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»Und das Unglück schreitet schnell.«

Friedrich von Schiller

NATO-Übung »Bold Guard«

Ich war gerade seit einem halben Jahr Kriminalkommissar – ein Titel, der bei manchen Menschen Respekt, bei anderen vielleicht auch Bewunderung auslöste - als mir ein herausragender Fall verantwortlich übertragen wurde.

Das schöne an unserem Beruf war die Tatsache, dass man Einblick in sämtliche Bereiche der Gesellschaft bekam und dabei Kenntnisse und Erkenntnisse erlangte, die der großen Mehrheit der Bevölkerung verschlossen waren. Wenn ich den Beruf als »interessant« bezeichnen würde, wäre er damit nur unzureichend beschrieben. Je nach Fall konnte er lehrreich, packend, instruktiv, spannend, reizvoll sein, weil die Inhalte und Ergebnisse stets unterschiedlich waren.

Lehrreich waren auf jeden Fall Tätigkeiten und Ermittlungen im Zusammenhang mit militärischen Ereignissen, Behörden und Dienststellen. Das Militär mit seinen Teilstreitkräften war ja kein Staat im Staate, sondern hatte sich in unserer Demokratie an die Gesetze und Rechtsvorschriften zu halten wie jeder andere Bundesbürger oder jede andere Institution auch. So konnte es durchaus geschehen, dass ein Kriminalkommissar einem ranghohen Militärangehörigen trotz des gewaltigen Besoldungsunterschiedes sagte, »was Sache ist«! Ich gebe zu, dass dies die absolute Ausnahme war, in der Regel war die zielgerichtete Zusammenarbeit positiv und von gegenseitigem Vertrauen und Verständnis geprägt.

Mit den schwimmenden Einheiten der Marine hatte ich allerdings schon praktisch seit dem Kindesalter Kontakte gehabt. Berührungsängste waren mir fremd. Ich wuchs in Kiel auf und habe in dieser Hafenstadt die ersten 25 Jahre meines Lebens verbracht. Kiel als Austragungsort des größten Segelereignisses der Welt, der »Kieler Woche«, zog jedes Jahr Kriegsschiffe aller Nationen und aller Größen an. Schon als Kinder waren wir in der Lage, Schiffstypen zu unterscheiden. Wir wussten, was einen Zerstörer von einem Versorgungsschiff unterschied, kannten Minensucher und Schnellboote, von U-Booten und Flugzeugträgern ganz zu schweigen. Und wenn die Schiffe für die Bevölkerung zur Besichtigung freigegeben wurden (heute würde man in modernem Deutsch »open ship« sagen), war es für alle Kieler »Buttjes« eine Selbstverständlichkeit, sich auf ihnen zu tummeln und zu versuchen, Kontakte zur Besatzung herzustellen. Die Aufenthalte auf den Schiffen übten eine Faszination wie kaum etwas anderes aus.

Zu den nationalen Militäreinheiten kamen in Deutschland seit dem Krieg auch militärische Verbände anderer souveräner Staaten. Ihre »Besuche« hatten allerdings nichts mit der Kieler Woche zu tun, Rechtsgrundlage für ihren Aufenthalt war das NATO-Truppenstatut, das sehr detaillierte Regelungen zu allen Fragen der Stationierung enthielt. Polizeiliche Eingriffe, Ermittlungen und andere Maßnahmen deutscher Behörden standen unter dem strikten Vorbehalt, den das Statut vorsah.

Dies zur Erklärung vorweg; doch nun zu dem eingangs genannten Fall, der uns zwang, sich nicht nur mit militärischen Strukturen unserer Bundeswehr, sondern auch mit dem riesigen Komplex »NATO« zu befassen. Hinzu kam — und das vereinfachte die Angelegenheit auch nicht gerade — dass sehr viel in der NATO-Sprache Englisch erledigt werden musste.

Im September 1974 führte das Hauptquartier der Alliierten Landstreitkräfte Schleswig-Holstein und Jütland, kurz HQ LANDJUT, in Schleswig-Holstein eine Korps-Gefechtsübung durch, die den Namen »Bold Guard«, auf Deutsch übersetzt »Kühne Wacht« trug. Dies war nicht nur das erste, sondern auch zwischen 1962 und 1999 das einzige multinationale Korps der NATO, an dem Dänemark, Deutschland und Großbritannien beteiligt waren. Während des Kalten Krieges gehörte zu den Hauptaufgaben u.a. die landseitige Verteidigung der Ostseezugänge, denn der »Feind« stand im Osten. Die Übung fand deshalb praktisch im gesamten östlichen Gebiet des Landes, von der dänischen Grenze bis hinunter zur Elbe statt. Beteiligt waren ca. 40.000 Soldaten, mehr als 10.000 Rad- und Kettenfahrzeuge, einige Dutzend Hubschrauber und 100 Flugzeuge aus Deutschland, Dänemark, Großbritannien und den USA. Es war ein gewaltiger Aufmarsch, den die Übungsleitung LANDJUT in den vielen Abschnitten zu bewältigen hatte, insgesamt die größte Volltruppenübung seit dem 2. Weltkrieg!

