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ОглавлениеDer Klang kam gleich von mehreren Seiten. Aus unterschiedlichen Richtungen drangen die hallenden Schläge an sein Ohr. Die Glocken riefen die Gläubigen zum Gottesdienst. Otmar Braunberger war kein Kirchgeher, noch nie gewesen. Außer gelegentlich in seiner Kindheit. Aber er mochte den Klang. In der Stadt Salzburg gab es an die 50 Kirchen. Und das auf einer Fläche von gerade einmal 65 Quadratkilometern. Da stieß man nahezu an jeder Ecke auf ein Gotteshaus.
Natürlich wurde man vor allem an Sonntagen der Glockenklänge gewahr.
Und am Ostersonntag ganz besonders. Jetzt mischte sich der Klang weiterer Glocken dazu.
»Das werden wohl die Glocken der Franziskanerkirche sein«, murmelte der Abteilungsinspektor und griff nach der Kaffeetasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. Normalerweise bevorzugte er ja Tee oder teeähnliche Getränke. Besonders hatte es ihm der Geschmack von Rooibos-Tee angetan. Doch ab und zu genehmigte er sich auch einen Kaffee, besonders zu den Feiertagen. Da trank er am liebsten Espresso mit viel Milchschaum. Aber da das Café Tomaselli bewusst auf klassische österreichische Kaffeekultur setzte, bot man hier keinen italienischen Cappuccino an, sondern reichte allenfalls einen Mokka mit Milch und Schlagobers. Einen solchen hatte er sich bestellt, eine »Tomaselli Melange«. Er beugte sich kurz vor, blickte über die Brüstung nach unten. Eine Familie mit zwei Kindern im Trachtengewand eilte über den Platz. Es war 10 Uhr. Die Glocken riefen zum österlichen Hochamt. Im Dom zelebrierte das niemand Geringerer als der Salzburger Erzbischof selbst. Da schien es Braunberger mehr als angebracht, dass alle Glocken des Doms in den Ruf einstimmten, von der kleinsten, der Barbara-Glocke, bis zur wuchtigsten. Die trug den Namen Salvator und wog mehr als 14 Tonnen. Das immerhin war dem Abteilungsinspektor Otmar Braunberger bekannt. Heute war der erste Tag in diesem Frühjahr, wo man getrost im Freien sitzen und sich einen Kaffee servieren lassen konnte. Herrlich. Er hatte noch genug Zeit. Sein Dienst würde erst um 13 Uhr beginnen. An Feiertagen Dienst zu schieben, machte ihm nichts aus. So konnte seine Kollegin Carola Salman sich bequem zusammen mit ihrer Tochter Hedwig ein paar schöne Tage in Wien machen. Und für seinen Freund Martin war es gewiss auch erfreulich, für ein paar Tage in seiner Pinzgauer Heimat zu verweilen, zusammen mit der Großmutter. Helles Geschnatter drang an Braunbergers Ohr. Er blickte wieder nach unten. Eine Gruppe junger Leute flanierte über den Alten Markt, dem Platz zwischen dem Café Tomaselli und dem gegenüberliegenden Café Fürst. Dort würde er hernach auch noch kurz einkehren und sich mit einigen Packungen Mozartkugeln versorgen. Den Original Salzburger Mozartkugeln, die dort handgeschöpft wurden. Getreu nach dem Rezept von Paul Fürst. Der hatte 1805 für seine Spezialität sogar eine Pariser Goldmedaille erhalten. Auch das wusste der Abteilungsinspektor. Immerhin hatte er vor einiger Zeit mitgeholfen, zusammen mit Merana einen ganz speziellen Fall aufzuklären, bei dem diese Mozartkugel eine wichtige Rolle gespielt hatte.1
Er hob die Hand, gab dem Kellner ein Zeichen. »Bringen Sie mir bitte noch eine Melange und dazu ein stilles Mineralwasser.« Später würde er sich noch eine Zeitung holen. Aber vor allem würde er die Aussicht genießen und sich an diesem sonnigen Ostersonntagvormittag mitten im Herzen der Salzburger Altstadt erfreuen.
