Читать книгу Von Arsen bis Zielfahndung - Christine Lehmann, Manfred Büttner - Страница 8

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Teil 1 Das Mordmotiv

Die Motivierung eines Mordes ist die Domäne des Krimis. Rache, Hass, Angst oder Wahnvorstellungen wollen psychologisch nachvollziehbar erklärt werden. Kein Lektor lässt einen Krimi passieren, in dem nicht begründet wird, warum die fiktiven Figuren so handeln, wie sie handeln, und der am Schluss nicht offenlegt, aus welchen zwingenden Gründen der Täter getötet hat. In Realität aber werden viele Tötungsdelikte vor Gericht verhandelt und Angeklagte verurteilt, ohne dass je klar wird, warum sie die Tat begangen haben.

Für uns aber ist das Motiv entscheidend. Denn wir wollen uns schreckliche Ereignisse erklären. Gewaltsame Todesfälle gehören für die Hinterbliebenen zu den fürchterlichsten Schicksalsschlägen überhaupt. Die Frage »Warum?« ist die quälendste Frage, die sich Angehörige stellen. Sie führt bis ins Religiöse und endet oft in der eigenen Schuldfrage: »Was habe ich getan, dass ich das verdiene? Warum musste mir das zustoßen?« Für den Tod eines Angehörigen brauchen wir nicht nur unbedingt einen Schuldigen, also den Täter, sondern wir möchten von ihm auch wissen, warum er die Tat begangen hat, deren Folgen uns aus der Bahn werfen.

Der Krimi ist vermutlich so beliebt, weil er die Schreckensvision dessen, was uns persönlich zustoßen kann, kunstvoll bannt. Deshalb akzeptiert er es auch als seine Aufgabe zu erklären, warum Menschen unvorstellbare Verbrechen begehen.


Rache

Psychologen sagen, jeder Mensch habe in seinem Leben schon mindestens einmal gewünscht, eine Person umzubringen. Aber die wenigsten tun es. Im Allgemeinen vermutet man, es hänge damit zusammen, dass wir die Folgen fürchten, also Ausgrenzung und Strafe. Andere meinen, Menschen hätten wie die meisten Tiere eine natürliche Hemmung, Mitglieder ihrer eigenen Art zu töten. Das trifft allerdings schon im Tierreich nicht zu. Die sozialen und moralischen Sperren in einer Zivilgesellschaft sind jedoch ziemlich hoch. Und komplex. Damit ein Mensch sich entschließt zu töten, muss vieles zusammenkommen.

Von allen Hassgefühlen verstehen wir keines so gut wie das Gefühl: Dem zahle ich es heim.


Der Investmentvertreter Harry Brenner hat hundert Anleger um ihr Erspartes betrogen, indem er ihnen wertlose Ostimmobilien als Geldanlage fürs Alter empfahl. Er suggerierte Renditen von über 100 Prozent. Die Immobilien erweisen sich als leerstehende Bauruinen. Die Betrogenen zeigen Harry Brenner wegen Betrugs an. Er nimmt sich einen guten Rechtsanwalt, der vor Gericht darlegen kann, dass das Kleingedruckte Hinweise enthielt, dass die Rendite sehr viel niedriger liegen kann. Einer der Kläger, der Rentner Müller, verliert schon im Gerichtssaal die Nerven und wird rausgeschickt. Der Richter befindet, allein der gesunde Menschenverstand und die Lebenserfahrung hätten Müller sagen müssen, dass Renditen von über 100 Prozent nicht vorkommen können, und spricht den Angeklagten vom Vorwurf des Betrugs frei.

Auf der Treppe vor dem Amtsgericht wartet Rentner Müller auf den siegreichen Angeklagten, zieht eine Pistole und schießt ihn nieder.

Versuchen wir uns zu erinnern, wann wir zuletzt in den Medien von so einem Mord gehört haben. Wann ist ein zynischer Banker, ein Betrüger, ein Pädokrimineller, ein Vergewaltiger oder ein mobbender Chef ermordet worden? Im Ernst: Solche Morde geschehen in Realität fast nie. Und das, obgleich es uns überhaupt nicht schwerfällt, Wut und Rache, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit als überzeugendes Motiv zu akzeptieren. Es gibt zahl­lose Filme und Romane, die ihren Handlungsimpuls aus dem Rachefeldzug ihres Pro­tagonisten beziehen. Und wir wünschen dem Täter Erfolg und Freispruch.

Tatsächlich aber lohnt es sich nicht, einen Betrüger oder Vergewaltiger zu ermorden. Der Gewinn wiegt den hohen Einsatz nicht auf. Rentner Müller bekommt sein Geld nicht wieder, wenn er den Betrüger erschießt, und während Harry Brenner nun tot und seine Sorgen los ist, kommt er selbst als Schütze lebenslänglich ins Gefängnis und hat jede Menge Ärger. Auch eine vergewaltigte und ermordete Tochter wird nicht wieder lebendig, wenn ich den Täter töte. Aber bestimmt komme ich dafür lange hinter Gitter.

