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Kapitel 2: Ein neuer Anfang

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Über dem Felsenkloster der Santen hingen dunkle Wolken. Doch die hatten nichts mit dem Wetter in den Ardennen zu tun. Die Mitglieder des inneren Kreises gingen sich aus dem Weg. Jeder schob dringende Termi­ne und wichtige Angelegenheiten vor. Dem Abt gelang es nicht, ein klärendes Gespräch durchzusetzen und der misslungene Einsatz in Berlin hing wie ein schwarzer Schatten über allem. Schließlich übernahm Bruder Marcel den Part des Koordinators. Er war zwar nicht der ranghöchste Sante, aber er wusste, dass sein Wort großes Gewicht hatte. Ihm gelang es, den Abt sowie alle ande­ren Mitglieder des inneren Kreises an einen Tisch zu bringen. Damit erst gar keine Diskussionen entstehen konnten, ergriff er sofort das Wort.

„Meine Brüder, so wie es im Moment ist, kann es nicht weitergehen. Wenn der Kopf nicht gesund ist, können die Beine nicht laufen. Vor uns liegt ein riesiges Problem und wir sind nicht in der Lage diese Sache auch nur ansatzweise zu lösen. Stattdessen stecken wir unsere Energie in interne Machtkämpfe. Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, sondern Klartext sprechen. Das größte Problem liegt meiner Meinung nach bei Bruder Rolando. Es ist offenkundig, dass er in vielen Dingen nicht die gleiche Meinung vertritt wie unser Abt. Aber unsere Stärke liegt in der Einheit, und die muss wiederhergestellt werden. Deshalb soll Bruder Rolando jetzt und hier seine Sicht der Dinge offenlegen.“

Der nickte kurz und übernahm dann das Wort.

„Bruder Marcel, ich danke dir für diese offenen Worte. Eine Sache bei ihrem Namen zu nennen ist in diesem Kreis leider selten geworden. Und ich muss zugeben, dass ich in vielen Dingen nicht der gleichen Meinung bin wie unser Abt. Deshalb werde ich diese Gelegenheit nutzen, um meinen Standpunkt vor allen Brüdern zu erläutern.

Seit knapp zehn Jahren bin ich Mitglied des inneren Kreises. Als ich damals von der wahren Bestimmung der Santen erfuhr, war ich begeistert. Nach dem verschwun­denen Sakrament zu suchen sah ich ab sofort als meine Lebensaufgabe, ja meine Bestimmung an.

Als sich vor vielen Jahren die Hüter der Schöpfung nach dem Jesus-Experiment entzweiten und die Evanisten das Sakrament verschleppten, begannen wir, die Santen, damit, es zu suchen. Die damaligen Sakramentonen zogen durch die bekannte Welt, um auf ungewöhnliche Ereignisse zu achten, die einen Hinweis auf das Sakrament geben könnten. Wir entwickelten eine Geheimschrift. Laufend kamen Nachrichten aus aller Welt in unserem Orden an. Wir konnten viele Ereignisse erahnen und einige Vorteile daraus ziehen. Auch durch andere Dinge stärkten wir unsere Stellung und unsere finanzielle Unabhängigkeit. Sogar mit großem Erfolg. Unser Orden gewann an Einfluss und wurde reich. Sehr reich sogar. Das, was unsere Sucher an Infor­mationen zusammentrugen, war gewaltig. Jeder kann sich das in unserem Archiv noch heute ansehen.

Irgendwann wurde unsere Suche von Erfolg gekrönt: Wir hatten die Evanisten gefunden, auch wenn mehrere Jahrhunderte vergangen waren. Das Sakrament selbst hatte seine Spuren hinterlassen. Doch kurz vor dem er­sehnten Erfolg zerstörten die Evanisten ihr unterirdi­sches Versteck und löschten dabei auch sich selbst aus. Wir reden von dem Felsenkloster, in dem wir uns jetzt befinden. Es wurde damals von uns übernommen. Sofort begann man damit, die verschütteten Stollen wieder frei zu räumen. Doch es erwies sich als unmöglich. Für jede Tonne Gestein, die weggeräumt wurde, rutschten drei Tonnen nach. Viele unserer Brüder wurden damals ver­schüttet oder von den Gesteinsmassen erschlagen. Bis man diese Arbeiten einstellte. Dabei ist es bis heute ge­blieben. Auch die Sucher wurden nicht mehr ausge­schickt. Das Sakrament wich immer mehr in den Hinter­grund. Stattdessen trat die Verwaltung unseres Vermö­gens und der Ausbau der Beziehungen in den Vorder­grund.