Neben großräumigen Aktivitäten der Heeresstreitkräfte auf dem Land und amphibischen Landungen waren es auch zwei Luftlandemanöver, die Aufmerksamkeit erregten und die in unserem örtlichen Zuständigkeitsbereich stattfanden. Während ein Absprung von Fallschirmjägern einer britischen Brigade damit endete, dass es »nur« 6 Verletzte gab, ca. 25 Springer aus Bäumen geholt werden mussten und es hier keinen Grund für ein (kriminal)polizeiliches Einschreiten gab, verlief der Absprung einen Tag später am 11. September bei Osterrade/Sehestedt am Nord-Ostsee-Kanal weniger glimpflich und führte zu einem Einsatz der Kriminalpolizei. Wir hatten unter Beachtung des NATO-Truppenstatuts Todesermittlungsverfahren einzuleiten.

Auch dieser Absprung in der Nacht zum 11. September war Teil der Gesamtübung und wurde u.a. von dem in Glasgow (Schottland) stationierten 15. Fallschirmjäger-Bataillon (ergänzt durch Kräfte des 4. Bataillons) durchgeführt. Die aus ca. 450 Mann bestehende Einheit hatte auf einem Flugplatz in Südengland ihre 13 Flugzeuge des Typs »Hercules« bestiegen. Zusammen mit 23 Lastenflugzeugen wurden dann die geplanten Absprung- und Abwurfgebiete (dropping zones) bei Osterrade im Direktflug angeflogen und nach einem etwa 2 ½ -stündigen Flug erreicht. In der Formation nahmen die dreizehn Maschinen mit den Fallschirmspringern die Spitze ein. Vorgesehen war, dass zunächst die Soldaten abspringen sollten, erst nach der letzten Maschine sollten die Lastenflugzeuge mit dem Abwurf der z.T. sehr schweren Lasten (Jeeps u.ä.) beginnen. Dazu gab es außerdem zwei räumlich getrennte Landeflächen, so dass man sich eigentlich nicht in die Quere kommen konnte! Die Flugzeuge flogen im Abstand von etwa 20 Sekunden, mit dem Aufleuchten eines grünen Lichts begann der Absprung, die Männer sprangen im Abstand von etwa einer Sekunde ab.

Zu dem, was dann folgte, hatte ein von mir später im Tatortwagen, einem fahrbaren Büro, vernommener Major des 15. Fallschirmjäger-Bataillons der britischen Streitkräfte detailliert Angaben machen können. Er selbst befand sich im Flugzeug Nr. 4; schon während des Absprungs hörte er Schreie. Und nicht nur das: Als er gelandet war, ging etwa 10 m neben ihm eine »platform«, eine Last nieder! Was war da oben los? Nicht nur die zeitliche Abfolge, auch die räumliche Zuordnung stimmte nicht! Für ihn galt es nach oben zu schauen, ob noch mehr kommt, um sich dann durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen zu können. So ein Durcheinander hatte er während seiner Dienstzeit als Berufssoldat noch nicht erlebt! Als die Sicherungskräfte bemerkten, dass die Lasten nicht das vorgesehene Ziel erreichten und zwischen den Springern landeten, schossen sie rote Lichtsignale. Daraufhin wurde der Lastenabwurf gestoppt. Alle abgesprungenen Soldaten trafen sich an einem Platz außerhalb der Absprung-bzw. Abwurfareale. Dort war schon zu hören, dass wohl einige ihrer Kameraden in den Kanal gesprungen waren. Nach dem Checken der Fluglisten wurde festgestellt, dass 6 Fallschirmjäger verschiedener Dienstgrade fehlten. Insgesamt waren 14 Soldaten in den Kanal »gefallen«, von denen acht lebend und einer nur noch tot geborgen werden konnten. Es fehlten also noch 5 Springer. Bei Tagesanbruch wurde mit allen verfügbaren Kräften der britischen Militäreinheiten und Hubschraubern sowohl auf dem Nordufer als auch dem Südufer nach den fünf Vermissten gesucht. Die Suche verlief ergebnislos, die Personen konnten weder auf freiem Feld noch im Wald sein. Die Fallschirme hätte man auf jeden Fall in den Baumwipfeln gesehen. Also blieb nur eine Möglichkeit: auch sie mussten sich im Kanal befinden. Die Suche wurde dann mit Polizeikräften, Hubschraubern, Kampfschwimmern und Minentauchern fortgesetzt und führte in den nächsten beiden Tagen zum Auffinden von vier Soldaten, der fünfte blieb zunächst noch vermisst. Nach der Anlandung wurden die Leichen und ihre Ausrüstung nur ordnungsgemäß besichtigt — ein Berühren ließen die britischen Dienststellen nicht zu. So war es z.B. nicht möglich, eine Identifizierung anhand der Erkennungsmarken, die jeder Soldat an einer Kette um den Hals trug, vorzunehmen. Es mussten Kameraden hinzugezogen werden, die die Verstorbenen zweifelsfrei identifizieren konnten. Jedem verunglückten Fallschirmspringer wurde ein Soldat zugeordnet, der ihn ab sofort ständig begleitete.

