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Kapitel 2: Ärger im Vatikan

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Vatikan

Riccardo wurde langsam wach. Ganz langsam. Nur keine hektischen Bewegungen. Vodka mit Orangensaft war ein herrliches Getränk. Zumindest abends. Am Mor­gen danach ist es furchtbar. Aber irgendetwas ist ja im­mer. Vorsichtig ging er zur Toilette. Nach einer ausgiebi­gen Dusche erwachten langsam wieder seine Lebens­geister. Die Betonung lag auf langsam. Der gestrige Abend war prima gewesen. Der größte Teil seines Ge­winnes beim Hundekampf war in die Taschen des Barkeepers und diverser netter Damen geflossen, aber dafür war Geld ja schließlich da. Man gönnt sich ja sonst nichts. Sein neuer Nebenjob entwickelte sich prima. Dreitausend Euro für ein paar Kopien waren mehr als akzeptabel. Dafür konnte ihm Herr Schmidt noch etliche Aufträge erteilen. Nachdem er sich angezogen hatte machte er sich auf den Weg zum Vatikan. Eigentlich hätte er sich ein Taxi leisten können, aber die frische Luft tat ihm gut. Der Posten am Tor nahm keine Notiz von ihm. Da es schon auf Mittag zuging, fiel er unter den Touristen nicht weiter auf. Nach einigen Metern scherte er aus der Touristenmasse aus und betrat ein Gebäude. Vor einer Tür blieb er stehen und zog seine Zugangskarte aus der Jacke. Nachdem er sie durch den Leseschlitz gezogen hatte, öffnete sich die Tür. Ab jetzt war er an seinem Arbeitsplatz registriert, dem Archiv des Vatikans. Aus einem Automaten zog er sich einen Kaffee, ging an seinem eigentlichen Arbeitsplatz vorbei und quetschte sich zwischen zwei Regalen durch. Dahinter stand eine zwar alte, aber trotzdem sehr bequeme Couch. Früher war es noch möglich gewesen so etwas ins Archiv zu schmuggeln. Aber bei den heutigen Überwachungsein­richtungen brauchte man an so etwas gar nicht erst zu denken. Er streckte sich auf der Couch aus und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Dass sein Schnarchen laut durch das Archiv schallte, bekam er natürlich nicht mit.

Als Martin aus dem internen Archivbereich in den vorderen, allgemeinen Bereich trat hörte er sofort das Schnarchen. Er schüttelte den Kopf. Als er seinen Dienst im Archiv vor zwei Jahren antrat, hatte er sich über so ein Verhalten noch aufgeregt und geärgert. Schließlich erfüllten sie im Archiv eine wichtige Aufgabe. Die Auflistung und Katalogisierung der alten Unterlagen waren zuvor nie richtig durchgeführt worden. Obwohl es immer Archivare gegeben hatte. Kein Wunder, bei so einer Arbeitsauffassung. Martin erinnerte sich an ein Gespräch mit Bischof Stepanus, dem verantwortlichen für das Vatikanische Archiv. Riccardo war die Priesterweihe aberkannt worden. Seine Leidenschaft für Hundekämpfe hatte ihn seine Karriere bei der Kirche gekostet. Der einzige Punkt der für ihn sprach, waren seine ungewöhnlichen Lateinkenntnisse. Um ihn aus der Öffentlichkeit zu nehmen wurde er ins Archiv berufen. Hier erfüllte er seinen Job mehr schlecht als Recht.

Martin hingegen war bereits nach einem halben Jahr im allgemeinen Archiv von Bischof Stepanus zum verantwortlichen Archivar ernannt worden. Das hieß, dass er auch Zutritt zum internen, nicht öffentlichen Teil bekam; dem sogenannten Geheimarchiv des Vatikans. Sein einziger Mitarbeiter blieb Riccardo. Der durfte allerdings den internen Bereich nicht betreten.

Martin ging zum Arbeitsplatz von Riccardo und begann die Einträge der letzten Tage zu kontrollieren. An den Aufzeichnungen und Inhaltsangaben war nichts aus­zusetzen. Wenn Riccardo arbeitete, dann auch vernünftig. Wenn! Martin begab sich in den hinteren Teil des Ar­chivs um einen Stapel neuer Dokumente zusammenzu­stellen, die er Riccardo auf den Schreibtisch legen woll­te. Als er mit den Unterlagen zurückkam beobachtete er, wie Riccardo einen Kalender abnahm und neben den Rechner legte. Als Riccardo ihn bemerkte, drehte er den Kalender hastig um und tat so als würde er nach einem bestimmten Datum suchen. Martin wiederum tat so als hätte er davon nichts mitbekommen. Er sprach gewohn­heitsmäßig mit Riccardo die nächsten Arbeitsschritte durch und ging dann wieder in den internen Teil des Ar­chivs zurück.