Als vor zwanzig Jahren das Internet anfing an Bedeutung zu gewinnen, erkannte der Vorgänger unseres Abtes die Zeichen der Zeit. Er sorgte dafür, dass die Aufgaben der Sucher mit den Möglichkeiten des Internets wieder aufgenommen wurden. Und unser jetziger Abt ließ diese Form der Suche weiter ausbauen. Aber das ist auch die einzige Aktivität, die dazu noch stattfindet. Als ich vor einigen Jahren anfing, die alten Stollen mit modernen Hohlraum Detektoren zu untersuchen, wurde ich belächelt. Aber es war wenigstens ein Versuch! Wenn auch kein sehr erfolgreicher. Wir nennen uns auch heute noch die Hüter des Sakraments. Aber das ist mittlerweile doch nur noch Fassade. Das einzige, was heute noch an unsere Bestimmung erinnert ist, dass wir bei unseren monatlichen Meetings eine Mönchskutte tragen. Die können wir eigentlich vergessen. Was wir sind, ist eine Art Edelmafia. Die meisten von uns besitzen die belgische Staatsangehörigkeit. Ich darf daran erinnern, dass wir auf unserem letzten Meeting darüber diskutiert haben, welche Vorteile unser Orden hätte, wenn wir die belgische Regierung übernehmen würden und König Albert in den Ruhestand schickten. Das sind die Aufgaben, mit denen sich die Santen heute beschäftigen! Nicht die Suche nach dem Sakrament.

Und trotzdem haben wir nach all der Zeit wieder eine Spur entdeckt. Das im Zuge dessen innerhalb einer Wo­che zwei gravierende Fehler passiert sind, kann ich unse­rem Abt nicht vorwerfen. Bei der Planung des Einsatzes in Berlin war ich selbst stark beteiligt. Jeder hier weiß, dass Bruder Luc und ich sehr stark befreundet waren. Umso weniger kann ich verstehen, dass wir uns von ir­gendwelchen hergelaufenen polnischen Dorfganoven ha­ben vorführen lassen. Die haben einen Auftrag ausge­führt. Dass dabei zwei unserer Leute und die Person, um die es uns eigentlich dabei ging, getötet wurden, ist als unvermeidbar bezeichnet worden. Angeblich haben unsere Leute mit der Schießerei begonnen.

Was ich aber unserem Abt vorwerfe ist, dass die Sa­che nicht intensiv weiterverfolgt wird. Wir haben eine Spur, die uns zu dem Sakrament führen könnte. Aber die wird einfach ignoriert. Ich will nicht der neue Abt wer­den. Was ich will ist nach dem Sakrament zu suchen. Und nicht nur danach suchen, sondern es auch finden. Deshalb bin ich ein Sante. Geld und Macht können dabei sehr hilfreich sein. Das ist keine Frage. Aber das darf nicht zum Selbstzweck werden. Doch mit dieser Meinung scheine ich wohl ziemlich alleine dazustehen.“

Niemand sagte etwas. Dieser Vorwurf war eigentlich an jeden einzelnen gerichtet. Und insgeheim musste je­der Bruder Rolando Recht geben. Die Suche nach dem Sakrament rutschte immer mehr in den Hintergrund. Da­bei hatte man zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder eine Spur gefunden. Langsam begann eine Diskussion. Die Stimmung war eindeutig. Man gab Bruder Rolando Recht.

Dem Abt war klar, dass er jetzt aktiv werden musste. Sonst wäre seine Autorität in Frage gestellt. Und er hatte eine grandiose Idee. Dadurch wäre Rolando auf lange Sicht beschäftigt. Langsam erhob er sich.

„Bruder Rolando, ich danke dir für deine offenen Worte. Leider muss ich dir Recht geben. In der letzten Zeit haben wir unseren eigentlichen Weg verlassen. Und ich schließe mich dabei nicht aus. Es ist richtig, dass du uns das in aller Klarheit deutlich gemacht hast. Da es eine Spur von dem Sakrament gibt, möchte ich dich darum bitten, dich mit aller Kraft und mit allen unseren Möglichkeiten auf diese Spur zu konzentrieren. Du wirst alle Unterstützung bekommen, die du benötigst, von jedem der hier Anwesenden und besonders von mir. Mir ist klar geworden, dass ich einen Fehler begangen habe. Der muss gründlich korrigiert werden. Ich glaube, dass mir jeder hier zustimmen wird. Auch bei Bruder Marcel muss ich mich bedanken. Dass er uns hier an diesen Tisch geholt hat und mit seinen klaren Worten diese Aussprache ermöglicht hat, wäre eigentlich meine Aufgabe gewesen.“

