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Kapitel 3: Das Sakrament

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In dem Londoner Kloster der Evanisten fand die täg­liche Besprechung statt. Alle Sakramentonen und der Abt waren anwesend. Auf der Tagesordnung standen zwei Punkte. Schwester Sonja schlug vor, Aleyn in die Geheimnisse des Sakraments einzuweihen. Er hatte be­reits mehrmals, zuletzt bei ihrem Einsatz in Berlin, be­wiesen, dass er ein mehr als zuverlässiger Mitarbeiter war. Jeder der hier Anwesenden kannte ihn gut. Es war schon lange geplant, eine Gruppe von Mitarbeitern zu bilden, die direkt unter den Sakramentonen angesiedelt werden sollte. Laut den alten Schriften sollte sogar neun­zehn Ordensmitgliedern das Geheimnis des Sakraments bekannt sein. Aleyn wäre dann das erste Mitglied der neuen Gruppe. Voraussetzung war allerdings die Bereit­schaft, sich der Prüfung durch das Sakrament zu unter­ziehen. Der Antrag wurde einstimmig befürwortet. Schwester Sonja wurde damit beauftragt, die Einzelhei­ten mit Aleyn abzuklären.

Der nächste Punkt wurde vom Abt persönlich vorge­tragen. Es ging um Jack. Seine Verletzung war so gut wie verheilt. Im Normalfall wäre ihm nun die Erinnerung an das Kloster unter Hypnose wieder genommen worden und man hätte ihn irgendwo in Berlin wieder abgesetzt. Nach Meinung des Abts sprachen aber zwei wichtige Gründe gegen diese Vorgehensweise. Erstens hatte man Jack, gegenüber den Santen, für tot erklärt. Wenn sie durch Zufall erfahren würden, dass er noch lebte, könnte er für die Evanisten ein Risiko darstellen. Der zweite Grund war die extrem auffällige Reaktion Jacks auf das Sakrament. Das ließ dem Abt keine Ruhe. Deshalb würde er Jack gerne zum Sakrament führen. Vorsichtshalber sollten Schwester Sonja und Bruder Bernard ihn dabei begleiten. Da alle sehr neugierig auf Jacks Reaktion waren, sollte dieser Test noch am gleichen Nachmittag stattfinden. In der Technikzentrale würden Bruder Wolfgang und Bruder Andreas die ganze Sache beobachten.

Als der Abt Jack diesen Vorschlag machte, war der sofort damit einverstanden. Man traf sich am Nachmittag in Jacks Zimmer und ging zusammen durch das unterirdi­sche Labyrinth in Richtung Sakrament. Nach einigen Metern bekam Jack starke Kopfschmerzen und bat um eine kleine Pause. Doch nach kurzer Zeit waren die Kopfschmerzen schlagartig verschwunden. Langsam gingen sie weiter. Plötzlich blieb Jack stehen und ging dann zwei Meter zurück. Er deutete auf die nackte Fels­wand:

„Hier teilt sich der Kraftstrom. Der größere Teil kommt aus der Wand. Auch wenn es sich lächerlich an­hört, aber es ist so.“

Der Abt ging langsam weiter in Richtung Sakrament.

„Jack, wenn du Schwierigkeiten hast weiter zu gehen, können wir jederzeit eine Pause einlegen. Oder wir brechen die ganze Sache ab. Das ist einzig und allein deine Entscheidung.“

„Nein, ist schon in Ordnung. Seit wir an dem Punkt vorbei sind, wo sich der Kraftstrom, oder wie du sagst, die Aura des Sakraments, geteilt hat, geht es mir wieder gut.“

„Wie du meinst. Wir sind gleich da.“

Obwohl der Hauptweg weiter ging, bog der Abt in einen unscheinbaren Nebenstollen ein. Dann standen sie vor einer einfachen Holztür. Keine Sicherheitsvorkeh­rungen, keine Tresortür und keine elektronischen Über­wachungseinrichtungen. Nur eine einfache Holztür. Jack war ein wenig irritiert.

„Dahinter ist euer Sakrament? Ich hätte jetzt mit etlichen Sicherheitsvorkehrungen gerechnet. Aber nicht mit einer alten Holztür.“

Der Abt sah Jack mit einem undefinierbaren Blick an.

