Читать книгу Von Arsen bis Zielfahndung - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 6
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Als ich Anfang der Neunziger mit dem Krimischreiben begann und über die Habeas-Corpus-Akte nachdachte, fiel mir auf, dass meine Begriffe von Polizeiarbeit und Rechtssystem aus dem angelsächsischen Krimi stammen. Ich kannte Chefinspektoren, hatte aber keine Ahnung von deutschen Polizeidienstgraden. Und wie sie arbeiten … tja! Also habe ich mir eine Strafprozessordnung besorgt und sie mit vielen Anstreichungen versehen. Aber die Praxis, wie geht die? Ein Polizist hat mir mal gezeigt, wie man einen Mann fixiert und abtastet und wie Handschellen tatsächlich funktionieren. Ich bin eine Nacht mit der Innenstadt-Streife mitgefahren, habe mir den Polizeigewahrsam angeschaut und gerochen, wie es da riecht, war mit bei der Ärztin, die im Präsidium in einem kleinen Raum mit Minirock und Thermosflasche saß und dem Fahrerflüchtigen Blut abnahm, und war mit meinen Streifenbeamten im Puff, um einen zahlungsunwilligen Freier zur Raison zu bringen. Um herauszufinden, wie ein bestimmtes Gift wirkt, habe ich einen Arzt gefragt. Doch der hatte seinen hippokratischen Eid geschworen und Hemmungen, mir zu erklären, wie man Menschen umbringt. Und als ich vom ADAC wissen wollte, wie man die Bremsen eines Fahrzeugs manipuliert, fehlte nicht viel, und der Mann am Telefon hätte mir die Polizei auf den Hals gehetzt. Bis heute lasse ich deshalb übrigens bei Manipulationen an technischen Geräten oder Giftcocktails, die tödlich wirken sollen, ein kleines, aber wichtiges Detail weg. Das Internet erleichtert inzwischen die Recherche von Arsen bis Zielfahndung, aber wie Polizisten drauf sind, wie sie miteinander reden, wie es bei einer Leichenöffnung riecht oder wer als Erster am Tatort ist, wissen wir Krimiautorinnen oft trotzdem nicht.
Wir haben allerdings einen Begriff von Verbrechen, Polizei und Leichen. Doch der stammt meist nicht aus dem Studium von Polizeiakten und Gerichtsprotokollen, sondern aus Kriminalromanen und TV-Serien wie Tatort, Soko 5113 oder Pfarrer Braun. Die führen uns eine Realität von Polizeiarbeit vor, die es nicht gibt. Es fällt uns nur nicht auf, so mächtig ist die Realität des Fiktiven geworden. Wir ziehen gar nicht in Zweifel, ob die Rechtsmedizinerin am Leichenfundort erscheint und eine erste Einschätzung abgibt. Es erscheint uns sogar besonders wirklichkeitsnah.
Viele Irrtümer sind lässlich, weil ohne Einfluss auf den Plot. Wenn wir im TV-Krimi einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss mit einem Polizeisiegel im Briefkopf sehen, ist es letztlich egal, denn das entscheidet die Geschichte nicht. Aber wenn der Plot nur zustande kommt, weil wir unsere Ermittler einen Rechtsbruch nach dem anderen begehen lassen und so tun, als gäbe es weder genetische Fingerabdrücke noch überhaupt eine Kriminaltechnik, dann erzählen wir Märchen. Und die märchenhafteste Gestalt ist derzeit in unseren Krimis der Profiler. Deshalb bin ich ausführlicher der Frage nachgegangen, was in deutscher Wirklichkeit eigentlich Profiling bedeutet ( Die Fallanalyse).
Den meisten Krimiautorinnen, Drehbuchschreibern und Regisseuren ist durchaus bewusst, dass ihre Geschichten die Wirklichkeit und das Recht beugen. Und viele Konsumenten sagen, es sei ihnen egal. Aber will ich wirklich in meinem Krimi von Deutschland das Bild eines Polizeistaats zeichnen, in dem Polizisten zuschlagen oder auf Flüchtende schießen, in dem sie nach Gutdünken verhaften, in Wohnungen einbrechen und ohne richterlichen Beschluss in Schubladen wühlen, in denen Zeugen plötzlich zu Beschuldigten werden, ohne jegliche Rechtsbelehrung? Und brauche ich wirklich immer das ertrickste oder mit Drohungen erpresste Geständnis eines Täters, um meinen Fall zu beschließen? Vielleicht wären die vielfältigen kriminalistischen Methoden, mit denen man Verbrechen aufklären und den Täter überführen kann, ja auch mal ganz interessant. Und vielleicht steckt in der Wirklichkeit des Zusammenspiels von Polizei, Staatsanwaltschaft und Rechtsmedizin ja sogar die eine oder andere nagelneue Krimigeschichte.
Also habe ich meinen langjährigen Freund Manfred Büttner, den ich immer frage, wenn ich Polizeijargon, Strafprozessordnung und Wirtschaftsdelikte brauche, gefragt, ob er mit mir zusammen dieses Buch schreibt. Und er hat Ja gesagt.