Allen Beteiligten war ihre Erleichterung anzumerken. Jetzt konnte man wieder in Ruhe seinen eigenen Aufgaben nach­gehen. Die Suche nach dem Sakrament war bei Bruder Rolando in den besten Händen. Schon am nächsten Tag wollte er seine ersten Vorschläge präsentieren. Die dunklen Wolken über dem Felsenkloster schienen sich wieder aufzulösen und einer herrlichen Herbstsonne Platz zu machen. Als letzter verließ Bruder Marcel den Versammlungsraum. Keiner bemerkte den nachdenkli­chen Blick, mit dem er dem Abt hinterher sah.

Der Abt begab sich direkt in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Eigentlich konnte er stolz auf sich sein. Die Sache mir Bruder Rolando hatte er mehr als elegant gelöst. Der hatte sich in letzter Zeit mit zu vielen Sachen beschäftigt, die ihn nichts angingen. Nun hatte er eine wichtige Aufgabe und konnte ihm nicht mehr gefährlich werden.

Der Abt hatte die sechzig schon überschritten und wollte den nächsten Winter nicht in den Ardennen ver­bringen. Leider sah der Vertrag bei den Santen keine Rente vor. Deshalb hatte er sich selbst darum geküm­mert. Sein Plan stand ganz kurz vor der Ausführung. Mit dem nötigen Kleingeld konnte man in Argentinien einen unbeschwerten Lebensabend verbringen. Je stärker sich die anderen Brüder, insbesondere Rolando, mit der Su­che nach dem Sakrament beschäftigten, umso besser konnte er sich um seine eigenen Angelegenheiten küm­mern. Das Sakrament interessierte ihn jetzt genau so we­nig wie vorher.

Die Mitglieder des inneren Kreises trafen sich wie verabredet am nächsten Tag, um sich die Vorschläge von Bruder Rolando anzuhören. Der kam auch sofort zur Sa­che.

„Lasst mich mit einer kleinen Zusammenfassung beginnen. Der Grund für die aktuelle Spur des Sakra­ments ist das zweifache Auftauchen des ersten Schöp­fungsverses im Internet. Einmal auf der Internetseite der Holländerin und zweitens als Teil einer Collage auf dem Videoportal youtube. So haben wir davon erfahren. Aber wir waren nicht die einzigen. Die Kernfrage ist, wer hat noch davon erfahren? Für wen ist diese Infor­mation so wichtig, dass diese Aktion in Berlin gestartet wurde? Das kann nur jemand sein, dem unsere Schöpfungsgeschichte ebenfalls bekannt ist. Damit ist der Kreis von vorneherein sehr eingeschränkt.

Als erstes wäre die Kirche zu nennen. Uns ist seit lan­gem bekannt, dass es im Vatikan eine Abteilung gibt die sich Die Ritter Christus nennt. Diese Gruppe ist aus den ehemaligen Inquisitoren entstanden. Sie bekämpfen alles und jeden, der der Kirche schaden könnte. Auch diese Gruppe kämpft nicht mehr mit dem Schwert, sondern wird alle technischen Möglichkeiten ausnutzen, die es in unserer Zeit gibt. Zum Beispiel das Internet. Unsere Vor­fahren haben die brutale Vorgehensweise dieser Gruppe mehr als einmal erlebt. Aber der Einsatz in Berlin passt nicht dazu. Sie würden solch eine Aufgabe niemals an ir­gendeine Bande von Kriminellen delegieren, sondern sie selbst ausführen. Trotzdem stelle ich sie an die erste Stelle meiner Liste.

Als zweite Möglichkeit könnte ich mir die Evanisten vorstellen. Auch wenn sie eigentlich nicht mehr existie­ren dürften. Aber vielleicht konnten damals doch einige entkommen. Oder es waren Ordensbrüder, eventuell so­gar einer der Sakramentonen, zufälligerweise nicht im Kloster als es angegriffen wurde. Im Laufe der Zeit haben sie sich neu formieren können. Diese Möglichkeit sollten wir zumindest in Betracht ziehen.