Aus irgendeinem Grund erinnerte er sich an die ersten Tage in dem inneren Archiv besonders gut. Bischof Stepanus hatte ihn in die bisherige Arbeitsweise des Vorgängers eingeführt. Leider hatte er nie die Gelegenheit erhalten, sich mit demjenigen persönlich zu unterhalten. Der Vatikan war mit dessen Arbeitsweise allerdings nicht zufrieden gewesen. Deshalb stellte man es Martin frei, sein eigenes System zu entwickeln. Eigentlich ein Traumjob. Die ersten Tage hatte er nur damit verbracht, dieses gewaltige Archiv zu erforschen.

Nach der Durchquerung der Sicherheitsschleuse fand man sich in einem gewaltigen Raum wieder. Eigentlich musste man schon Saal dazu sagen. Doch das war nur eine Art Verteiler. Hinter diversen Vorhängen oder ver­schiebbaren Regalen kam man in immer neue Räume. Oder man kam zu einer Treppe, über die man auf eine andere Etage oder Ebene gelangte. Meistens gab es kein elektrisches Licht. Auch die Luft war mehr als abgestanden. Martin war überzeugt, dass er damals Räu­me betreten hatte, in die vor ihm Jahrzehnte lang kein Mensch mehr einen Fuß gesetzt hatte. Und alle Räume waren voll. Während im allgemeinen Archiv zumindest auf den ersten Blick eine gewisse Ordnung herrschte, war dieser Begriff im internen Teil ein absolutes Fremdwort. Manchmal erinnerte ihn dieser Teil an eine alte Scheune, in die man alles gestellt hatte was aus dem Weg musste oder defekt war, aber zum Wegschmeißen zu schade gewesen wäre. Das, was hier einfach abgestellt worden war, repräsentierte einen Querschnitt durch die Jahrhunderte. Geschenke, die irgendwelche Gesandten oder Delegationen einem der verflossenen Päpste gemacht hatten. Goldschätze, die von alten Eroberungen stammten. Schreine von Heiligen, die aus der Mode gekommen waren, wahrscheinlich mit den zugehörigen Gebeinen. Kirchenutensilien und andere sakrale Gegenstände aus etlichen Epochen. Der Schatz irgendeiner unbekannten Dorfkirche, die ein Bischof seinem Kardinal zum Geschenk gemacht hatte um sich bei ihm einzuschmeicheln. Welchen Verlust er der Dorfkirche damit eventuell zugefügt hatte war uninteressant. Hauptsache Pluspunkte gesammelt. Aber es gab auch Beweise für die Verantwortlichkeit der Kirche an Kriegen, zum Beispiel der Kreuzzüge. Oder für Intrigen, Betrug oder was man sich sonst noch an Schlechtigkeiten vorstellen konnte. Alles sehr penibel dokumentiert. Irgendwo in der Hierarchie der Kirche musste es eine Gruppierung gegeben haben, oder vielleicht immer noch geben, die alle Aktivitäten der jeweiligen Päpste dokumentierte, insbesondere die negativen. Martin begann damals zu verstehen, warum dieser Teil des Archives der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden war und auch nie zugänglich gemacht werden durfte. So mancher Papst hätte seine Seligsprechung oder sogar Heiligsprechung bestimmt nicht verdient. Eigentlich hätte man ihn eher als Verbrecher einsperren müssen. Als Martin das richtig bewusst wurde, bat er um ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten Bischof Stepanus. Die Order, die Martin dann erhalten hatte, war ihm nicht sehr sympathisch gewesen. Der Bischof gab ihm sehr deutlich zu verstehen, dass seine Aufgabe die Dokumentation der Unterlagen war und nicht die Interpretation oder Bewertung irgendwelcher Vorgänge, egal wie alt sie schon waren. Martin hatte das wohl oder übel zur Kenntnis genommen. Ob er es guthieß ging den Bischof seiner Meinung nach nichts an. Seine Euphorie für die Kirche, die ihn dazu bewogen hatte, die Priesterlaufbahn einzuschlagen, hatte während seines Theologiestudiums schon einige Rückschläge erlitten. Durch seine Arbeit im Archiv, insbesondere im internen Archiv, hatte diese Euphorie noch so manchen Dämpfer erlitten. Deshalb konnte er Riccardos Verhalten auch nicht generell verurteilen. Schließlich kannte er dessen Lebensgeschichte nicht.

