufgelöst. Bis auf wenige Ermittler, die »an dem Fall dran blieben«, gingen die übrigen Beamten wieder ihrem täglichen Routinegeschäft nach. Auch Raub, Diebstahl, Brandstiftung und der Zechbetrüger mussten bearbeitet werden!

Das änderte sich dann aber schlagartig, als nach knapp 8 Monaten spielende Kinder in einem Graben im Wald die teilskelettierte Leiche der bis dahin vermissten 16-Jährigen fanden. Ich muss dazu sagen – und das soll keine Entschuldigung sein –, dass bei den Ausmaßen und der Unübersichtlichkeit der Gelände eine 100-prozentige Absuche nahezu unmöglich gewesen war, und erst recht, weil es sich bei dem Fundort um eine sehr weit abgelegene Stelle in einer anderen Gemeinde gehandelt hatte. Schon der Anblick des Opfers bestätigte unsere damaligen Überlegungen, dass es sich um ein und denselben Täter handeln dürfte: er hatte die junge Frau teilweise entkleidet und ihre Bekleidung zerrissen! Eine brutale Vorgehensweise, die schon bei dem ersten Opfer festzustellen war. Und noch etwas bestätigte den Tatzusammenhang: Rechtsmediziner stellten Spuren einer Vergewaltigung und Tötung durch Einwirkung auf den Hals, durch Erdrosseln wahrscheinlich mit ihrer Strickjacke, fest. Wir hatten es also mit nur einem Sexualmörder zu tun!

Das Motto auch diesmal im Mai 1970 wieder: »Alles auf die Straße und in den Wald!« Dabei galt es nicht nur, Ermittlungen in diesem neuen Fall durchzuführen, sondern auch alle Ergebnisse der Befragungen, Vernehmungen, kurz sämtlicher Tätigkeiten auch mit den in vielen Leitz-Ordnern gesammelten Erkenntnissen des ersten Mordes an der 22-jährigen Frau vom Juni 1969 abzugleichen. Ich erinnere mich auch heute noch an den immensen Personalaufwand, mit dem wir versuchten, die aktuelle und auch noch die erste Tat aufzuklären.

Unruhe und Angst in der Bevölkerung, die schon beim Verschwinden festzustellen waren, wurden jetzt auf einen konkreten Grund zurückgeführt und verstärkten sich. Die schreibende Presse betitelte einen Artikel mit »Sommer der Angst«. Es war verständlich, dass derartige Taten das Sicherheitsgefühl der Menschen in der überwiegend aus kleineren oder größeren Dörfern bestehenden Region am nördlichen Stadtrand Hamburgs äußerst stark beeinträchtigten. Die ansonsten üblichen Verhaltensweisen wurden geändert, jeder versuchte mögliche Gefahrensituationen zu vermeiden. Kinder wurden zur Schule gebracht und wieder abgeholt, keine Frau spazierte abends oder nachts allein auf den Straßen, es herrschte breites Misstrauen besonders gegenüber Fremden . Und niemand wusste, ob nicht vielleicht der harmlose, immer freundliche und hilfsbereite Nachbar der Täter sein könnte. Diese Unruhe belastete ein bis dahin intaktes Gemeinschaftsleben und -gefühl.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Nicht nur einem beteiligten Beamten der Mordkommission entfuhr dieser Satz, alle dachten das Gleiche und sprachen es aus. Noch während die umfangreichen Ermittlungen andauerten, wurde im Juli 1970 in Langenhorn, einem Stadtteil der Hansestadt Hamburg, eine junge Frau vermisst. Sie hatte gegen 23 Uhr die U- Bahn an der Station Langenhorn-Markt verlassen. Langenhorn grenzt im Norden an Schleswig-Holstein und damit an die Region, in der wir wegen der beiden vorherigen Morde immer noch sehr aktiv ermittelten. Die Zuständigkeit für die Ermittlungen in diesem neuen Vermisstenfall lag allerdings bei der Hamburger Polizei, denn, wie hieß und heißt es auch heute noch: »Polizei ist schön und Ländersache«. Auch wenn gedanklich durchaus Tatzusammenhänge konstruiert werden konnten, war eine Übernahme des Falles durch unsere Mordkommission weder rechtlich möglich noch durch die fehlenden Ortskenntnisse tunlich. Allerdings wurden in einem sehr intensiven Informationsaustausch alle Fakten gegenseitig mitgeteilt und eine enge Zusammenarbeit praktiziert. Es wäre fatal gewesen, wenn es hier durch Defizite zu Ermittlungspannen gekommen wäre. Das musste durch ständige Besprechungen vermieden werden. Wir waren uns aber damals schon mit den Hamburger Kollegen einig, dass man ein mögliches Verbrechen als Ursache des Verschwindens nicht ausschließen konnte, es sogar sehr wahrscheinlich war. Dementsprechend umfangreich waren auch die Suchmaßnahmen angelegt. Aber sie brachten keinen Erfolg, die Vermisste blieb zunächst verschwunden.