Wenn es doch passiert, haben solche Taten einen erschreckend pubertären Charakter. Sie passen eher in die Phase der menschlichen Entwicklung, in der wir zu überdimensionalen und absoluten Gefühlsreaktionen neigen und in unserem Bewertungssystem noch nicht das Wichtige von Unwichtigem zu trennen gelernt haben. Da wird eine banale Kränkung zur tödlichen und unsere Reaktion auch.

Des Nachts im November 2007 nimmt eine 15-Jährige die Pistole ihres Vaters aus dem Tresor und setzt das Magazin ein. Mit der Waffe geht sie in das Zimmer ihres Bruders und macht Licht. Der zehn Jahre ältere Bruder wacht auf. Sie drückt zwei Mal ab. Aber es löst sich kein Schuss, denn sie hat vergessen, die Waffe durchzuladen. Die Mutter vertraut die Geschichte einem Lehrer an, und der verständigt die Polizei. Das Gericht verurteilt das Mädchen ein Jahr später zu zwei Jahren auf Bewährung. Als Motiv erkennt das Gericht an, dass der Bruder das Mädchen am Tag der Tat schwer sexuell beleidigt, gedemütigt und verletzt hatte. Mehr wird aus der Verhandlung nicht bekannt. (dpa, Dezember 2008)

Wenn Jugendliche einen Rentner zusammenschlagen, der sie in der U-Bahn auffordert, nicht zu rauchen, tun sie im Grunde genau das, was wir eigentlich gut verstehen: Sie strafen den ab, der ihnen dumm und frech kommt. Nur in diesem Fall schütteln wir die Köpfe, weil in unseren Augen das Ausmaß von Gewalt dem Anlass nicht angemessen ist. Aber das ist es genauso wenig bei Schüssen auf einen betrügerischen Investmentvertreter, der uns um die Ersparnisse fürs Alter gebracht hat.

Die naheliegende Idee, dass eine Frau langjährige Misshandlungen durch ihren Ehemann mit einem feinen Mord beendet, entspricht auch nicht dem, was in Realität passiert. Denn die Gefühle, die ein Opfer (von Gewalt, Mobbing oder Ungerechtigkeit) durchlebt und in sich ansammelt – Wut, Angst, Ohnmacht, Hass –, taugen kaum als Antrieb für eine große Tat. Opfer fühlen sich ohnmächtig.

Tötet ein Opfer oder aber – eher möglich – der Elternteil eines Opfers doch, so sind seine Gefühle so gut nachvollziehbar, dass sogar die Gerichte mildernde Umstände berücksichtigen. Wir neigen dazu, Rache­taten und Selbstjustiz zu entschuldigen. Einem Bösen etwas Böses antun, ihn also strafen, entspricht unseren primitiven kriegerischen Gefühlsstrukturen, auch wenn in westlich-bürgerlich geprägten Gesellschaften wie Deutschland gerade diese Gefühle wirkungsvoll in Schach gehalten werden.

Am 6. März 1981 erschießt Marianne Bachmeier im Gerichtssaal in Lübeck den noch nicht verurteilten Mörder ihrer Tochter, Klaus Grabowski. Einen solchen Fall von Selbstjustiz hat es bis dahin in Deutschland nicht gegeben. Nach eigener Darstellung hat Bachmeier vor allem auf die Behauptungen Grabow­skis ­reagiert, ihre kleine Tochter Anna habe ihre Misshandlung provoziert, sei selber schuld und habe ihm sogar gedroht, Lügen über ihn zu erzählen. Sie habe gewollt, dass der Mann aufhört, ihre Tochter zu diffamieren. Sie schießt am dritten Verhandlungstag dem Angeklagten in den Rücken. Sie drückt acht Mal ab, sechs Schüsse treffen. Grabowski ist sofort tot. Bachmeier wird 1982 jedoch nicht wegen Mordes verurteilt, obgleich die Tat, juristisch gesehen, Merkmale wie Planung und Heimtücke aufweist, sondern wegen Totschlags, und zwar zu sechs Jahren Haft. Bachmeier stirbt 1996, wieder in Freiheit, im Alter von 46 Jahren an Krebs.

Dass Bachmeier sich eine Waffe besorgte und tatsächlich schoss, hat vermutlich auch mit ihrer Biographie zu tun. Sie ist auffällig unbürgerlich, gebrochen und von Gewalterfahrungen geprägt ( Frauenquote).

Herrschsucht

Gedemütigte suchen Anlässe, die sie aus der Depression holen. Dafür müssen sie das neuronale Belohnungssystem in Gang setzen. Es basiert auf dem Neurotransmitter Dopamin, auch als Glückshormon bekannt. Die Dopamin-Ausschüttung im Hirn als Belohnung für eine Anstrengung, die mit hohem Risiko verbunden sein kann, ist das stärkste Stimulans für Hochleistungen und Wiederholungstaten. Es ist das, was Kinderpornovertreiber und -nutzer im Internet blind macht für das Risiko, erwischt zu werden, was Betrüger, Erpresser und Diebe immer weiter treibt, obgleich der Untergang schon absehbar ist, was Serienmörder bezwingt ( Serienmörder).