„Jack, es gab in unserer langen Geschichte sehr viele Menschen, die diese Tür nicht sehen konnten. Für sie war hier nur eine einfache Felswand. Unsere Sicher­heitsvorkehrungen enden hier. Ab jetzt übernimmt das Sakrament selbst seinen Schutz. Bruder Bernard wird nun die weitere Leitung übernehmen. Er ist der eigentliche Verantwortliche für das Sakrament.“

Bruder Bernard nickte dem Abt kurz zu und wollte die Tür zum Sakrament öffnen. Doch dann wandte er sich zu Jack um.

„Bitte versuch du, die Tür zu öffnen.“

Jack zuckte mit den Schultern, drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.

„Ein wenig Öl auf die Scharniere könnte nicht scha­den.“

Dann bemerkte Jack die erstaunten Blicke seiner Be­gleiter. Bruder Bernard sah Jack fassungslos an.

„Soweit ich weiß, konnte diese Tür noch nie von jemandem geöffnet werden, der nicht zuvor die Prüfung des Sakraments bestanden hatte.“

Jack zuckte wieder mit den Schultern und wollte den Raum betreten. Doch Bruder Bernard hielt ihn zurück.

„Warte noch einen Moment. In diesem Raum funktioniert nichts, was auch nur im Entferntesten mit Strom zu tun hat. Auch keine elektrische Beleuchtung.“

Daraufhin zündete er einige Kerzen an, die den Raum langsam in ein schummeriges Licht tauchten.

Jack sah in einen Raum von etwa vier mal vier Me­tern. Wände und Decke waren nur grob gehauener Fel­sen. Doch über die gesamte Kopfwand war ein wunderschönes Relief eingearbeitet. Die Blume des Lebens. Durch das fla­ckernde Kerzenlicht entstand der Eindruck, die Kreise würden sich drehen. An einer Wand standen zwei Stühle und ein Tisch. Vor der gegenüberliegenden Seite standen ein Bett und einige Krüge. Wahrscheinlich ent­hielten sie das geheimnisvolle Wasser. In der Mitte des Raumes lag ein zylindrischer Körper. Es war unmöglich, das Material zu beschreiben, aus dem er bestand. Er war ungefähr zwei­einhalb Meter lang und hatte einen Durchmesser von ei­nem guten Meter. DAS SAKRAMENT. Hier war eindeu­tig der Ursprung der Kraftwelle zu spüren. Jack hatte wieder fürchterliche Kopfschmerzen, die allerdings im­mer schwächer wurden je länger er vor dem Sakrament stand. Langsam ging Jack darauf zu. Als er direkt dane­benstand, streckte er seine Hand aus und legte sie vor­sichtig auf das Sakrament. Ein leicht sirrendes Ge­räusch ertönte. Die Berührung fühlte sich angenehm an. Seine Kopfschmerzen waren verschwunden und einem Gefühl von Stärke, Größe und einer inneren Ruhe gewi­chen. Langsam nahm er seine Hand wieder weg. Das sir­rende Geräusch verstummte, aber sein positives Gefühl blieb. Jack drehte sich zu seinen Begleitern um.

„Irgendetwas ist mit eurem Sakrament, was ich nicht erklären kann. Ich will nicht behaupten, dass es le­bendig ist. Aber davon geht etwas aus, was ich ganz deutlich spüren kann. Irgendetwas ist da. Wenn wirklich eure Schöpferin darin liegen sollte, würde es mich nicht wundern, wenn die Lady irgendwann aufsteht und sich über die Entwicklung ihrer Geschöpfe informieren möchte. Hoffentlich wird sie dann nicht sauer.“

Er sah den Abt an:

„Bruder Abt, ich danke dir, dass du mir diese Gelegenheit gegeben hast. Zwar vermag ich nicht zu sa­gen, was das Sakrament ist, aber ich kann bestätigen, dass da etwas ist.“

Bruder Bernard löschte die Kerzen und schloss die Tür hinter sich, als alle den Raum verlassen hatten. Auf dem Rückweg blieb Jack wieder an der gleichen Stelle stehen wie auf dem Hinweg.