Auch eine dritte Gruppe könnte ich mir vorstellen. Das Wissen über die Existenz des Sakraments zieht sich in Bruchstücken durch die gesamte Geschichte der Menschheit. Vielleicht gibt es noch andere, uns nicht be­kannte Reliquien der Schöpfer. Und eine uns nicht be­kannte Gruppe ist im Besitz eines Teils des alten Wis­sens. Genau wie wir suchen sie nach Spuren des Sakra­ments. Ich muss zugeben, dass diese Möglichkeit ziem­lich unwahrscheinlich ist, aber können wir sie deshalb einfach ignorieren?

Unser Problem ist, dass wir nicht wissen mit wem wir es zu tun haben. Darum müssen wir ihn aus der Reserve locken. Ihm einen Köder anbieten, den er nicht ignorieren kann. Wir werden die ersten zwei Verse der Schöpfungsgeschichte in einem Museum der Öffentlichkeit zugänglich machen!“

Einen Augenblick herrschte bestürztes Schweigen. Dann sprang Bruder Marcel auf.

„Das kann nicht dein Ernst sein. Wir bewahren dieses Wissen seit Jahrhunderten und jetzt willst du es einfach veröffentlichen? Bist du dir über die Tragweite deines Vorschlags im Klaren?“

„Ja, Bruder Marcel. Ich habe lange darüber nach­gedacht. Der Text alleine ist bedeutungslos. Seine Bri­sanz entwickelt er erst zusammen mit dem alten Wissen. Wenn man die Bedeutung dieses Textes kennt. Das wer­den wir natürlich nicht veröffentlichen. Wir besitzen fünf Originale und fünf Kopien. Jeweils ein Original und eine Kopie stellen wir dem Museum zur Verfügung.“

Jetzt schaltete sich Bruder Nicholas in die Diskussion ein. Seit dem Einsatz in Berlin war er sehr wortkarg ge­worden.

„Du wirst Recht haben. Die nackten Texte sind harmlos. Schließlich ist der erste Vers bereits in kurzer Zeit von über tausend Leuten gelesen worden. Eine Re­aktion erfolgte nur von denen, die über das entsprechen­de Hintergrundwissen verfügten. Ich nehme an, du meinst unser Museum in Brüssel? Dir ist bekannt, dass ich dort zum Vorstandsgremium gehöre?“

„Darauf beruht ein wesentlicher Teil meines Pla­nes.“

„Ich weiß noch nicht, wie dein Plan genau aussieht, aber ich befürchte, dass er einen Fehler enthält. Kurz nachdem der erste Teil zweifach im Internet veröffentlich wurde, werden zwei alte Originale in einem Museum ausgestellt. Das stinkt nach einer Falle. Wir sollten unsere Gegner nicht unterschätzen.“

„Genau über dieses Problem habe ich sehr lange nachgedacht. Ich glaube aber, dass ich einen akzeptablen Lösungsansatz gefunden habe. Die Details müssen wir jetzt gemeinsam erarbeiten.“

Dann erläuterte Bruder Rolando seinen bisherigen Plan. Manches wurde verworfen, andere Details ange­passt, aber nach einigen Stunden intensiver Arbeit ent­stand ein Plan, mit dem jeder einverstanden war. Man beschloss, dass er sofort umgesetzt werden sollte. Im einzelnen sah der Plan folgendermaßen aus: Eine nicht näher bekannte Person würde sich mit dem ägyptischen Museum in Brüssel in Verbindung setzen. Sein Ansprechpartner ist eines der Vorstandsmitglieder. Er erklärt, er hätte durch Zufall im Internet eine Collage gefunden, über die ein sakraler Text gelaufen sei. Dieser Text wäre ihm sehr bekannt vorgekommen. Sein Großvater hätte nach dem zweiten Weltkrieg aus Deutschland eine Kiste mit altertümlichen Tafeln mitgebracht. Seine Kriegsbeute. In dieser Kiste wären, neben den Tontafeln, Übersetzungen in lateinischer und altdeutscher Schrift. Daher kannte er diesen Text. Da diese Kiste schon seit Jahrzehnten auf dem Dachboden gestanden hätte, würde er dem Museum gerne zwei Tafeln zur Verfügung stellen. Sie sollten dort untersucht werden. Vielleicht besaßen sie ja einen gewissen materiellen Wert. Auf der Internetseite des Museums sollte so eine kurze Notiz über diesen Vorgang erscheinen und in der Fachpresse würde erwähnt werden, dass die zwei Tafeln für vier Wochen während der normalen Besuchszeiten besichtigt werden könnten. Die Vitrine sollte natürlich besonders geschützt werden. An dieser Vitrine würde eine Kamera angebracht, die jeden Besucher fotografierte. Diese Fotos würden direkt ins Kloster überspielt. Bruder Nicholas hätte dadurch die Möglichkeit, sich jeden Besucher anzusehen. Vielleicht erkennt er ja die beiden Leute aus Berlin wieder? Vor dem Museum sollten Leute aus der Sicherheitsabteilung postiert werden, die bei Bedarf sofort eingreifen könnten. Dann konnte man nur warten und hoffen.