Die Bestätigung unseres Verdachts erhielten wir im September 1970, als die Leiche der 22-Jährigen in Langenhorn auf Hamburger Stadtgebiet gefunden wurde. Sie lag zwischen der U-Bahn-Station und ihrer Wohnung an einem Trampelpfad in einem Gehölz. Durch die lange Liegezeit und den dadurch veränderten Zustand konnte zunächst keine Todesursache festgestellt werden. »Die Auffindesituation und der Zustand der Bekleidung sprechen eindeutig für ein Sexualdelikt« teilten uns die Hamburger Kriminalisten mit. Auch ihre Versuche einen Tatverdächtigen zu ermitteln, blieben leider erfolglos. Sie hatten mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen wie wir.

Meine Zeit, sich mit der Bearbeitung dieser Serie von Sexualmorden zu befassen endete zunächst. Ich war für die nächsten Monate aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und musste eine Fortbildung »mit beamtenrechtlichen Folgen«, wie es so schön in reinstem Amtsdeutsch hieß, absolvieren. Auf gut Deutsch: Ich wurde für die nächst höhere Laufbahn ausgebildet. Zum Glück hieß das nicht nur, in irgendwelchen Hörsälen den Bemühungen der Dozenten zu lauschen, die uns die jüngsten Erkenntnisse der Kriminalistik, der Kriminologie, der Kriminalpsychologie, der -soziologie und vieler anderer Unterrichtsfächer vermittelten. Das war nicht immer ganz einfach – für uns Lehrgangsteilnehmer! Wir waren es gewohnt, Aktivitäten »an der Front« zu entwickeln, haben den Stress, den die tägliche Arbeit natürlich mit sich brachte, als etwas Positives empfunden, egal ob auf den Knien in Wald und Heide, am Schreibtisch bei der Bewältigung der Papierflut oder im Umgang mit Zeugen oder Verdächtigen. Und jetzt saßen wir in Hörsälen und hatten mit der Müdigkeit zu kämpfen, wenn uns nach dem Mittagessen die Sonne auf den Rücken schien, die Augen zufielen und der Wunsch nach einem ordentlichen Mittagsschlaf unerfüllbar war!

Ich sprach vom »Glück«, das wir dennoch bei dieser theoretischen Ausbildung hatten. Unser Lehrgang war »Verfügungsmasse« für einen polizeilichen Großeinsatz, bei dem alle Teile der Landespolizei beteiligt werden mussten! Demzufolge endete die Ausbildung etwas früher. Ich darf erinnern: In der Zeit vom 26. August bis zum 11. September 1972 fanden die Olympischen Sommerspiele statt. Offiziell hießen sie »Spiele der XX. Olympiade«, die meisten Wettbewerbe fanden auf dem Olympiagelände in München statt. Die Wettbewerbe im Segeln dagegen wurden auf der Ostsee vor der Landeshauptstadt Kiel ausgetragen. Mit einem Kollegen war ich zum Personenschutz eingeteilt. Weltweite Prominenz – Präsidenten, Könige und andere Staatsoberhäupter, Minister und Regierungschefs – gaben »sich die Klinke in die Hand«; es war eine schöne Zeit, weil sie die Gelegenheit bot, an allen sportlichen und auch gesellschaftliche Ereignissen teilzunehmen. Gemeinsam mit den Personenschützern des Bundeskriminalamtes sorgten wir für die Sicherheit der VIPs, an Land, an Bord von Schiffen, bei Veranstaltungen. Viele von ihnen hatten wir dabei auch näher kennengelernt. Wir waren mitten in den Ereignissen und genossen die lockere, fröhliche Atmosphäre.