„Hinter dieser Wand ist etwas, was ganz klar mit dem Sakrament in Verbindung steht. Die Aura ist genau dieselbe.“

Sie brachten Jack zurück in sein Zimmer. Der Abt verabredete sich noch für den frühen Abend zu einem weiteren Gespräch mit ihm. Anschließend setze sich der Abt mit seinen Sakramentonen noch zu einer Bespre­chung zusammen.

„Ja, liebe Schwester und Brüder. Was ist eure Meinung zu diesem Vorgang? Ich weiß nicht was ich da­von halten soll. So ein Fall ist noch nie vorgekommen. Dass ein nicht Eingeweihter die Tür zur Sakramentskam­mer öffnen konnte, ist bisher einmalig. Auch, dass durch die Berührung des Sakraments eine akustische Reaktion ausgelöst wurde, ist einmalig. Und vor allem, was am außergewöhnlichsten ist: Er steht vor dem getarnten Eingang unserer Schatzkammer und spürt dort die Aura. Dass jemand eine stärkere Verbindung zum Sakrament hat als wir, sollte uns zu denken geben!

Wir wissen, dass das Sakrament nach eigenem Ermessen handeln kann. Dazu finden sich Aufzeichnungen in unserem Archiv. Unsere früheren Brüder haben diese Handlungen nicht verstanden, aber trotzdem stets akzeptiert. Später stellte sich heraus, dass genau diese Handlungen die einzig richtigen waren. Ich bin der Meinung, dass wir uns daran ein Beispiel nehmen soll­ten. Schließlich haben wir eine Vergangenheit, sogar eine ziemlich lange. Und wenn wir daraus nicht lernen wür­den, wären wir ignorant.“

Jetzt übernahm Bruder Bernard das Wort.

„Ich wollte meinen eigenen Augen nicht trauen, als Jack einfach die Tür zur Sakramentskammer öffnete. Das hat es noch nie gegeben! Aber was mich noch viel mehr verwundert hat, dass er vor der Schatzkammer stehen blieb und sagte, dahinter sei irgendetwas. Es gibt dort etliche Artefakte, die in direktem Zusammenhang zum Sakrament stehen. Aber dass jemand die Aura dort spürt, ist bisher einmalig. Die Schatzkammer wird ja eigentlich nur alle fünf Jahre geöffnet. Das nächste Mal wäre das in knapp zwei Jahren. Ich möchte hiermit vorschlagen, dass wir diesen Rhythmus unterbrechen und Jack in die Kammer bringen. Wahrscheinlich kann er uns sogar sagen, was genau dort die Aura eigentlich ausstrahlt. Das würde mich schon sehr interessieren. Und wahrscheinlich nicht nur mich.“

Hier schaltete sich Bruder Wolfgang ein:

„Das stimmt. Wie wir alle wissen, sind technische Untersuchungen am Sakrament nicht möglich. Aber vielleicht könnte man sie an dem Artefakt, das in der Schatzkammer die Aura erzeugt, vornehmen. Das wäre zumindest einen Versuch wert. Außerdem habe ich noch einen anderen Vorschlag: Seit zwei Tagen arbeite ich mit Jack zusammen. Er hat mir gezeigt, dass die Schutzeinrichtungen unseres Servers nicht optimal wa­ren. Diese Zusammenarbeit war sehr effektiv.

Es ist geplant, dass unser gesamtes Archiv zu digitalisieren. Das ist Arbeit für mehrere Jahre. Und, wir können sie nicht einfach an eine externe Firma vergeben. Das kann nur ein Eingeweihter machen. Heute Morgen haben wir beschlossen, dass wir eine Gruppe Mitarbeiter aufbauen wollen, die direkt unter den Sakramentonen angesiedelt ist. Das erste Mitglied soll Aleyn sein. Was würde dagegensprechen, wenn Jack das zweite Mitglied würde? Vorausgesetzt, er hätte Interesse daran.“

Der Abt sah Bruder Wolfgang an.

„Das ist ein sehr guter Vorschlag. Was meinen die anderen?“

Der Vorschlag wurde sofort von allen angenommen. Die Resonanz des Sakraments war zu eindeutig gewesen. Da der Abt am selben Tag noch ein Gespräch mit Jack führen würde, sollte er ihn direkt danach fragen. Damit wurde die Besprechung für diesen Tag beendet.