Kurz vor 13 Uhr kam er in der Polizeidirektion in der Salzburger Alpenstraße an. Die Kollegen, die ebenso wie er Feiertagsdienst zu versehen hatten, freuten sich, als er sie mit einigen Mozartkugeln versorgte.
»Sind das die vom Fürst?«, fragte die Beamtin am Eingang.
»Selbstverständlich. Für die Kollegenschaft nur das Allerbeste.«
»Wow. Danke, Otmar.« Er hielt ihr das Säckchen hin.
»Nimm dir welche, Marina.« Sie zögerte. »Das sind ja richtige Kalorienbomben.«
»Es ist Ostern, Frau Kollegin!«
Sie grinste. »Du hast recht. Wenn man da nicht sündigen darf, wann dann!« Sie griff nach drei der in Silberpapier gehüllten Süßigkeiten.
Er erwiderte ihr dankbares Lächeln und stapfte auf die Treppe zu, die ins Obergeschoss führte. In seinem Büro öffnete er die unterste Schreitischschublade und verstaute den Rest der Kugeln. Dann schaltete er den PC ein. Die eingegangenen Mailnachrichten zu überfliegen, zu ordnen und in einigen Fällen auch zu beantworten, dauerte mehr als eine halbe Stunde. Eine der längeren Nachrichten stammte von ihrem Chef, dem Polizeipräsidenten höchstpersönlich. Der Abteilungsinspektor hatte noch nicht die Hälfte der Einleitung gelesen, als sein Diensttelefon läutete. Die Nummer erkannte er sofort, er hätte gar nicht den Schriftzug am Display benötigt: »Plankowitz, Gerichtsmedizin«
Er griff nach dem Hörer. »Hallo, Eleonore. Schon alle Ostereier gefunden?«
»Ich hasse Eier. Vor allem solche, die irgendwelche Hasen bringen.«
»Also, Frau Doktor, was kann ich für dich tun?«
»Hast du schon von der toten Gämse auf dem Kapuzinerberg gehört, Otmar?«
Tote Gämse? Kapuzinerberg? Wollte sie ihn aufziehen?
»Nein, habe ich nicht. Ich arbeite zwar für die Mordkommission, und unsere bedauernswerten Klienten sind leider auch meistens tot. Aber sie gehören allesamt zur Spezies homo sapiens. Für ermordetes Gamswild wende dich bitte an Basil, den Mäusedetektiv, oder an einen der anderen seiner tierischen Kollegen.«
Er hörte sie am anderen Ende der Leitung pfeifen.
»Respekt, Herr Kollege, das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Basil. Mäusedetektiv …«
Das hatte er Hedwig zu verdanken. Carolas Tochter liebte die Geschichten von Basil. Und er las ihr immer wieder gerne einige davon vor.
»Die tote Gams spielt auch nicht die wesentliche Rolle. Viel bedeutender ist, was man unter dem Tierkadaver fand.«
Jetzt wurde er neugierig. »Und was?«
»Ich schicke dir dazu gleich ein paar Bilder. Du kannst mich jederzeit anrufen. Ich bin heute sicher bis zum späten Abend im Institut.«
Er beendete das Gespräch. Er wartete. Was würde da auf ihn zukommen? Keine drei Minuten später hörte er das Signal einer eingehenden Nachricht. Eine Mail mit zwei Textfiles und einem Ordner mit Bildern. Er klickte zuerst auf den Ordner. Er spürte, wie sich ganz plötzlich seine Stirnhaut runzelte. Was war das denn? Das hatte man unter dem Kadaver der toten Gämse gefunden? Er studierte die Aufnahmen, Bild für Bild. Dann öffnete er die beiden anderen Dateien, las aufmerksam die Texte. Als er fertig war, griff er zum Telefon.