Christine Lehmann
»Sind in Polizeiautos eigentlich Ringe angebracht, an denen Handschellen von Verhafteten während der Fahrt festgemacht werden?« In meiner Erinnerung war das die erste Fachfrage, die mir Christine Lehmann gestellt hat. Das ist lange her. Seitdem habe ich versucht, viele solcher Fragen zu beantworten und bei manch einem Plot, den meine Freundin in ihren Krimis entwickelt hat, hilfreich zur Seite zu stehen. Und habe dabei auch selbst gelernt. Zwar habe ich langjährige Erfahrungen als Ermittler in Steuerstrafsachen und bilde unter anderem Polizeibeamte im Bereich Wirtschaftskriminalität aus, zwischen einer Betrugs- und einer Mordermittlung besteht dann aber doch schon ein spürbarer Unterschied.
Kommt die Gerichtsmedizin eigentlich zu jedem Leichenfund? Und wie sieht es mit der Staatsanwaltschaft aus? Ich habe mich bei solchen Fragen bemüht, der Versuchung zu widerstehen, die allgegenwärtige Juristenantwort zu gehen: »Das kommt darauf an.« Passt zwar immer, hilft aber nicht wirklich weiter. Und deshalb habe ich nachgefragt bei Kolleginnen und Kollegen der Fachdezernate, bei Staatsanwaltschaft und Gericht. Und weiß jetzt: Gerichtsmedizinerin und Staatsanwältin sind nicht immer am Leichenfundort, sondern nur manchmal. Wann genau, wird in diesem Buch beantwortet, so wie vieles andere auch zum Ablauf der Ermittlungshandlungen, dem Alltag von Ermittlern und den Strafgesetzen.
Um eines vorwegzunehmen: Es stört mich keineswegs, wenn in Krimihandlungen die Gerichtsmedizinerin immer am Fundort erscheint, wenn sie gar Anweisungen von Polizeibeamten entgegennimmt oder sie ihnen Rechenschaft ablegen muss, weil sie einen Termin nicht einhalten kann. Sogar der Pistolen oder Handschellen schwingende Staatsanwalt oder der Schutzpolizist als Dienstbote des Kriminalpolizisten bringt mich inzwischen nicht mehr ernstlich aus der Ruhe, auch wenn keines der Bilder der Realität entspricht. Solche Fantasie-Ermittlungsabläufe sind zwar falsch, aber für mich nicht wirklich schlimm.
Vielfach gilt das auch für die krimigemäße Erläuterung von Rechtsfolgen. Stünde etwa in der Klausur einer Jurastudentin, ein Totschläger müsse anders als ein Mörder »nur« eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren befürchten, könnte das Punktabzug bedeuten. Die Aussage stimmt zwar in den meisten Fällen, in besonders schweren Fällen lautet aber auch bei Totschlag das Urteil auf lebenslänglich, und in minderschweren Fällen beträgt die Mindeststrafe nur ein Jahr. Folglich würde die Studentin in der Klausur vermutlich eines der sprachlichen Hintertürchen der Juristerei verwenden und vor ihre Aussage »in der Regel«, »grundsätzlich« oder »insoweit« packen. Das habe ich bei meinen juristischen Ausführungen in diesem Buch auch getan und habe prompt von meiner Krimiautorin Punktabzug bekommen – beim sprachlichen Ausdruck. Also habe ich mich zusammengenommen und den juristischen Fachjargon so weit wie möglich vermieden.
Ich habe mich aber nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, alle Aussagen so zu machen, dass sie denkbare Lebenssachverhalte zu nahezu hundert Prozent treffen, und dann zur Sicherheit bei allen relevanten Rechtsnormen auch noch die jeweiligen Paragraphen zum Nachlesen angeführt. Sollten dennoch rechtliche Unschärfen verblieben sein, bitte ich vielmals um Entschuldigung.
Außerdem habe ich sehr viel Wert darauf gelegt, rechtsstaatliche Verfahrensabläufe verständlich, aber genau zu schildern. Sind nämlich von Ermittlungshandlungen bürgerliche Grundrechte tangiert, empfinde ich grobe Schnitzer, wie sie leider auch in der Krimilandschaft vorkommen, als fatal. Denn sie berühren in vielen Fällen das Selbstverständnis des Rechtsstaats, in dem wir leben. Und in diesem Staat stellen Polizisten nun eben mal keine Durchsuchungsbefehle aus, sie brechen nicht auf der Suche nach belastendem Beweismaterial so ganz nebenbei in Wohnungen oder Büros ein, sie verweigern Beschuldigten nicht regelmäßig den anwaltlichen Beistand und so weiter. Andererseits lassen sich Geldtransfers auf dem Girokonto des Betroffenen durch Bankermittlungen herausbekommen, auch wenn man als Ermittler keine Bankmitarbeiterin persönlich kennt und sich von ihr unter der Hand Daten zuspielen lässt. Dazu braucht es in Realität, mit oder ohne Bankbekanntschaft, eine richterliche Anordnung. Und die beantragt auch nicht die Polizei, sondern die Staatsanwaltschaft ( Das Bankgeheimnis).
Hoffentlich finden Sie auf Ihre Fragen im Folgenden auch die passenden Antworten. Nur auf eine ganz sicher nicht, deshalb gleich vorweg: In Streifenwagen gibt es keine Ringe, an denen Handschellen festgemacht werden. Der Gefangene wird an der Flucht gehindert, indem er hinten geschlossen und ins Fahrzeug gesetzt wird ( Der Weg in die Untersuchungshaft).
Manfred Büttner