Diese an sich angenehme Situation änderte sich schlagartig, als am 5. September 1972 Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation »Schwarzer September« in das olympische Dorf in München eindrangen und ein folgenschweres Attentat verübten. Sie erschossen zwei israelische Sportler und nahmen mehrere als Geiseln. Ihre Forderung: Freilassung von Palästinensern, die in Haftanstalten in Israel einsaßen, und die Freilassung von Mitgliedern der sog. RAF (Rote Armee Fraktion / »Baader-Meinhof-Bande«), die sich in Deutschland in Haft befanden. Von diesem Zeitpunkt an war unsere Aufgabe, für die Sicherheit von Personen zu sorgen, erheblich erschwert! Die aktuelle Sicherheitslage war nicht nur durch die Tatsache, dass die zu schützenden Personen ihre eigene Situation kritischer einschätzten (ob sie tatsächlich Angst hatten?) und unsere intensiveren Maßnahmen gekennzeichnet. Die »schöne« Zeit war vorbei! Was folgte, war harte und verantwortungsvolle Arbeit. Der Ausgang des Dramas in Fürstenfeldbruck ist auch heute noch bekannt und wird leider als geschichtsträchtig in die Annalen der Olympischen Spiele eingehen. Mit der Schlussfeier der Olympischen Segelwettbewerbe im Olympiazentrum in Kiel-Schilksee endete auch mein Einsatz. Ich war dankbar für die Gelegenheit, an diesem Ereignis und dem Einsatz teilgenommen zu haben. Dann hieß es: Zurück zu den Heimatdienststellen.

Ich war wieder in meinem Kommissariat, dem es in der Zwischenzeit allerdings nicht gelungen war, in der Mordserie zu erfolgreichen, zielführenden Ergebnissen zu gelangen. Dasselbe galt auch für die Kriminalpolizei in Hamburg, auch die dortigen Kriminalisten mussten einen ungeklärten Fall verwalten.

Dafür lag dann der nächste Fall schon im Oktober 1972 (!) wieder in unserem Zuständigkeitsbereich! Und wieder hatten wir die Hoffnung, dass wir in diesem neuen Fall neue Erkenntnisse gewinnen konnten – denn aus den vorherigen Fällen ergaben sich absolut keine Ermittlungsansätze mehr. Und wieder waren wir »nicht aus den Klamotten heraus gekommen« wie wir es nannten, wenn man sein Zuhause und die Familie nur gelegentlich und allenfalls stundenweise zu Gesicht bekommt!

In diesem Oktober war es eine 15-jährige Auszubildende, die nach Verlassen ihrer Lehrstelle mit dem Fahrrad zu ihrem Elternhaus fahren wollte. Dort kam sie allerdings nie an! Aufgrund der Vorgänge in den vergangenen Monaten lag der Schluss nahe, dass auch sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Dass diese Vermutung traurige Gewissheit war stand fest, als bei einer groß angelegten Suche ihr Fahrrad und eine Einkaufstasche gefunden wurden. Das Mädchen selbst blieb verschwunden und wurde erst nach etwa 7 Monaten von Spaziergängern in einem Graben in einer anderen Gemeinde gefunden. Wie in dem ersten Fall 1969 war auch hier der Unterkörper entblößt. Der Täter hatte ihre Jacke um den Hals geschlungen und mit den Ärmeln verknotet – auch diese Art der Erdrosselung war uns bekannt! Es war eine traurige Wahrheit: auch in diesem Fall konnte trotz »übermenschlicher« Anstrengungen kein Tatverdächtiger namhaft gemacht werden. Alle Vergleiche mit Taten in ähnlicher Ausführung in anderen Regionen, Landkreisen und Bundesländern verliefen erfolglos. Auch die Überprüfung von durch Sexualdelikte bereits auffällig gewordenen Straftätern, ob es sich dabei um Vergewaltiger oder auch »nur« Exhibitionisten handelte, brachte keine Ergebnisse. Im Kreis der in den umliegenden Justizvollzugsanstalten »wohnhaften« Freigänger mit einer entsprechenden Vorgeschichte suchten wir ebenfalls vergebens.