Einzig Bruder Marcel fiel bei der Besprechung auf, dass der Abt sich nicht aktiv an der Diskussion beteiligt hatte. Er segnete die Aktion zwar ab, aber das war es dann auch schon.

Am nächsten Tag liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren an. Nachdem man eine diebstahlsichere Glasvitrine mit der Kamera präpariert hatte, begaben sich der Abt und Bruder Rolando in die heilige Kammer. Dort wurden unter anderem auch die Tontafeln mit den Versen der Schöpfungsgeschichte aufbewahrt.

Diesen Zeitpunkt hatte Bruder Marcel abgewartet. Er schien der einzige zu sein, dem das veränderte Verhalten ihres Abts in der letzten Zeit aufgefallen war. Eigentlich war er dem Abt mehr als treu ergeben. Aber seit einiger Zeit hatte der Abt sich verändert. Da zu seinen Aufgaben auch die allgemeinen Arbeiten im Felsenkloster gehör­ten, besaß Bruder Marcel einen Generalschlüssel. Der passte auch zum Zimmer des Abts. Einen Moment zö­gerte er. Das was er jetzt vorhatte, war mehr als ein gro­ber Verstoß gegen die Privatsphäre. Aber das Felsenklos­ter war seine Welt. Und er war überzeugt, dass je­mand seiner Welt schaden wollte. Deshalb musste er handeln. Entschlossen betrat er das Zimmer des Abtes. Oft schon war er hier gewesen. Das, was er suchte, konnte nur in dem einzigen Schrank sein, der in diesem Zimmer war. Als er die Schranktür öffnete, fiel sein Blick sofort auf einen Aktenkoffer. Obwohl er sich nicht darüber im Klaren gewesen war, wonach er suchte, wusste er, dass er es gefunden hatte. Der Aktenkoffer enthielt Reisepäs­se und Ausweise von mehreren Staaten. Die Passbilder sahen dem Abt sehr ähnlich. Man musste sich nur den Bart wegdenken und die Frisur und Haarfarbe ändern. Einige Bündel mit Dollarscheinen passten zu dem Kofferinhalt. Ein Bahnticket der SNCB sah sich Bruder Marcel genauer an. Es war auf nächsten Sonntag datiert. Eine Platzkarte für den Nachtzug von Brüssel nach Rom. Die Daten notierte er sich. Dann stellte er alles wieder an seinen Platz und verließ das Zimmer. Er konnte es nicht glauben. Sein Abt wollte die Santen verraten. Seine Familie. Das konnte er unmöglich zulassen.

Freitags waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Die Vitrine mit den Tontafeln war aufgestellt, die Inter­netverbindung stand und vor dem Museum war ein Wohnmobil geparkt, indem die Sicherheitsleute der San­ten als Einsatzreserve postiert waren. Auf der Internetsei­te des Museums und in diversen Fachzeitschriften gab es einen kurzen Bericht. Ab Samstag könnte jeder Besucher sich die beiden Tontafeln ansehen. Die Resonanz hielt sich allerdings in Grenzen.

Bruder Nicholas saß den ganzen Sonntag vor den Monitoren und sah sich die Leute an, die sich für die Tontafeln interessierten. Ansonsten kehrte Ruhe in das Felsenkloster ein. Es war schließlich Wochenende. Am späten Nachmittag entschuldigte sich Bruder Marcel bei dem Abt. Er würde sich gerne zurückziehen. Sein Rheu­ma mache ihm zu schaffen. Doch er ging nicht in sein Zimmer sondern in den Gartenpavillon. Dort zog er sich um und verließ das Felsenkloster durch eine kleine Gartenpforte. Nach einiger Zeit zog sich auch der Abt in sein Zimmer zurück. Auch er verließ das Kloster heimlich.