Wer mordet, sucht und erlebt ein Gefühl von Macht. Er sucht Kontrolle über sein Leben und die Bedingungen, die es bestimmen, er gewinnt Handlungsmacht. Das gilt für einen Amokläufer genauso wie für einen Vater, der seine Familie auslöscht. Sie sehen sich als Opfer, sind aber faktisch Täter.

Strafe

Darunter fallen Mafia-Morde, die auch in Deutschland nicht so selten sind. Sie dienen der Warnung. Die Bestrafung eines Abtrünnigen soll anderen Angst machen, die mit dem Gedanken spielen, sich nicht mehr den Regeln der Mafia zu unterwerfen. Auch bei der Blutrache handelt es sich um ein innerhalb des sozialen Zusammenhangs anerkanntes Mittel der Strafe. So demonstriert eine Gruppe ihre Macht. Unter Umständen tut das auch ein Staat, der die Todesstrafe verhängt, ebenfalls mit dem Argument der Abschreckung, die aber, wie wir wissen, nicht wirkt. Denn es gibt auch Individuen, die ihre Angst, getötet zu werden, überwinden, entweder weil sie glauben, davonzukommen oder berühmt zu werden, weil sie verliebt sind oder weil sie nichts mehr zu verlieren haben.

Der sogenannte Ehrenmord fällt noch eindeutiger in die Kategorie patriarchalischer Herrschaftsmorde. Er wird mitleidlos geplant und begangen, einzig und allein, um eine junge Frau zu töten, weil sie die Spielregeln nicht beachtet und Eigenmächtigkeiten entfaltet hat, die sie letztlich aus dem Machtgefüge emanzipieren würden. Die Frau wird ermordet, um ein Herrschaftssystem des Schreckens aufrechtzuerhalten. Die von uns so beschönigend bezeichneten Ehrenmorde erfüllen alle Kriterien des Mordes: Sie werden geplant, sie sind heimtückisch (der Täter ist bewaffnet und überrascht das wehrlose Opfer) und sie geschehen aus niederen Beweggründen, nämlich aus Herrschsucht. Zudem stehen sie im Grundsatz einer terroristischen Tat nahe. Es wird sogar eine terroristische Vereinigung gegründet: Der Familienclan – Vater und Brüder des Opfers – legt fest, dass die ­Tochter/Schwester sterben muss, und bestimmt, dass der Jüngste, der noch unter Jugendstrafrecht fällt, die Tat ausführt.

Familiendrama

Die meisten Tötungsdelikte werden in der Familie begangen. Für einen Krimi erscheinen sie uns zu banal, zu eindeutig, im Grunde unverständlich und zugleich bestens bekannt, ja stereotyp.

Ein Mann tötet seine Kinder, seine Frau und dann sich selbst. Er sticht die Frau ab, die sich von ihm getrennt hat, oder er ermordet die Kinder, damit die Frau sie nicht bekommt. Ein Sohn erschlägt seine Eltern. Eine Mutter tötet ihre Kinder. Gerade diese Taten, die vergleichsweise häufig sind, entziehen sich unserem Verständnis am meisten. Sie machen deutlich, dass Menschen, die töten, sich in einer emotionalen Extremsituation befinden, die für Außenstehende kaum verständlich ist.

In dem in den Medien so beliebten Wort »Familiendrama« steckt übrigens die ganze gesellschaftliche Ratlosigkeit angesichts solcher Taten. Insgeheim nehmen wir an, dass die Frau, die im Ehestreit erstochen wird, ihren Teil zum Drama beigetragen, also provoziert hat. »Zum Streiten gehören immer zwei«, wie es so schön heißt. Tatsächlich aber findet das Drama im Kopf des Mannes statt und hat sich über einen längeren Zeitraum aufgebaut. Sein Leben gerät ihm außer Kontrolle, seine Frau unterwirft sich seinen Konzepten nicht. Nur wenn er sie tötet, gewinnt er die Kontrolle zurück. Nur tot gehört ihm die Frau ganz. Da mischen sich Verlustangst – mit der Geliebten verliert der Verlassene den sozialen Halt, die Lebens­perspektive und sein Ich – und Herrschsucht: »Wenn ich dich nicht kriege, kriegt dich keiner.« Oder: »Wenn ich die Kinder nicht kriege, bekommst du sie auch nicht.«

Der Gewinn ist zwar paradox, aber hoch. Der Verlassene gewinnt nur dann Kontrolle über die Person, die ihn verlässt, wenn er sie tötet. Dann kann sie sich nämlich überhaupt nicht mehr bewegen. Erst nach der Tat mag dem Täter aufgehen, dass er sich den Gewinn befriedigender vorgestellt hat, als er ist. Er wird sich und anderen nie wirklich erklären können, wieso ihn diese Gefühle von Wut, Eifersucht und/oder Kränkung so haben beherrschen können, dass er zugestochen, zugeschlagen, gewürgt oder geschossen hat. Gekränkte männliche Ehre, gekränkte Männlichkeit oder frustrierte männliche Herrschsucht sind, wie die Wirklichkeit zeigt, äußerst starke Tatmotive.