»Hallo, Eleonore, wie es scheint, haben wir hier doch keinen Fall für die Mäusepolizei. Ich habe mir alles angeschaut, aber ich hätte gerne nochmals eine detaillierte Zusammenfassung von dir.« Er hörte sie tief Luft holen. »Also gut. Dann von Anfang an. Der gefundene Schädel und die Knochen stammen mit ziemlicher Sicherheit von ein und derselben Person. Eine Bestätigung dafür haben wir erst, wenn ich mit den Untersuchungen fertig bin. Aber alles deutet darauf hin. Es handelt sich um die Überreste einer Frau. Das ist mal klar.«
»Weißt du mehr über die Umstände des Fundes?«
»So viel ich mitbekam, entdeckte ein Jogger die Gämse und verständigte daraufhin den Stadtförster. Benedikt Keutschach, so heißt der Mann, fand nicht nur das tote Tier vor. Im Boden unter dem Tierleichnam entdeckte er Reste eines menschlichen Skeletts. Keutschach informierte die Pressestelle des Magistrats. Das hatte zur Folge, dass zweierlei nahezu gleichzeitig passierte. Einerseits rückte ein Fernsehteam an und zugleich die ebenfalls alarmierten Beamten der Polizeiinspektion Rathaus. Die Polizeikollegen verständigten sich mit den Journalisten darauf, dass man zwar über die tote Gämse berichten dürfe, aber keineswegs über die entdeckten Teile des menschlichen Skeletts. Sie verpflichteten die Medienleute zu absoluter Verschwiegenheit. Erst wenn man mehr über die näheren Umstände zu diesem Vorfall wisse, werde man die Öffentlichkeit informieren.«
»Sehr gut.« Der Abteilungsinspektor nickte. Das hatten die Kollegen bestens hingekriegt.
»Wie ich den Bildern entnehme, scheint das Skelett nicht komplett zu sein, Eleonore.«
»Richtig, es fehlen ein paar Knochen. Eine genaue Aufstellung dazu kommt noch.«
»Kannst du etwas zum Alter dieser Person sagen?«
»Ich kann es versuchen. Sie dürfte zum Zeitpunkt des Todes vermutlich Mitte 20 bis Ende 30 gewesen sein. Aber das ist nur eine sehr grobe Schätzung. Eindeutiger sind die deutlich sichtbaren Spuren von Gewalteinwirkung an ihrem Kopf.«
Das hatte er schon ihren Aufzeichnungen entnommen.
»Könnte die Frau deiner Meinung nach auch gestürzt sein und sich dadurch die Verletzungen zugezogen haben?«
Sie wartete ein paar Sekunden.
»Davon gehe ich eher nicht aus. Ich bin mir einigermaßen sicher, der Frau wurde ein harter Gegenstand gegen den Kopf gedroschen. Die Art der Bruchstellen lassen kaum Spielraum für eine andere Deutung.«
Er schwieg, dachte nach. Das würde bedeuten, die gefundenen Knochenteile verwiesen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Opfer eines Gewaltverbrechens. Wann könnte die Tat geschehen sein? Dazu hatte er keinerlei Angaben in ihrem Bericht gefunden.
»Ich weiß, dass deine Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, Eleonore. Aber kannst du aufgrund deiner Erfahrung ungefähr einschätzen, wann die Tat begangen wurde? Wann könnte der Frau das zugestoßen sein?«
Er hörte sie schnauben.