Im Prinzip machte Martin im internen Archiv nichts anderes als Riccardo im allgemeinen Archiv. Er suchte sich irgendwelche Unterlagen heraus und katalogisierte sie. Allerdings waren diese Schriftstücke meisten deut­lich brisanter als die Unterlagen aus dem allgemeinen Archiv.

Nach einiger Zeit angestrengten Arbeitens hatte Martin das Gefühl, für heute genug gearbeitet zu haben. Er gab die letzten Infos in seinen Rechner ein und be­schloss dann Feierabend zu machen.

Nachdem er im internen Teil die Beleuchtung abge­schaltet hatte, ging er zurück in den allgemeinen Teil des Archivs. Hier war nur noch die Notbeleuchtung aktiviert. Ein klares Zeichen, dass Riccardo seinen Arbeitsplatz bereits verlassen hatte. Durch Zufall fiel Martins Blick auf den Kalender, der jetzt wieder an der Wand hing. Er untersuchte die Rückseite. Dort waren eine E-Mail-Adresse und ein kryptischer Begriff notiert. Dieser Begriff war wahrscheinlich ein Passwort. Er widerstand der Versuchung, den Rechner von Riccardo noch einmal zu starten und diese Adresse aufzurufen. Man konnte ihn nicht unbedingt als einen Experten für Computer bezeichnen, aber ein solides Grundwissen hatte Martin schon. Deshalb war ihm klar, dass man sich vielleicht wundern würde, wer den PC hochfuhr, obwohl Riccardo nicht mehr eingestempelt war. Er schrieb sich die Daten auf und verließ das Archiv. Als Priester stand ihm im Vatikan ein kleines Zimmer zu. In der angrenzenden Bibliothek standen auch Computer, die er jederzeit benutzen konnte. Um sich dort einzuloggen, müsste er allerdings sein persönliches Passwort eingeben und damit wäre auch wieder nachvollziehbar, wer sich mit der ominösen E-Mail-Adresse anmeldete. Irgendetwas sagte ihm, dass er nicht den normalen Weg gehen sollte.

In seinem Zimmer tauschte er die Soutane gegen zivi­le Kleidung und machte einen kleinen Abendspazier­gang. Als er an einem Internetcafé vorbeikam meldete er sich dort anonym im System an und rief dann die unbe­kannte E-Mail-Adresse auf. Doch der Account war leer, nicht eine einzige Nachricht war vorhanden. Scheinbar war Riccardo doch misstrauisch geworden und hatte al­les gelöscht. Aber wieso hatte er dann nicht die Infor­mationen von dem Kalender entfernt? Vorsichtshalber rief Martin noch den Papierkorb des E-Mail-Postfaches auf. Siehe da, der war nicht gelöscht worden. Auch der Ordner mit den gesendeten Dateien existierte noch. Da­mit war es für Martin ein Leichtes, die letzte Korrespon­denz nachzuvollziehen. Ein gewisser Herr Schmidt war bereit, für spezielle Informationen, einen nicht näher ge­nannten Betrag zu bezahlen. Die gewünschten Informa­tionen bezogen sich auf einen Angriff auf ein Kloster im Jahre 1632 in Belgien. Entsprechende Unterlagen hatte Riccardo wohl finden können und an Herrn Schmidt ge­schickt. Scheinbar war auch die Bezahlung schon er­folgt, denn Riccardo bedankte sich für die schnelle Ab­wicklung. Allerdings hatte Herr Schmidt bereits einen neuen Auftrag erteilt: Er wollte wissen, für wen genau die Abschrift damals erstellt worden war und wer die „Ritter Christus“ seien, beziehungsweise waren. Au­ßerdem ging es noch um nähere Informationen bezüglich der Eigentumsrechte der Kirche an zwei Objekten in Antwerpen.

Martin überlegte ob er den gesamten Schriftverkehr löschen sollte. Eventuell konnte er auch das Passwort än­dern und würde Riccardo dadurch den Zugriff auf diese E-Mail-Adresse zumindest deutlich erschweren. Aber dann kam er zu dem Entschluss, dass das Ganze nicht seine Angelegenheit war und er sich da besser heraushal­ten sollte. Er druckte sich die Dateien allerdings aus und machte sich danach auf den Rückweg.