Erweiterter Selbstmord

Oft beschließt der Täter, nicht nur mit dem Leben seiner Freundin, seiner Frau und seiner Kinder, sondern auch mit seinem eigenen Leben Schluss zu machen. Psychologen und Juristen nennen das einen erweiterten Selbstmord (Unwort des Jahres 2006 in der Schweiz). Auch das ist eine Tat, die typischerweise Männer begehen. Häufig sind es banale und an sich lösbare wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Männer dazu bringen, ihre Frau und ihre Kinder zu töten, weil sie glauben, diese würden mit den Problemen genauso wenig fertig wie sie selbst. Er befindet sich in einem Seelenzustand von Angst, Sorge, Verzweiflung, Stress und Depression, in dem er keinerlei vernünftigen Ausweg mehr sieht.

So ein Mann kann sich nicht vorstellen, dass andere Menschen, seine Frau oder seine Kinder, für ihr eigenes Leben verantwortlich sind und sein wollen. Er glaubt, seine Frau lebe nur für ihn und durch ihn. Dass sie nicht sterben will und vor allem die Kinder leben wollen, kann er nicht denken. Und zuweilen fällt es auch uns schwer, das zu denken. Als der Ex-General und Grünen-Politiker Gert Bastian im Jahr 1992 seine Lebensgefährtin, die Grünen-Politikerin Petra Kelly, im Schlaf erschoss und anschließend sich selbst, dauerte es eine Weile, bis die Medien darauf kamen, dass man in diesem Fall nicht einfach von Doppel-Selbstmord sprechen konnte, sondern dass es sich hier vermutlich um einen Mord mit anschließendem Suizid handelte.

Der Begriff Familiendrama verfälscht und verharmlost auch hier die ­Situation. Er verschweigt nämlich, wer der Täter ist, und impliziert, dass Frau und Kinder in irgendeiner Form aktiver Teil der Handlung waren. Tatsächlich aber hat hier ein Mann schweigend eine einsame Entscheidung getroffen, Frau und Kinder ermordet (geplant, heimtückisch und aus niederen Beweggründen) und sich dann selbst das Leben genommen.

Es gibt übrigens auch Frauen, die einen sogenannten erweiterten Selbstmord begehen, sie töten dabei aber nicht ihre Männer oder Lebensgefährten, sondern ihre von ihnen abhängigen Kinder. Abgesehen von den unerkannten Fällen, wo eine Frau sich und ihren Mann vergiftet hat, vielleicht weil sich beide in hohem Alter befanden, der Umzug ins Heim anstand oder sie ihn nicht alleine zurücklassen wollte.

Ohnmacht des Opfers

Während uns die subjektiven Opfer, ihre narzisstische Kränkung und ihre grausamen Taten fremd bleiben und als Krimifiguren nur taugen, wenn wir uns auf ein paranoides inneres Drama einlassen wollen, erscheinen uns alle Taten klar, die von echten Opfern begangen werden. Sie taugen bestens für handlungsorientierte und plausibel erscheinende Geschichten.

Erpressung

Erpressung gehört zu den zutiefst verletzenden Opfererfahrungen. Es ist deshalb für jeden nachvollziehbar, wenn das Opfer seinen Peiniger tötet. In der deutschen Realität passiert das aber höchstens alle zehn Jahre mal.

Fanny Fuchs verdient sich ein Taschengeld, von dem ihr Mann nichts wissen soll, in einer Boutique. Sie wird von einer Kollegin dabei erwischt, wie sie Modeschmuck im Wert von 7 € in die Handtasche steckt und nicht bezahlt. Die Kollegin zeigt sich dann aber bereit, den Diebstahl nicht anzuzeigen – Fanny wäre dann vorbestraft und niemand würde sie mehr anstellen –, wenn Fanny ihr künftig monatlich einen Teil des Verdienstes bis zu einem Betrag von insgesamt 2000 € zahlt. Fanny lässt sich darauf ein, zahlt im Lauf von einem halben Jahr 2000 €. Danach meldet die Kollegin den Diebstahl der Chefin, und Fanny wird gekündigt.

Fanny wäre besser zur Staatsanwaltschaft gegangen und hätte die Erpressung angezeigt. Die Staatsanwaltschaft hätte von der Verfolgung des Diebstahls abgesehen, selbst wenn sie mehr gestohlen hätte.

§ 154c Strafprozessordnung:

(1) Ist eine Nötigung oder Erpressung (§§ 240, 253 des Strafgesetzbuches) durch die Drohung begangen worden, eine Straftat zu offenbaren, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Tat, deren Offenbarung angedroht worden ist, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist.