»Das ist zum jetzigen Zeitpunkt nur grob möglich. Da gebe ich lieber eine Vermutung über ihr Alter ab. Sagen wir es so. Würde die Gute heute noch leben, dann wäre sie wohl mindestens 90 Jahre alt, wahrscheinlich älter. Vielleicht sogar 100 oder gar 120.«
»Danke, Eleonore. Dann werde ich wohl einmal unseren hohen Chef anrufen.«
»Musst du nicht mehr, Otmar. Ich habe den Herrn Polizeidirektor schon heute Früh informiert.«
Schon heute früh? Vielleicht hatte sich die Mailnachricht des Chefs auch darauf bezogen. Er war ja noch nicht dazu gekommen, sie wenigstens zu überfliegen.
»Danke, Eleonore, dass du Günther schon gewarnt hast. Damit er Bescheid weiß, falls durch die Presse etwas früher durchsickert als geplant.«
»Gerne. Und jetzt liegt der Fall bei euch. Ich nehme an, du hast auch das Bild mit dem Ring und der Kette gesehen?«
Ja, hatte er. Die Aufnahme hatte allerdings nicht dieselbe Qualität wie jene der Knochen.
»Ob die Frau die Kette mit dem Ring tatsächlich am Körper trug oder nur irgendwo eingesteckt hatte, lässt sich aufgrund des Zustandes des Skeletts wohl nicht mehr feststellen?«
»Nein, das lässt sich nicht. Die Kette lag in der Mulde bei den Knochen. Sie könnte zufällig dort gelandet oder von einem Tier dorthin transportiert worden sein. Doch das nehme ich eher nicht an. Ich lasse dir die Kette und den Ring ins Präsidium schicken. Wenn mich nicht alles täuscht, ist am Ring etwas eingraviert. Aber das werden eure Techniker herausfinden. Hast du noch Fragen, Herr Abteilungsinspektor?«
»Danke, Eleonore. Noch einen schönen Ostersonntag.« Er legte auf. Dann fuhr er sich mit der Hand über das schlecht rasierte Kinn. Was war auf dem Kapuzinerberg geschehen? Er rechnete kurz nach. 90 bis 120 Jahre, sagte die Gerichtsmedizinerin. Dann war die Frau ungefähr zwischen 1900 und 1930 geboren.
Sie war zu Tode gekommen, noch als junge Frau. Vielleicht 25 Jahre alt. Vielleicht auch schon Ende 30. Wo? Das ließ sich derzeit nicht sagen. Ihre Skelettteile waren jetzt gefunden worden. Vor wenigen Tagen. Nicht auf einem Friedhof, sondern auf dem Kapuzinerberg. Eines war gewiss. Irgendjemand musste sie dort verscharrt haben. Warum begrub man jemanden in abgelegenem Gelände? Um die Spuren eines Gewaltverbrechens zu vertuschen? Warum waren die spärlichen Skelettteile erst jetzt ans Tageslicht gekommen? Fragen über Fragen. Und derzeit nicht der Funken einer Antwort.
Er lehnte sich zurück, griff in die unterste Schublade, genehmigte sich noch eine Schokoladenkugel. Sollten sie in diesem Fall überhaupt ermitteln? Für Mord gab es keine Verjährung. Das war ihm klar. Aber war hier tatsächlich ein Mord passiert? Und selbst wenn, was brachte es, jetzt, nach Jahrzehnten, darin herumzustochern? Lebten überhaupt noch Personen aus dieser Zeit? Das konnte man wohl erst halbwegs seriös beantworten, wenn man einzuschätzen vermochte, was »diese Zeit« bedeutet. In jedem Fall etwas weit Vergangenes. Er blickte auf den Bildschirm. Sie hatten reichlich ungeklärte Fälle aus der Gegenwart. Da gab es genügend Arbeit. Er angelte sich eine zweite Mozartkugel. Dann tastete er nach der Maus. Er schloss die Datei mit der Mailnachricht. Zumindest würde er einen eigenen Ordner anlegen. Bezeichnung: »Kapuzinerberg-Leiche«. Das konnte nicht schaden. Dann hatte er immerhin eine ordnungsgemäße Ablage dafür.
1 s. Mozartkugelkomplott