Noch lange, nachdem er schon längst im Bett lag, gingen ihm diese Dinge durch den Kopf. Die „Ritter Christus“ oder auch Soldaten Christi. Diese Begriffe wa­ren während seines Priesterseminars oft Gegenstand nächtelanger Diskussionen gewesen. Nach jeder Flasche Wein wurden die Spekulationen wilder und abenteuerli­cher. Irgendwann übermannte ihn dann doch die Müdig­keit.

Als Martin am nächsten Morgen ins Archiv kam war Riccardo schon intensiv bei der Arbeit. Martin begrüßte ihn nur kurz und ging dann in seine Abteilung. Irgendwie konnte er sich jedoch nicht richtig auf seine Arbeit kon­zentrieren. Die Nachrichten vom gestrigen Abend gingen ihm nicht aus dem Kopf. Speziell die Sache mit den Ei­gentumsverhältnissen.

Als er die Arbeiten im Archiv begann, hatte seine erste Tätigkeit darin bestanden, die bestehenden Inhaltsverzeichnisse und Suchlisten seiner Vorgänger in einer Datenbank zusammenzufassen und jeden Eintrag mit möglichst vielen Suchbegriffen zu verknüpfen. In dieser Datenbank suchte Martin jetzt nach der Abtei Sankt Michael in Antwerpen. Der Rechner fand einige Informationen. Unter anderem gab es auch eine Schenkungsurkunde aus dem Jahre 1650 und den Vermerk, wo im Archiv dieses Dokument aufbewahrt wurde. An der bezeichneten Stelle befand sich ein Regal mit vielen großen Holzkästen. An jedem der Kästen waren eine Notiz und eine Jahreszahl angebracht. Den Kasten mit dem Aufdruck 1649-1652 holte er heraus und stellte ihn auf einen Laufwagen. In dem Kasten befanden sich bestimmt weit über hundert Dokumente. Alle in lateinischer Sprache und alle gedruckt. Es fiel sofort auf, dass die Dokumente sich sehr ähnelten. Scheinbar das gleiche Papier, in etwa die gleiche Blattgröße und ein ähnliches Schriftbild. Martin kontrollierte stichprobenar­tig einige der anderen Kästen in dem Regal. Laut der Da­tumsnotizen handelte es sich um Dokumente aus der Zeit von 1625 bis 1660. Er konzentrierte sich wieder auf den Kasten auf dem Laufwagen. Nach einiger Zeit hatte er das gesuchte Dokument gefunden: Die Schenkungsur­kunde eines Ferdinand von Bayern, laut der die Abtei Sankt Michael sowie ein angrenzendes Waldstück an der Schelde dem Bistum Lüttich vermacht worden war. Die Schenkung erfolgte zum Seelenheil des Ferdinands auf seinem Sterbebett. Bestätigt von einem Mönch des Bis­tums Lüttich. Martin spielte kurz mit dem Gedanken, dieses Dokument mitzunehmen. Aber das wäre in seinen Augen Diebstahl. Doch eine Fotografie davon fertigte er sicherheitshalber an. Wenn man dieses Schreiben für sich alleine betrachtete, würde kein Zweifel an seiner Echtheit auftreten. Aber im Zusammenhang mit den wahrscheinlich tausenden gleichartigen Dokumenten sah die Sache doch ganz anders aus. Er sah sich den Kasten mit dem ältesten Datum noch genauer an. Aus diesen Dokumenten ging hervor, dass es sich um Probedrucke der neu errichteten päpstlichen Druckerei zu Ehren sei­ner Heiligkeit Papst Urban VIII handelte. Martin hatte genug gesehen. Er verließ diesen Raum und ging zurück zu seinem Arbeitsplatz. Irgendwie fand er es sinnvoll, die Verweise auf die Abtei aus der Datenbank zu löschen. Einmal pro Woche fertigte Martin von seinen Arbeiten ein Update an. Eigentlich wäre es erst morgen soweit gewesen. Aber durch seine Korrekturen würden die Bestände nicht mehr übereinstimmen. Vorsichtshal­ber löschte er seine letzten Suchanfragen aus dem Such­verlauf. Danach fertigte er, wie gewohnt auf zwei USB-Sticks, Kopien der Datenbank an. Einen tauschte er mit dem Stick im Tresor des Archivs aus, den anderen würde er nach Feierabend im Tresor der Schweizer Garde aus­wechseln lassen. Das Foto der Schenkungsurkunde be­fand sich auf seiner privaten Kamera. Würde er es an Riccardo weitergeben, würde er ihm und seiner Wettlei­denschaft wohl einen großen Gefallen erweisen.