Bei keinem der Fallschirmspringer konnten äußerlich sichtbare Verletzungen festgestellt werden, die evtl. durch Schiffsschrauben verursacht worden waren. Dazu muss gesagt werden, dass der Schiffsverkehr im Nord-Ostsee-Kanal, international als »Kiel-Canal« bekannt, zur Absprungzeit nicht unterbrochen war. Eine Sperrung war zwar vom deutschen Militär angedacht, von den britischen Streitkräften aber nicht gefordert und von der Kanalverwaltung abgelehnt worden und somit unterblieben. Der Zustand der geborgenen Springer sprach gegen derartige Einwirkungen, es musste vielmehr von Tod durch Ertrinken ausgegangen werden, wofür auch der Zustand der Ausrüstung sprach. Es war offensichtlich allen gelungen, Verschlüsse zu öffnen und die Reißleinen ihrer Schwimmwesten zu ziehen. In keinem Fall waren die Schwimmwesten jedoch aufgeblasen! Arme und Beine waren in den Leinen der Fallschirme verwickelt, die Soldaten waren bis zur Unmöglichkeit, sich zu bewegen, praktisch gefesselt und hatten keine Chance, sich zu befreien. Keiner trug ein Messer, das es ihm ermöglicht hätte, die Leinen zu zerschneiden. Ich war immer davon ausgegangen, dass zur Ausrüstung eines Fallschirmspringers selbstverständlich ein Messer gehörte, wie es bei der Bundeswehr Standard war (auch wenn das Fallschirmjägermesser dort als Nahkampfwaffe bezeichnet wurde). Ich habe den Major auf diesen Umstand angesprochen, seine Antwort erstaunte und verblüffte mich: »Messer benötigen wir nicht, wir springen Punkt!« Er sagte dies im Brustton der Überzeugung, und ich dachte nur: »Oh, oh, das hat man ja wohl gesehen!« ohne es jedoch auszusprechen. Der fünfte Vermisste konnte fünf Tage später in etwa 2 km Entfernung geborgen werden; offenbar war er durch Schiffsschrauben-Bewegungen abgetrieben worden. Aber auch er befand sich in demselben Zustand wie seine anderen getöteten Kameraden und wies keine äußerlichen Verletzungen auf.

Die erforderlichen Ermittlungen im Hinblick auf deutsche Beteiligungen an den Vorbereitungen von Fallschirmabsprung und Lastenabwurf ergab, dass es hier zu keinen Versäumnissen gekommen war. Alle Sicherheitsmaßnahmen, die von britischer Seite als notwendig erachtet worden waren, wurden erfüllt und haben auch Wirkung gezeigt: von vierzehn im Kanal »gelandeten« Soldaten konnten acht unversehrt geborgen werden. Die Fehler, die zum zu frühen Absprung und zur Überschneidung von Absprung der Mannschaften mit Lastenabwürfen führten, waren bei britischen Militärinstitutionen zu suchen. Mein Schlussbericht, der mit den Todesermittlungsverfahren nicht nur an die zuständige Staatsanwaltschaft sondern auch auf diplomatischem Weg nach Großbritannien gesandt wurde, schloss mit den Worten: »Die Möglichkeit, die Ursachen des Unglücks im Bereich der britischen Streitkräfte zu ermitteln, war nicht gegeben«.

Ich hätte sehr gerne gewusst, was dort oben in der Luft, in den Hercules- und anderen Maschinen abgelaufen war. Zwei »suboptimale« Luftlandungen, davon eine mit schwerwiegenden Folgen, ließen zwar Schlüsse auf die Leistungsfähigkeit der britischen Armee in diesen Bereichen zu, es soll und kann hier aber nicht darum gehen, Spekulationen anzustellen. Das verbieten Ehre und Achtung vor den mutigen und den verunglückten »parachutists«.

Der Krimscher

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