Am späten Abend betrat ein älterer Mann den Haupt­bahnhof in Brüssel. Seine Kleidung war ziemlich altmo­disch. Einem genauen Beobachter wäre aufgefallen, dass er einige Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren. Schließlich betrat er die Abfertigungsgleise für die Inter­cityzüge. An der Wagenstandanzeige hielt er noch ein­mal einige Minuten an und verschmolz dann in der Dun­kelheit mit dem Wartehäuschen. Kurz bevor der Nacht­zug nach Rom eintraf, betrat noch ein Reisender das Gleis. Er ging bis auf die Höhe des Warteraumes. Dann stellte er seine Reisetasche und einen Aktenkoffer ab. Über die Lautsprecheranlage wurde die Einfahrt des Zu­ges durchgegeben. Als der Zug einfuhr, trat die Gestalt aus dem Schatten und stellte sich neben den wartenden Reisenden.

„Hallo Bruder Abt. Ich wünsche dir eine gute Reise.“

Die Auswertung der Überwachungskameras ergab folgenden Tathergang: Das Opfer stand am Gleisrand. Als der Zug einfuhr, trat eine zweite Person aus dem Schatten des Warteraumes. Es fand ein kurzes Gespräch zwischen den beiden Männern statt. Dann stieß der Täter sein Opfer vor den Zug. Da sich auf dem Gleis um diese Uhrzeit fast keine Leute befanden, blieb die Tat unbe­merkt. Der Täter nahm das Gepäck des Opfers mit und verließ das Bahnhofsgebäude. Er war auf keiner der Aufnahmen auch nur annähernd zu erkennen. Auch das Opfer konnte nicht mehr identifiziert werden. Der Vor­fall stand montags in der Zeitung und war dann schnell wieder vergessen.

Bruder Marcel rief die Mitglieder des inneren Krei­ses der Santen am Montagmorgen zu einer wichtigen Be­sprechung zusammen. Bis auf den Abt waren alle schnell eingetroffen.

„Meine Brüder, ich habe sehr schlechte Nach­richten.“

Bruder Nicholas deutete an, dass es wohl sinnvoller wäre, noch auf den Abt zu warten. Doch Bruder Marcel sprach weiter.

„Das Warten würde sich nicht lohnen“

Dann begann er zu erzählen. Von seinen ersten Ver­mutungen, seinem ersten Verdacht und der Bestätigung. Und von seiner Aktion in der letzten Nacht. Er schloss mit den Worten:

„Ein Sante verlässt seinen Orden nur auf einem Weg. Diesen Weg ist er gegangen.“

Nach den Worten von Bruder Marcel herrschte läh­mendes Schweigen. Als erster fasste sich Bruder Nicho­las.

„Das sind ungeheuerliche Vorwürfe. Ich kann nur hoffen, dass du sie beweisen kannst.“

Bruder Marcel deutete auf die beiden Gepäckstücke.

„Überzeugt euch selbst. Danach könnt ihr euch ein Urteil über meine Tat bilden.“

Bruder Rolando und Bruder Nicholas untersuchten die Reisetasche und den Aktenkoffer. Doch das, was sie fanden, war mehr als eindeutig. Diverse Reisepässe und Ausweise auf den Namen Rodrigo de Silva. Das Inter­essanteste war jedoch ein Notizbuch, geschrieben in der alten Sprache der Santen. Während sich Bruder Nicholas mit dem Notizbuch beschäftigte, recherchierte Bruder Rolando im Internet nach dem Namen Rodrigo de Silva. Schnell wurde er fündig. Über eine französische Makler­firma hatte ein Rodrigo de Silva vor einem halben Jahr ein Luxusanwesen in Argentinien erworben. Kaufpreis rund zehn Millionen Dollar. Die Adresse stimmte mit den Daten in dem argentinischen Pass überein. Auch Bruder Nicholas fand sehr schnell interessante Informa­tionen. Auf diversen Konten in verschiedenen, meist südamerikanischen Banken waren insgesamt fast einhun­dert Millionen Dollar verteilt. Alle relevanten Daten standen codiert in dem Notizbuch. Damit waren auch die letzten Zweifel erloschen. Bruder Marcel wurde von al­len Mitgliedern des inneren Kreises einstimmig entlastet. Er wurde mit der Aufgabe betreut, alle Vorbereitungen für die Wahl eines neuen Abtes zu treffen.

Durch die aktuellen Ereignisse geriet die Überwa­chung der Vitrine mit den beiden Versen der Schöpfung ein wenig ins Hintertreffen. Vielleicht wäre Bruder Ni­cholas aufgefallen, dass einer der Besucher eine gewisse Ähnlichkeit mit *Jack the Hacker* hatte. Und vielleicht hätten die vor dem Museum postierten Sicherheitsleute diese Person weiter überwachen können.




Die Hüter des Sakraments Teil 2

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