Auf seine normalen Aufgaben konnte Martin sich heute nicht mehr richtig konzentrieren. In seinem Kopf kreisten zu viele Gedanken, die er erst einmal ordnen musste. Er wurde das Gefühl nicht los, in einem Buch zu lesen, das nicht für ihn bestimmt war. Ein Spaziergang an der frischen Luft würde ihm bestimmt guttun.

Bei seinem Spaziergang dachte er weiter über die geheimnisvollen Vorgänge nach. Es war ja früher nicht unüblich gewesen, dass man der Kirche einen Teil seines Vermögens vermacht hatte. Wahrscheinlich wurde das damals von einigen Priestern sogar forciert. Schließlich wollte keiner nach seinem Tod die nächsten Jahre im Fegefeuer verbringen, wenn es auch die Möglichkeit, gab sich von seinen Sünden freizukaufen. Martin musste lä­cheln. Da predigte die Kirche ein Leben in Demut und Frömmigkeit und sagte gleichzeitig, dass es eigentlich nicht schlimm sei, wenn man sich nicht daran hielte. Man kann sich ja ganz einfach später wieder von seinen Sünden befreien lassen. So gesehen könnte die Schenkung des Ferdinands von Bayern an die Kirche also durchaus rechtens gewesen sein. Wenn da nicht dieses ganze Regal mit den gleichartigen Dokumenten wäre. Angefertigt über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren. Also das Lebenswerk eines Priesters. Konnten das alles Fälschungen sein? Alleine würde er diese Fragen nicht klären können. Er würde eine Möglichkeit finden müssen, mit seinem Vorgesetzten darüber zu reden ohne Riccardo damit zu belasten. Doch nun wollte er erst einmal die frische Luft genießen.

Als Martin am nächsten Morgen das Archiv betrat wusste er sofort, dass irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen sein musste. Der Rechner von Riccardo war abgebaut und die Sicherheitstür zum internen Archiv war weit geöffnet, die normale Beleuchtung war einge­schaltet worden. Riccardo war nirgends zu sehen. Für solche Fälle gab es eine klare Richtlinie: Martin löste einen stillen Alarm aus. In der Sicherheitszentrale würde eine Meldung auflaufen und in wenigen Augenblicken würden die Gardisten hier erscheinen.

Martin betrat vorsichtig das interne Archiv. An seinem Rechner saß jemand, den er, zumindest vom Sehen her, aus der technischen Abteilung kannte. Daneben stand ein ihm unbekannter Mann in einer normalen Soutane. Außerdem war sein Vorgesetzter Bischof Stepanus anwesend. Allerdings machte der einen sehr zerknirschten Eindruck. Trotzdem wandte sich Martin an ihn und informierte ihn über den von ihm ausgelösten Alarm. Da drehte sich der unbekannte Mann um und herrschte ihn an:

„Was haben Sie? Alarm ausgelöst? Sind Sie wahn­sinnig? Wer gibt Ihnen das Recht dazu?“

„Es gibt gewisse Sicherheitsvorschriften für die­se Abteilung. Zum Beispiel dürfen sich Fremde nur in Begleitung eines Sicherheitsbeamten in diesem Teil des Archivs aufhalten. Und Sie sind ein Fremder.“

In diesem Augenblick betraten vier Gardisten und ein Offizier den Raum.

Der Offizier erkundigte sich, wer den Alarm ausgelöst habe. Martin wies auf den Fremden und sagte:

„Ich bin für dieses Archiv verantwortlich. Dieser Besucher ist mir nicht bekannt und ich bin auch von Bi­schof Stepanus nicht zuvor über einen Besucher informiert worden. Außerdem kann es nicht sein, dass jemand ohne mein Wissen einfach den Archivrechner abbaut, oder auch nur bedient. Die Daten auf diesem System sind schließlich nicht unbedingt für die Öffentlichkeit gedacht. Glücklicherweise habe ich gestern noch eine Sicherheitskopie angefertigt, die oben bei euch im Tresor liegt.“

Der Offizier forderte den Besucher auf, ihn zwecks Identifikation in sein Büro zu begleiten. Das lehnte der jedoch entschieden ab. Erst nachdem man ihm angedroht hatte, ihn sonst abführen zu lassen, begleitete er die Gardisten. Vorher befahl er dem Bischof noch auf ihn zu warten. Man konnte dem Bi­schof seine Nervosität ansehen.