Diese Ereignisse der letzten Jahre hatten nicht nur verschiedene Polizei- und Kriminaldienststellen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gebracht, sondern auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bis hinein nach Hamburg stark negativ beeinträchtigt.

Was hatten wir? Wir mussten von einem Serientäter, der sehr mobil war, ausgehen. Alle Opfer waren junge Frauen, alle lebten im nördlichen Großraum Hamburg. Alle wurden missbraucht und mit ihren eigenen Kleidungsstücken erdrosselt. Und alle wurden nach ihrem Tod an abgelegene Stellen, oftmals auch in anderen Gemeinden, verbracht. Diese deutlichen Übereinstimmungen wurden 1973 mit der Mordkommission der Hamburger Kriminalpolizei erörtert. Gemeinsam kamen wir zu dem Schluss, dass auch der Täter in dem Großraum seiner Taten zu finden sein müsste. Die kriminalistische operative Fallanalyse, bei der aus dem Erscheinungsbild der Straftaten, der Spuren und sonstiger Indizien Schlüsse gezogen wurden, war relativ präzise. Auch das Erstellen eines psychologischen Täterprofils, heute auch als Profiling bekannt, brachte ein eindeutiges Ergebnis. Beides führte dennoch leider nicht zur Ermittlung eines Tatverdächtigen. Aber: Wenn wir ihn denn hätten, könnten wir hervorragend unsere Ergebnisse mit seiner Persönlichkeit abgleichen! Ja, wenn, wenn! Es war – ich muss sagen: frustrierend – nach so vielen Jahren, Monaten und Tagen unermüdlicher Arbeit, die ich als Kriminalanwärter und später als Sachbearbeiter geleistet hatte, keinen Erfolg verzeichnen zu können. Der Großraum nördlich der Hansestadt Hamburg war uns fast schon zur zweiten Heimat geworden.

In den folgenden acht Jahren waren wir nicht beschäftigungslos, Tötungsdelikte gab es doch so einige, daneben mussten andere unnatürliche Todesfälle, Raub-, Sexual- und Brandstiftungsdelikte bearbeitet werden. Die Suche nach Vermissten, besonders intensiv nach vermissten Kindern, ergänzte unseren Aufgabenkatalog. Erstaunlicherweise aber war »unser« Sexualmörder nicht wieder aktiv geworden.Natürlich stellten wir alle uns die Frage nach dem Warum. Die Fragen, die wir trotz andauernder sporadischer Ermittlungen allerdings nicht beantworten konnten, gingen von einem Umzug in eine andere Region, ein anderes Bundesland oder gar ins Ausland oder einem längeren Aufenthalt wegen anderer Delikte in einer Justizvollzugsanstalt aus. Daran, dass der Täter inzwischen seinen Trieb unter Kontrolle gebracht haben könnte, wäre mit medizinischer Hilfe evtl. möglich gewesen; mochte aber so recht niemand glauben.

Die weitere Entwicklung musste dann ohne meine Beteiligung zu Ende gebracht werden.

Nach weiteren Aus- und Fortbildungen wurde ich in eine andere Behörde versetzt (wie es sich für einen »anständigen« Beamten von Zeit zu Zeit gehörte). Ich hatte weder die örtliche Zuständigkeit für den betroffenen Großraum noch die sachliche Zuständigkeit für die Mordserie. Mein Interesse daran aber blieb und ständig habe ich die in den kriminalpolizeilichen Informationssystemen verbreiteten Fälle zur Kenntnis genommen.