Der Abt ging anschließend also direkt zu Jack. Der erwartete ihn schon aufgeregt:

„Ich muss ehrlich sagen, dass die Begegnung mit dem Sakrament sehr beeindruckend war. Das hatte ich mir so nicht vorgestellt. Es ist wirklich etwas, dass man nicht mit Logik oder Zahlen erklären kann.“

„Es freut mich, dass ich dich überzeugen konnte. Obwohl, eigentlich hat dich ja das Sakrament selbst überzeugt. Wie auch immer, ich möchte mich heute gerne mit dir über den zweiten Vers der Schöpfungsgeschichte unterhalten. Außerdem habe ich noch zwei andere Themen über die ich mit dir reden möchte. Du erinnerst dich noch an den zweiten Vers? Vorsichtshalber habe ich ihn dir noch einmal mitgebracht.“

Er reichte Jack den entsprechenden Text.

„Das Wichtigste zuerst. Deine Freundin Sabine hat auf deinen Kommentar geantwortet. Sie freut sich über deinen bemerkenswerten Text und bestellt auch dem kleinen Jacki schöne Grüße. Was immer das heißen mag.“

Obwohl Jack über diese Nachricht sehr froh war, er­rötete er sichtlich.

„Das ist auch nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Aber jetzt bin ich sicher, dass Sabine mich verstanden hat. Und darüber bin ich sehr glücklich.“

„Gut. Hat Bruder Wolfgang dir unseren Fitnessraum gezeigt?“

„Ja, hat er. Und weil Bruder Andreas gerade beim Training war, ist Wolfgang schnell wieder gegangen. An­dreas hat mir die einzelnen Geräte erklärt und mir ein, seiner Meinung nach, kleines Programm zusammenge­stellt. Ich habe versucht, es abzuarbeiten, habe aber dann trotz der Kraftwelle gepasst. Du musst bedenken, dass ich noch nie in meinem Leben Sport getrieben habe. Ei­gentlich müsste ich einen höllischen Muskelkater haben. Wenn es geht, werde ich jeden Tag versuchen eine Stunde zu trainieren. Ich glaube schon, dass es mir gut tun wird. Auch wenn Andreas etwas sagte, dass sich nach 'körperliche Koordination wie ein Kartoffelsack' anhörte. Aber vielleicht habe ich das ja nur nicht richtig verstanden.“

Der Abt schmunzelte.

„Ja, Bruder Andreas kann manchmal sehr direkt sein. Aber kommen wir zu unserem eigentlichen Thema:

Der erste Vers bezieht sich ja auf die universale Schöpfung. Auch wenn wir da nicht hundertprozentig ei­ner Meinung waren, im Großen und Ganzen waren wir uns, glaube ich, schon einig. Der zweite Vers versucht zu erklären wie die unbewohnte Erde entstand. Im Prinzip ist das ja noch mit deiner Bibel zu vereinbaren. Gott trennte Wasser und Erde. Die Wissenschaft sagt einfach, dass sich das im Laufe von Millionen von Jahren selbst entwickelt hat. Lassen wir die Zeiten außer Acht, kommen wir wieder zur gleichen Frage: Gewollte Schöpfung oder zufällige Entwicklung? Wir waren beim ersten Vers beide der Meinung, dass es sich nicht um einen Zufall handeln kann. Warum sollte es dann bei dem zweiten Vers anders sein?“

„Bei Land und Wasser könnte der Zufall schon eher eine Rolle spielen. Durch Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Sturmfluten ändert sich ja auch heute noch die Oberfläche der Erde. Es ist schon schwer vorstellbar, dass die Schöpferin über die gesamte Erde läuft, ein Liedchen trällert, und hinter ihr wachsen Gebirge oder bilden sich Ozeane.“

„Wahrscheinlich solltest du das eher als Meta­pher sehen. Aber dass Schwingungen, also Schallwellen, Materie beeinflussen können, ist eine Tatsache. Durch einen lauten Knall kann dir das Trommelfell platzen. Wahrscheinlich hat man dir früher auch tausendmal ge­sagt, dass laute Musik schädlich für die Ohren ist.