„Martin, Sie haben sich vollkommen korrekt ver­halten. Das was Sie taten entsprach genau den Vorschrif­ten, die Sie von mir persönlich erhalten haben. Trotzdem haben Sie gerade den größten Fehler Ihrer Karriere begangen. Ich kann es Ihnen jetzt leider nicht erklären. Wenn Sie hier unten wichtige private Sachen haben, pa­cken Sie sie ein, auch wichtige Sachen aus Ihrem Zim­mer. Nehmen Sie sich außerhalb Roms ein Zimmer, am bestens als Tourist unter falschem Namen, und warten Sie bis ich Sie auf Ihrem Handy anrufe. Um Himmels willen beeilen Sie sich, fragen können Sie später.“

Martin sah den Bischof verständnislos an.

„Ich verstehe kein Wort. Wo ist überhaupt Riccardo?“

„Riccardo ist tot. Gestern Abend angeblich bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Verstehen Sie endlich! Ich versuche Ihnen alles später zu erklären. Aber machen Sie jetzt, dass Sie verschwinden. Sie sind hiermit offiziell beurlaubt.“

Noch immer verstand Martin nicht. Aber er sah die Panik in den Augen seines Vorgesetzten und begriff, dass es besser wäre, den Ratschlag einfach zu befolgen. Er ging in sein Zimmer, zog zivile Kleidung an, nahm seine Papiere und eine Reisetasche mit den wichtigsten Uten­silien mit und trat aus dem Gebäudetrakt. Dann mischte er sich unter die Touristen und verließ den Vatikan.

Bischof Stepanus blieb alleine im Archiv zurück. Ihm war selbstverständlich klar, dass Kardinal Rodrigos, denn um den handelte es sich bei dem Fremden, in wenigen Augenblicken wieder hier erscheinen würde. Ein Telefongespräch mit einem Kardinal der Kurie, und die Garde würde klein beigeben. Diesen kurzen Augenblick der Ruhe vor dem zu erwartenden Sturm wollte er genießen. Sein Blick ging langsam durch den internen Teil des Archivs. Bis auf den PC vor ihm hatte sich in den letzten zwanzig Jahren eigentlich nichts geändert. In Gedanken sah er sich als frischgeweihter Priester, der ehrfurchtsvoll die langen Regale ablief und nicht wusste, wo er mit seinem neuen Job anfangen sollte. Bis nach einiger Zeit auch bei dieser Arbeit die Routine eingesetzt hatte. Dokumente wurden ins Italienische und ins Englische übersetzt. Wichtige Sachen wurden an die Restauratoren weitergegeben. Unterlagen wurden aufgelistet und an einem markierten Platz eingelagert. Stepanus war der Jüngste von drei Archivaren, die unter Bischof Rodrigos für das allgemeine und das interne Archiv zuständig gewesen waren. Im internen Archiv durfte sich immer nur ein Archivar in Begleitung eines Gardisten aufhalten. Seinen beiden Kollegen waren die Arbeiten wohl zu eintönig geworden. Sie begannen Unterlagen, Dokumente und sogar kleinere Wertgegenstände nach draußen zu schmuggeln. Natürlich kam ihnen der Bischof auf die Schliche. Die beiden hatte er nie mehr gesehen.

Irgendwann stieß er damals auf ein Regal, in dem Unterlagen über die Gründer, die Santen und die Evanisten aufbewahrt wurden. Da er mit diesen Begriffen nichts anfangen konnte, unterrichtete er Bischof Rodrigos darüber. Der reagierte sehr ungewöhnlich: Der Raum wurde sofort separat abgesichert. Nur der Bischof hatte den Schlüssel zu diesem Raum und er verbrachte den meisten Teil seiner Zeit darin allein. Ab und zu waren sehr hochrangige Leute in seiner Begleitung. Doch um was es da ging, teilte man Stepanus nicht mit. Nach einiger Zeit kam Bischof Rodrigos immer seltener und dann gar nicht mehr. Schließlich wurde Stepanus zum Bischof befördert und zum Leiter des Archivs ernannt. Doch dieser Raum blieb auch jetzt noch für ihn gesperrt. Im Laufe der Jahre bekam er immer neue Mitarbeiter, die aber meist nicht lange blieben. Vor vier Jahren teilte man ihm Riccardo zu. Ein unzuverlässiger Mann aber ein Spezialist für Altlateinische Schriften. Zwei Jahre später kam Martin zu ihm. Damit hatte er zum ersten Mal einen Mitarbeiter auf den er sich verlassen konnte. Martin war es zu verdanken, dass sogar im Archiv die elektronische Datenverarbeitung Einzug hielt. Er genoss sein volles Vertrauen und bekam sogar die Genehmigung, sich im internen Teil alleine aufzuhalten. Von seinem früheren Vorgesetzten Bischof Rodrigos hörte Stepanus ab und zu noch Neuigkeiten. Seine Ernennung zum Kardinal und dass er eine spezielle Mission zu erfüllen habe. Die führte der Kardinal wohl auf sehr undiplomatische Art und Weise aus, denn er legte sich mit sehr vielen Leuten an, bekam aber immer von irgendwo Rückendeckung.