Und dann fanden zwei Schüler 1984, also 12 Jahre (!) nach dem letzten Mord , in einem Waldstück im Norden Hamburgs die Leiche einer 18-jährigen jungen Frau. Sie hatte wenige Tage zuvor versucht als Anhalterin zu einer Diskothek in einem Nachbarort mitgenommen zu werden.(Diskothek und Trampen! Werden die Menschen denn nie schlau? Offenbar nicht!) Die Frau wurde vergewaltigt und mit ihrem Schal erdrosselt! Auch diese Ermittlungen schienen aber aussichtslos zu sein, die taktischen Spuren endeten erfolglos. Die schreibende Presse, sprich: Tageszeitung, beendete einen Artikel ihrer äußerst umfangreichen Presseberichterstattung mit den Worten: »Wer für die Mordserie verantwortlich ist, bleibt vermutlich für immer ungeklärt«. Es schien die Fortsetzung einer unendlichen Geschichte zu sein! Alles, was dann weiter geschah, kenne ich nicht aus eigenem Erleben oder Mitwirken, sondern aus Gesprächen mit der zuständigen Mordkommission und natürlich aus den Medien.

Es konnten im letzten Fall kriminaltechnische Spuren vom Opfer gesichert und aufbewahrt werden. Von der Auswertung von DNA-Spuren war seinerzeit noch nicht die Rede. Dies änderte sich (zum Glück!) und ca. 40 Jahre Jahre nach der ersten Tat im Juni 1969 (ich war schon pensioniert!) wurde festgestellt, dass sich das damals gesicherte und aufbewahrte Spurenmaterial für eine DNA-Analyse eignete. Dieses neuartige Verfahren führte endlich zum Durchbruch, weil die Ermittler die Fälle immer wieder aufgerollt hatten und u.a. Speichelproben von den seinerzeit befragten und vernommenen Personen erhielten.

Der wissenschaftliche Abgleich bestätigte (über Umwege) eindeutig die Täterschaft eines 64-jährigen Mannes aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Taten. Er wurde mit dem Vorwurf der Täterschaft und den vorliegenden Beweisen konfrontiert, hatte daraufhin nicht nur den Mord von 1984 gestanden sondern »machte reinen Tisch« und gestand auch die vier vorherigen Morde.

Mit der Verurteilung durch das Landgericht Lübeck endete zugleich eine Zeit quälender Ungewissheit für die Angehörigen der Opfer und für das Sicherheitsgefühl in der Region.

Psychiater, Rechts- und Sexualmediziner, die als Sachverständige Gutachten erstellt hatten, bezeichneten ihn als »sadistischen Sexisten« der zwar Mängel in der Persönlichkeit aufwies , aber doch überwiegend schuldfähig war. Die Ergebnisse entsprachen unseren damaligen Feststellungen, die wir über unser Profiling und in den Fallanalysen erarbeitet hatten. Ich sagte ja: »Wenn wir ihn denn hätten!«

Nach über 40 Jahren endete die also doch nicht unendliche Geschichte. Die Frage aber blieb, was den Täter veranlasst hatte in den zwölf Jahren zwischen dem vierten und dem letzten Mord nicht mit seiner »bekannten Arbeitsweise« in Erscheinung zu treten. Hatte er sich vielleicht als Sexualtäter mit einer anderen Vorgehensweise unterhalb der Schwelle eines Mordes begnügt? Und hatten dabei die sachbearbeitenden Dienststellen diese Fälle zwar ermittelt, aber keine Zusammenhänge zu der Serie gesehen? Hatte er vielleicht eine Möglichkeit der legalen Befriedigung seines Sexualtriebes gefunden? Es ist müßig zu spekulieren.

So war letztlich auch unsere Arbeit nicht umsonst gewesen. Wie heißt es so schön? Mord verjährt nicht! Es wird immer wieder ähnliche Mordtaten geben, aber »unser« Täter wird dafür wohl nicht infrage kommen, nach Absitzen seiner lebenslangen Haftstrafe wird er hoffentlich schon zu alt sein!

Der Krimscher

Подняться наверх