Ende des achtzehnten Jahrhunderts, war es einem Na­turforscher und Physiker gelungen, Töne, also Schall­wellen, sichtbar zu machen. Das waren die Chladnischen Klangfiguren. Er streute Sand auf eine Blechplatte und versetzte sie mit einem Geigenbogen in Schwingung. Der Sand nahm dann bestimmte Formen an. Dieses Prin­zip wird heute noch von Geigenbauern genutzt, um die Resonanzeigenschaften, also das Klangbild, ihrer Instru­mente zu optimieren. Also ist es eigentlich nachvollzieh­bar, dass man durch Töne, Sand beeinflussen kann. Und was man im achtzehnten Jahrhundert mit Sand machen konnte, werden die Schöpfer wohl auch mit Erde und Felsen haben machen können.

Dann wäre da noch das Wasser. Da hatte ich dich ge­beten, dir eine bestimmte Internetseite anzusehen. www.­wasserklangbilder.de. Ich hoffe, du hattest schon Gele­genheit dazu.“

„Ja, Bruder Abt. Diese Seite habe ich mir angesehen. Und ich weiß jetzt auch, worauf du hinauswillst. Dort wird im Prinzip bewiesen, und zwar sehr wissen­schaftlich, dass man durch Schallwellen, also Töne, Wasser beeinflussen kann. Das heißt zwar nicht, dass eure Schöpferin durch ein Lied die Erde geformt hat, aber es dient wohl auch wieder eher als Metapher.“

„Richtig, und sogar in der Bibel wird diese Tat­sache erwähnt. Denk mal an die Trompeten von Jericho. Da erobert Joshua die Stadt Jericho, weil die Stadtmauern durch den Klang von Trompeten zum Einsturz gebracht werden. Übrigens mit Unterstützung der Bundeslade, die sehr wahrscheinlich mit dem Sakrament identisch ist, das du heute gesehen hast. Es gibt noch ein weiteres in­teressantes Gedankenspiel. Der zweite Vers sagt ja im Prinzip aus, dass die Schöpferin durch das Schöpfungs­lied mit Hilfe ihres Stabes die Oberfläche der Erde form­te.

In jeder menschlichen Kulturepoche, egal wo und zu welcher Zeit, gibt es Zauberer, Magier, Schamanen oder wie auch immer sie sich nennen oder nannten. Sie alle haben eines gemeinsam. Mit Hilfe von Zaubersprüchen und einem Zauberstab versuchen sie, Materie zu beein­flussen. Das Wissen, dass es möglich ist, scheint fest in der Erinnerung der Menschheit verankert zu sein. Nur hat man wohl vergessen, dass nicht der Text, sondern der Klang die Wirkung erzeugt. Auffallend ist noch, dass diese, sagen wir mal Berufsgruppe, immer der Meinung war, dass sie etwas Besonderes, etwas Höheres sei. Und nicht nur die Zauberer benutzen einen Stab. Es gibt noch eine Berufsgruppe, die einen Stab als Symbol für ihre angeblich höhere Stellung benutzt. Denk mal an den so genannten Bischofsstab. Er ist das äußere Zeichen dafür, dass jemand eine erhabene Stellung inne hat. Auch der Papst hat so einen Stab, die Ferula. Und das ist bestimmt keine Gehhilfe. Übrigens hatten die ägyptischen Pharaonen auch so einen Stab, der dem Bischofsstab sehr ähnlich ist. Zufall?

Bei dem zweiten Vers gibt es noch einen interessan­ten Aspekt. Nachdem die Schöpferin einmal um die Erde gewandert war, ruhte sie auf dem Meeresgrund. Sie wird sich nicht einfach an einen Unterwasserfelsen gelehnt und etliche Jahrtausende geschlafen haben. Da geistert noch so ein Mythos durch die Geschichte der Mensch­heit. Atlantis, die sagenhafte Stadt, die irgendwann im Meer versank. Vielleicht gibt es da einen engen Zusammenhang. Aber das ist nur eine Vermutung. Selbst unser Archiv hat darüber keinerlei Unterlagen. Wie du siehst, kann man aus den wenigen Zeilen sehr viel herauslesen.“

Jack schwieg einen Moment. Man sah ihm an, dass er sich mit dieser Denkweise erst anfreunden musste.