Am heutigen Morgen hatte er ihn zum ersten Mal seit etlichen Jahren persönlich wiedergesehen. Leider. Dass sie einige Jahre zusammengearbeitet hatten, und das eigentlich ganz gut, schien der jetzige Kardinal vergessen zu haben. Statt einer Begrüßung warf er ihm sofort eine schlampige und unqualifizierte Leitung des Archivs vor. Laut seiner Recherche seien geheime Unterlagen an die Öffentlichkeit gelangt! In seiner Begleitung befand sich ein Techniker, der auf Anordnung des Kardinals den Computer im allgemeinen Teil des Archivs untersuchte. Er konnte aber auf den ersten Blick keine Unregelmäßigkeiten feststellen und wollte die Anlage abbauen um sie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Danach untersuchte er den Rechner im internen Teil. Hier konnte er allerdings sofort eine klare Aussage treffen. Da der Rechner an keinem Netzwerk, auch nicht am Internet angeschlossen war, konnten von dort auch keine Informationen nach außen gelangen. Dass der Kardinal im Archiv eigentlich überhaupt keine Befugnisse irgendwelcher Art hatte, übersah er selbst geflissentlich. Und Stepanus war nicht in der Lage, den Kardinal in seine Schranken zu weisen. Das war der Zeitpunkt an dem Martin, und kurze Zeit später die Gardisten, erschienen. Martins Reaktion entsprach genau den Vorschriften. Doch das würde den Kardinal nicht daran hindern, Martin die Hölle heiß zu machen. Im Extremfall könnte es ihn seine Stellung im Archiv kosten. Doch das wollte Stepanus unbedingt verhindern. Deshalb hatte er dafür gesorgt, dass Martin verschwindet bevor der Kardinal zurückkommt. Außerdem nahm sich Stepanus vor, sich über den Kardinal zu beschweren. Nicht über den normalen Dienstweg, sondern bei seiner nächsten monatlichen Besprechung mit dem Papst persönlich.

Es dauerte länger als erwartet, bis der Kardinal in Be­gleitung des Offiziers wiederkam. Man sah ihm an, dass die Angelegenheit nicht so verlaufen war wie er sich das vorgestellt hatte.

„Ich befehle Ihnen, alle Arbeiten im Archiv un­verzüglich einzustellen. Ab sofort ist es untersagt, Kopien aus dem Archiv zu entfernen. Auch nicht als Sicherheitskopie in den Tresor der Garde. Veranlassen Sie sofort, dass man mir diese Kopie aushändigt. Und den unverschämten Archivar werde ich mir persönlich vornehmen. Darauf können Sie sich verlassen.“

Stepanus hatte mit einer ähnlichen Reaktion gerech­net. Doch er war nicht mehr bereit, sich von dem Kardi­nal so behandeln zu lassen. Auch wenn es sein ehemali­ger Vorgesetzter war.