(2) Zeigt das Opfer einer Nötigung oder Erpressung (§§ 240, 253 des Strafgesetzbuches) diese an (§ 158) und wird hierdurch bedingt ein vom Opfer begangenes Vergehen bekannt, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung des Vergehens ­absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist.

Die Kollegin hingegen wäre wegen Erpressung angeklagt worden (Höchststrafe 5 Jahre) und hätte das erpresste Geld an Fanny zurück­geben und womöglich sogar noch Schadensersatz leisten müssen. Außerdem wäre sie daraufhin entlassen worden. Fanny Fuchs allerdings auch. Denn wer klaut, wird entlassen. »Zeig deine Kollegin wegen Erpressung an!«, sagt sich daher leicht. Die Frage ist, wie viel Fanny ihr Arbeitsplatz wert ist.

Dass nach einem geringfügigen Diebstahl der Verlust des Arbeitsplatzes droht, könnte eine erpresste Mitarbeiterin objektiv in eine so gravierende Zwangslage bringen, dass sie den Gang zur Staatsanwaltschaft oder Polizei scheut. Vermutlich wäre es dann Fannys Liebhaber, Hans-Jürgen, der sich überlegt, wie er die Kollegin umbringt, um seine Freundin vom Erpressungsdruck zu befreien. Im Krimi kommt der Folgemord am Erpresser immer wieder vor. Und tatsächlich bleibt nicht jeder Erpresste straffrei.

Fanny Fuchs hat sich von ihrem Mann Dieter getrennt. Jetzt will sie die Möbel holen. Sie bringt Hans-Jürgen mit. Der brüstet sich Dieter gegenüber, er sei schon lange Fannys Liebhaber. Fanny stichelt außerdem, Hans-Jürgen sei auch viel besser im Bett. Im nachfolgenden Handgemenge der beiden Männer würgt Dieter den Liebhaber, Fanny hat Angst um Hans-Jürgen und sticht mit einem mauretanischen Krummdolch von hinten auf Dieter ein.

Sie flüchten aus der Wohnung, ohne sich um Dieter zu kümmern.

Anders als erwartet, ist Hans-Jürgen jedoch nicht dankbar, sondern fühlt sich in seiner männlichen Ehre gekränkt. Er sei nie in Gefahr gewesen, er habe Dieter gerade überwältigen wollen. Und, was Fanny nicht weiß, Dieter hat die Attacke überlebt. Hans-Jürgen macht mit Fanny Schluss und fängt an, sie zu erpressen. Als nach ein paar Wochen ihr Erspartes aufgebraucht ist, verabredet sie sich mit Hans-Jürgen im Wald. Sie bringt ein Küchenmesser mit, um ihn umzubringen.

Völlig unnötig! Nehmen wir an, Fanny wäre im Glauben, niemand würde ihr die Notwehr abnehmen, und denkt, sie habe sich des Totschlags an Dieter schuldig gemacht. Dann bliebe Fanny wirklich nicht straffrei, auch wenn sie die Erpressung durch Hans-Jürgen bei der Polizei anzeigen würde. Sie müsste dann nämlich in einem minderschweren Fall des Totschlags mit einer Strafe zwischen einem und zehn Jahren rechnen. Und eine Einstellung des Verfahrens nach § 154c StPO kommt nur in Betracht, wenn die Nötigung oder Erpressung strafwürdiger ist als die Tat des Erpressten. Sie hätte also schon einiges zu verlieren. Einen Mord an Hans-Jürgen ist die Sache aber auf keinen Fall wert. Für die geplante Tötung zur Verdeckung einer anderen Straftat bekäme Fanny in jedem Fall ­lebenslang.


Das Stockholm-Syndrom

Opfer töten nicht, oder nur dann, wenn sie sich nicht mehr als Opfer erleben. Die Erfahrung von Stress, Ohnmacht und Verzweiflung vernichtet unseren Glauben an unsere Kraft und Handlungsmacht. Das gilt auch und vor allem für Opfer andauernder Misshandlung. Sie investieren ihre emotionale Kraft darein, den Täter freundlich zu stimmen. Es ist ihre einzige Chance, die für sie nachteilige Beziehung zu beeinflussen. Und selbst wenn sie sich über all die Zeit ausmalen, was sie ihrem Peiniger antun würden oder könnten, so hemmt sie die Angst vor seiner Strafe bei Misslingen eines Befreiungsschlags. Ihr Gehirn ist auf Depression und Ohnmacht gestellt. Es sucht nach Erleichterung unter unerträglichen Bedingungen.

Die Beziehung, die eine Geisel zu ihrem Geiselnehmer entwickelt, nennt man Stockholm-Syndrom. Sie kann so weit gehen, dass die Geisel sich in ihren Geiselnehmer verliebt und ihm hilft.

Das Phänomen wurde erstmals beleuchtet nach einer fünftägigen Geiselnahme in einer Stockholmer Bank 1973. Die vier Angestellten, die als Geiseln genommen wurden, entwickelten eine größere Angst vor der ­Polizei und einem Polizeizugriff als vor ihren Geiselnehmern. Nach Beendigung der Geiselnahme empfanden sie keinen Hass auf ihre Geiselnehmer, sie waren ihnen dankbar, freigelassen worden zu sein, und baten um Gnade für die Täter.