„Trotzdem ist der Unterschied zwischen deiner Interpretation und der Bibel gar nicht so riesig. Nur steht in der Bibel nicht wie Gott die Erdoberfläche geformt hat, sondern nur, dass er sie geformt hat.

Aber eines ist mir dann noch nicht klar. Wenn die Erde nach einem Plan geformt wurde, wieso können dann noch Erdbeben, Sturmfluten und andere Naturkata­strophen auftreten? Das könnte ja auf einen Fehler im Programm hindeuten. Und dann wäre ja doch wieder Hightech im Spiel.“

„Du meinst mit Hightech die Art von Technik, die uns heute zur Verfügung steht. Ich bin aber der Meinung, dass die Möglichkeiten, die den Schöpfern, oder deinem Gott, zur Verfügung stehen, beziehungsweise schon da­mals zur Verfügung gestanden haben, eine ganz andere Dimension haben. Wahrscheinlich wollte derjenige oder diejenige, kein statisches Gebilde schaffen, sondern et­was das lebt, das sich von selbst weiterentwickeln kann. Auch wenn das Risiko besteht, dass es eine Fehlentwick­lung wird. Vielleicht ist ja unsere sogenannte Zivilisation nur ein Zwischenschritt in der gesamten Evolution. Was machen wir denn mit unserer Technik? Wir versuchen die Natur, übrigens mehr schlecht als recht, zu kopieren.

Kennst du einen Mammutbaum? Ein sehr imposantes Gebilde. Um so etwas künstlich oder anders ausge­drückt, technisch, herzustellen, müssen wir Menschen einen riesigen Aufwand betreiben. Wir brauchen Beton und Stahl. Um den Baum nachzubauen, müssen wir na­türliche Ressourcen zerstören, unheimlich viel Energie aufwenden, und haben am Ende eine künstliche Säule, die die gleiche Statik hat wie der Baum. Der wächst je­doch weiter und wird jedes Jahr stärker und größer. Und was braucht die Natur um diesen Baum wachsen zu las­sen? Nur Sonne und Wasser. Energien, die natürlich vorhanden sind. Wer hat die effektivere Methode? Die Natur oder der Mensch mit seiner Technik? Die Frage ist eigentlich nur rhetorisch. Unsere Technik wird nie das Niveau der Natur erreichen können.

Ein anderes interessantes Beispiel ist die Ameise. Nach dem heutigen Stand der Technik ist es nicht mög­lich, eine Maschine zu konstruieren, die mit einer Ameise vergleichbar wäre. Mit der Schnelligkeit und der Komplexität des Bewegungsablaufs. Eine Ameise kann das Vierzigfache ihres Gewichtes mit sich herumtragen. Und wir sprechen nur von einer einzelnen Ameise. Nicht von einem Ameisenstaat mit mehreren hunderten oder tausenden Individuen. Dort erledigt jeder seine Aufgabe. Wenn sich äußere Einflüsse ändern, können die Ameisen darauf reagieren.

Solch ein System künstlich zu er­schaffen, ist für die heutige Menschheit nicht machbar. Und ein Ameisenstaat ist nur ein winziger Teil der ge­samten Schöpfung. Aber wir Menschen, als angebliche Krönung der Schöpfung, übersehen das geflissentlich. Wir greifen mit Brachialgewalt in die Natur ein, zerstö­ren ohne nähere Überlegungen und machen uns keinerlei Gedanken darüber, dass wir ein System verändern, von dem wir nicht die geringste Vorstellung haben. Ich kann nur hoffen, dass sich die Denkweise der Menschheit ändert, bevor es zu spät ist.“

Jack schwieg. Was sollte er dazu noch sagen? Dass die Menschheit dabei war, sich selbst zugrunde zu richten, war eigentlich keine neue Erkenntnis. Aber etwas zu erkennen ist eine Sache. Folgerichtig zu handeln eine andere.

„Aber vielleicht ist es ja eure Aufgabe als Hüter des Sakraments, das den Menschen klar zu machen.“

„Dann wird das Sakrament uns das auch begreiflich machen.“


Die Hüter des Sakraments Teil 2

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