„Kardinal Rodrigos, ich möchte Sie höflich, aber bestimmt darauf hinweisen, dass Sie in dem Archivbe­reich keinerlei Befugnisse mehr besitzen. Für die Vorge­hensweise hier unten trage ich persönlich die Verantwor­tung. Und ich bin der Meinung, dass die Sicherheitskopi­en, die das Resultat jahrzehntelanger Arbeiten darstellen, in dem Tresor der Schweizer Garde durchaus sicher auf­gehoben sind. Auch wenn, oder gerade weil, es teilweise sehr brisante Informationen sind. Schließlich wäre es un­logisch eine Sicherheitskopie neben dem Original aufzu­bewahren. Wie Sie gerade selbst sagten, sollten diese Kopien nur an sicheren Orten verwahrt werden. Deshalb bin ich auch nicht bereit, Ihnen eine Kopie davon auszuhändigen. Sorgen Sie bitte auch dafür, dass jemand den Rechner wieder ordnungsgemäß zusammenbaut. Eine Netzverbindung sollte aber nicht hergestellt werden solange nicht geklärt ist ob wirklich Informationen aus dem allgemeinen Archiv veröffentlich wurden. Noch ha­ben Sie nicht erklärt, wieso Sie überhaupt darauf gekom­men sind. Das würde bestimmt auch die Garde interes­sieren. Ehe ich es wieder vergesse, ich habe Sie schon mehrmals informieren lassen, mir die Schlüssel für die hinteren Räume im Kellergeschoss zukommen zu lassen. Am sinnvollsten wäre es, wenn Sie sie mir jetzt gleich geben. Sonst werde ich die Schlösser morgen aufbrechen lassen. Es kann nicht sein, dass in einem Objekt wie die­sem jemand Privaträume benutzt die nicht der offiziellen Verwaltung zugänglich sind.“

Je länger Stepanus redete, desto bleicher wurde der Kardinal. Er schien kurz vor dem Explodieren zu stehen.

„Das werden Sie noch bereuen.“

Dann drehte er sich um und stürmte aus dem Archiv. Der Offizier sah Stepanus an.

„Ich bewundere Sie! So hat ihm noch niemand seine Meinung gesagt. Hoffentlich ist Ihnen klar, dass sich daraus noch ein Nachspiel ergeben wird. Dieser Kardinal hat exzellente Beziehungen zur Kurie. Manchmal glaube ich, dass es im Untergrund Verbindungen gibt, die mehr zu sagen haben als selbst unser Heiliger Vater. Wenn ja, kann der Kardinal sie bestimmt ausnutzen. Aber ich wer­de Sie unterstützen soweit es in meiner Macht steht. Da spielt wohl der Konflikt zwischen alt und neu deutlich mit.“

„Danke. Dass die Angelegenheit damit noch nicht zu Ende ist, ist mir klar. Aber das Archiv ist mein Aufgabenbereich. Den verwalte ich nach meinen Vor­stellungen. Wenn ich meine Kompetenzen damit über­schreite, soll man mir das sagen, dann bin ich bereit, die entsprechenden Konsequenzen zu tragen. Aber solange passiert das, was ich für richtig halte und nicht, was je­mand anders möchte. Egal wer das ist. Was hat der Kar­dinal Ihnen eigentlich erzählt, dass Sie ihn ins Archiv ge­lassen haben?“

Der Offizier sah Stepanus erstaunt an.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich ihn eingelassen habe? Und was ist mit dem anderen Archivar? Er müsste doch schon lange hier sein.“

„Ich habe den Kardinal auch nicht ins Archiv gelas­sen. Dann scheint er wohl noch einen Schlüssel zu besit­zen. Riccardo, mein anderer Archivar hatte heute Nacht einen tödlichen Verkehrsunfall. Zumindest war das die Information, die ich von dem Kardinal bekommen habe.“

„Die Angelegenheit wird immer verworrener. Offiziell besitzen nur Sie und Ihr Archivar Martin einen eigenen Schlüssel. Was soll das übrigens mit Ihrem anderen Archivar? Wenn ein Angehöriger des Vatikans eines unnatürlichen Todes stirbt, wird normaler Weise immer der Sicherheitsdienst informiert!“

Stepanus bat den Offizier noch sich die verschlossene Tür in der unteren Etage anzusehen. Die war mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert.

„Damit wird es keine Probleme geben. Jeder mittelmäßige Schlosser hat das in wenigen Sekunden ge­öffnet. Wissen Sie was, ich werde Ihnen gleich jemanden schicken der noch ein richtiges Schloss zusätzlich an­bringt. Auch an der Tür zum internen Teil werde ich die Codierung ändern lassen. Außerdem lasse ich den Haupteingang heute Nacht bewachen. Morgen wird dann ein neues Schließsystem eingebaut. Es sollte mich sehr wundern, wenn dann noch unberechtigte Besucher hier eindringen können.“

Dieser Vorschlag beruhigte Stepanus ein wenig. Jetzt musste er nur noch Martin erreichen, um ihn mit der neuen Situation vertraut zu machen. Damit sah die Welt schon wieder ein wenig rosiger aus. Sogar in den unterirdischen Räumen.


Die Hüter des Sakraments Teil 3

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