Die Frauenquote

Wenn wir einen Krimi schreiben, stellt sich stets die Frage: Wer soll den Mord begangen haben? Eine Überraschung hätten wir schon gern, etwas völlig Unerwartetes. Zu Zeiten von Agatha Christie galten Pfarrer noch als tabu, aber inzwischen haben wir jede Berufsgruppe als Mörder durch. Also kommen wir zurück aufs Grundsätzliche. Einen Mord kann immer nur entweder ein Mann oder eine Frau begangen haben (auch als Kind nur ein Junge oder ein Mädchen). Damit es doch eine kleine Überraschung gibt, wird in schätzungsweise der Hälfte aller Krimis nach Ermittlungen in männlich dominierten Zusammenhängen eine Frau aus bürgerlichem Milieu entlarvt, übrigens meist mit einem Totschlagsdelikt und der Beteuerung: »Das habe ich nicht gewollt.«

Das funktioniert nur deshalb, weil wir im Grunde alle wissen, dass Verbrechen in der überwiegenden Mehrzahl von Männern begangen werden. Die Frauenquote liegt in Deutschland bei etwa 8 Prozent. Das gilt auch für Gewalt gegen andere Menschen. Nur etwa 10 Prozent der Tötungs­delikte werden von Frauen begangen, bei körperlicher Gewalt gegen andere, auch Mord- und Totschlagsversuchen, liegt die Frauenquote sogar bei nur 3 ­Prozent.

Ende 2008 saßen in deutschen Gefängnissen 73 203 Menschen ein; nur 5 Prozent, also 3916, von ihnen waren Frauen. Die deutsche Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts von 2006 weist 400 Männer aus, gegen die wegen eines Tötungsdelikts ermittelt wurde, aber nur 41 Frauen. Bei den Körperverletzungen waren es 1993 Männer, aber nur 66 Frauen. Eine Studie aus den siebziger Jahren zeigt außerdem, dass damals keine einzige (!) Frau aus der bürgerlichen Schicht wegen eines Tötungsdelikts im Gefängnis saß1, auch wenn damals im Fernsehkrimi wie Derrick oder Der Kommissar ständig bürgerliche Frauen als Mörderinnen aus Habgier und sonstigen niederen Beweggründen ermittelt wurden.

Frauen sind nicht die besseren Menschen, Gewalt passt nur nicht zum weiblichen Selbstbild. Die Protagonistin des Films Eine Frau sieht Rot würde mit stark männlichen Zügen und sportlichem Anstrich dargestellt werden, nicht als mollige Hausmutti. Frauen suchen für Konflikte andere Lösungen, bei denen sie ihre sozialen und kommunikativen Kompetenzen nutzen können. Tatsächlich sind es vor allem junge, ledige Männer am unteren Rand der Gesellschaft, die Gewaltverbrechen begehen. Ein Männerüberschuss in bestimmten Gegenden, Stadtvierteln und Ländern lässt die Gewaltstatistik zuverlässig steigen, so in China und Indien, wo weibliche Feten abgetrieben und Mädchen durch Vernachlässigung umgebracht werden und ein gewaltiger Männerüberschuss entsteht. Während die Männer aus den Oberschichten Frauen aus der Unterschicht heiraten können, gehen die Unterschichtmänner zunehmend leer aus. Sie können keinen ehelichen Sex haben, keine Familie gründen und sehen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Wozu sich dann noch sozial verhalten?

Wir behandeln also einen Sonderfall, wenn wir in unserem Krimi eine Frau zur Mörderin oder Totschlägerin machen. Und wenn wir es tun, dann bedienen wir auch ein latent frauenfeindliches Gruselklischee, das da lautet: Eigentlich sind die Frauen im Hintergrund die wirklich Bösen ( Der Giftmord). In Realität haben Frauen, die töten, noch häufiger als männliche Täter eine gebrochene, nicht-bürgerlich orientierte Biographie ( Täterprofil). Sie stammen aus Familien mit unsteten Bezugspersonen, haben Gewalt erfahren und erfolgreich selbst zugeschlagen. Sie sind unstet im Job und haben wechselnde Lebenspartner. Juristisch ist der Totschlag vielleicht die harmlosere Tat, doch er ist die Tat, zu der Frauen am wenigsten neigen. Zumindest statistisch gesehen und wenn wir nicht annehmen wollen, dass Frauen von den Gerichten immer noch zu Unrecht öfter wegen Mordes verurteilt werden als wegen Totschlags.

Mordende Mütter

Es täuscht, wenn wir meinen, Kindstötungen hätten zugenommen. Es hängt davon ab, wie wir Statistiken lesen. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik in Deutschland (PKS) weist für das Jahr 2006 aus, dass 202 Kinder getötet wurden, sechs Jahre zuvor waren es noch 293 Kinder gewesen. In 37 Fällen wurden Kinder ermordet, in 55 Fällen handelte es sich um Totschlag, in 12 Fällen um Körperverletzung mit Todesfolge. Beim Rest handelte es sich um Unglücksfälle. Für das Jahr 2007 zählt der Bund Deutscher Kriminalbeamter 173 Kinder, die gewaltsam gestorben sind, darunter auch solche, die beispielsweise von der Schaukel gefallen sind, weil die Eltern nicht aufgepasst haben. Nach Aussagen des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, dessen Chef der bekannte Kriminologe ­Christian Pfeiffer ist, liegt die Zahl der Kindstötungen über Jahre hinweg bei durchschnittlich 90 im Jahr. Pfeiffer nimmt an, dass im Osten Deutschlands mehr Kinder getötet werden, und vermutet als Gründe Armut und Überforderung der Mütter in ihrer Mutterrolle. Andere Untersuchungen ­widersprechen dem.

Schreikinder können Mütter schon in den Wahnsinn treiben, Babys, die schlecht essen, können bei perfektionistisch veranlagten Frauen heftige Schuldgefühle erzeugen. Doch erst der soziale und psychologische Hintergrund einer zumindest gebrochenen bürgerlichen Biographie macht aus einer genervten Mutter eine Mörderin. Depressiv strukturierte Mütter wollen es besonders gut machen und setzen sich bis zur Erschöpfung unter Druck. Das Gefühl, es nicht zu schaffen und schuld zu sein, kann sich zur Psychose auswachsen.

Am Spätnachmittag des 12. Dezembers 2008 hebt eine 33-jährige Frau ihre vier Jahre alte Tochter über das 1,30 m hohe Geländer einer Neckarbrücke in Stuttgart-Untertürkheim und lässt sie sechs Meter tief ins kalte Wasser fallen. Die Obduktion ergibt, dass das Kind ertrunken ist. Die Mutter stellt sich Stunden später der Polizei und erzählt, sie habe sich selbst umbringen wollen, sie sei mit dem Kind überfordert gewesen.

Am Vormittag hat sie für ihren Mann auf einen Zettel geschrieben: »Lebewohl, du Riesenidiot. Suche nicht nach uns, denn uns gibt es nicht mehr. Du kannst in Ruhe fernsehen, dich wird niemand mehr stören.« Am Spätnachmittag weigert sich ihr Mann, sie mit dem Auto bei ihrer Mutter und ihrem Bruder abzuholen. Außerdem gibt es Streit mit ihrer Mutter über Erziehungsfragen. Sie verlässt das Haus und geht an der Neckarbrücke auf und ab. Das Kind fragt – so erzählt sie vor Gericht –, warum sie immer ins Wasser starre. Da nimmt sie ihre Tochter, hebt sie übers Geländer und lässt sie fallen.

Ihre Familie zeigt sich von der Tat überrascht. Die Frau hat mehrmals beim Jugendamt um Hilfe gebeten und ist wegen Depressionen in Behandlung gewesen. Vor Gericht erklärt sie, sie habe ihr Kind eigentlich nach der Geburt in Pflege geben wollen. Sie habe sich alleingelassen gefühlt.

Die Frau wird wegen Mordes angeklagt. Der Richter nimmt ihr nicht ab, dass sie ernsthafte Selbstmordabsichten gehabt hat, kann eine akute Überlastungssituation nicht feststellen, hält es für denkbar, dass sie mit dem Mord an ihrem Kind ihren Mann und ihre Familie habe anklagen wollen, weil sie ihnen die Schuld für ihre subjektiv ausweglose Situation gebe, hält sie für voll schuldfähig und verurteilt sie am 27. Mai 2009 wegen heimtückischen Mordes zu lebenslänglich.

Männer ermorden Kinder tatsächlich eher deshalb, weil sie sie der Frau, die sich von ihnen getrennt hat, nicht gönnen. Sie wollen sie treffen, abstrafen. Vielleicht hat der Richter deshalb so geurteilt.

In sozial benachteiligten Familien sterben Kinder auch an Vernachlässigung. Meist sind beide Partner daran beteiligt. Sie sind auf unvorstellbare Weise gefühlsflach, haben nie eine Gefühlskultur gelernt, sind überfordert, genervt, hilflos und verunsichert.

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

Außerdem gibt es bei Frauen einen seltenen psychischen Defekt, für den die Psychologen den Lügenbaron Münchhausen bemühen. Beim Münchhausen-Syndrom täuschen Menschen Krankheiten vor, um die Aufmerksamkeit der Familie und der Ärzte zu erringen. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom nehmen Sorgeberechtigte, meist Mütter, ihre Kinder dafür. Sie vergiften sie mit Medikamenten, brechen ihnen die Knochen, behaupten, sie hätten epileptische Anfälle, schleppen sie zu Ärzten und sorgen dafür, dass sie ins Krankenhaus kommen. Im Krankenhaus kümmern sie sich rührend. Doch wenn niemand hinschaut, drücken sie dem Kind den Hals zu oder ein Kissen aufs Gesicht und alarmieren Krankenschwestern und Ärzte. Ein gewisser, nicht genau bekannter Prozentsatz der Kinder (zwischen 5 und 35 Prozent) stirbt an den Misshandlungen.

Nach derzeit geltender Auffassung gehören diese Frauen zu den intelligenteren, haben sich früher selbst verletzt (Borderline), sind oft Krankenschwestern gewesen und suchen jetzt dringend Aufmerksamkeit. Sie finden sie bei Ärzten und Krankenschwestern. Sie erscheinen als aufopferungsvolle und perfekte Mütter.

Das Krankheitsbild gehört zu den gruseligsten und darum reizvollsten Misstrauenserklärungen gegen unsere Mütter. Erfunden hat das Syndrom ein britischer Kindermediziner in den siebziger Jahren. Als Gerichtsgutachter vermutete er in den folgenden Jahrzehnten praktisch hinter jedem plötzlichen Kindstod eine mordende Mutter. Über 300 Mütter wurden verurteilt, bis ein Fehler in der Wahrscheinlichkeitsrechnung des Mediziners die britische Justiz zur Neuauflage der Prozesse zwang und etliche Mütter wieder freigelassen werden mussten. Der Arzt ist zwar inzwischen rehabilitiert und geadelt, aber noch immer hat die Diagnose Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom etwas von Verfolgungswahn. In Deutschland ist sie derzeit bei ­Jugendämtern eine relativ beliebte und unverhältnismäßig oft vorkommende Begründung, um Müttern Kinder wegzunehmen und bei Pflegefamilien in Obhut zu stecken.

Die Erkrankung ist aber eigentlich sehr selten. Nur schätzungsweise ein Kind von einer Million dürfte betroffen sein. Es ist allerdings schwierig, einer solchen Mutter in dem Labyrinth von Lügen auf die Spur zu kommen. In deutschen Krankenhäusern kann man nicht einfach die Krankenzimmer von Kindern mit ihren aufopferungsvollen Müttern mit Kameras überwachen. Es gibt auch bereits erste Krimis, die das Phänomen behandeln, zum Beispiel Spur ins Nichts aus der Serie Hautnah. Die Methode Hill (ZDF, 1.3.2009, original GB).

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom wird auch bei Krankenschwestern diagnostiziert, die Kinder töten. Sie werden von der Umgebung als besonders engagiert, zuverlässig und aufopferungsvoll in ihrem unermüdlichen Einsatz für die Kinder erlebt.

1984 wird in Texas eine Krankenschwester zu 25 Jahren Haft verurteilt, die vermutlich mehr als 30 Kinder mit Suxamethonium, dem künstlichen Kurare, umgebracht hat. Sie war derartig fasziniert davon, Babys nach einem plötzlichen Herzstillstand wiederzubeleben, dass sie begann, ihnen dieses Mittel zu injizieren, um das Glück zu erleben, sie zu retten. Bei ihr wird das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom diagnostiziert. Ob zu Recht oder zu Unrecht, bleibt dahingestellt.


Neonatizid

Wenn Mütter soeben geborene Kinder töten oder sterben lassen und in Blumentöpfen auf dem Balkon vergraben oder in Mülleimern entsorgen, reagieren wir mit besonderem Unverständnis. Denn heutzutage werden Mütter nichtehelicher Kinder gesellschaftlich nicht angeprangert, nicht einmal geächtet. Es gibt keinen äußeren Grund, ein Neugeborenes zu töten. In China oder Indien dagegen ist das Töten weiblicher Feten oder Neu­geborener eine Art Geburtenkontrolle.

Die emotionale Ausstattung von Frauen, die so etwas tun, ist dürftig. Sie sind sozial ausgegrenzt, intellektuell minderbemittelt oder schwerst psychisch krank. Ihnen sind die Organe, Behörden und offiziellen Einrichtungen des Staates, einschließlich der Gesundheitssysteme, fremd. Sie sind unfähig, Probleme zu erkennen, anzunehmen und zu lösen, und sie haben wirkungsvolle Strategien, die Realität zu verdrängen und ihr auszuweichen. Meistens sind sie suchtkrank. Eine wirklich vernünftige Erklärung gibt es in der deutschen Gesellschaft für Kindsmord nicht.

Unbemerkte Schwangerschaft

Besonderes Kopfschütteln löst es bei uns aus, wenn solche Frauen erklären, sie hätten ihre Schwangerschaft nicht bemerkt. Das hingegen passiert – zumindest in den ersten Schwangerschaftsmonaten – häufiger, als man denkt. Manche Frauen haben durchaus noch Blutungen, nehmen zunächst auch kaum zu und entwickeln, wenn sie zunehmen, nicht den typischen Babybauch. Um eine Schwangerschaft bis zum Augenblick der Geburt nicht zu bemerken, muss frau nicht unbedingt eine große Verdrängungskünstlerin sein. Wenn sie übergewichtig ist, unregelmäßige Blutungen hatte und der Mutterkuchen im Bauch so liegt, dass sie die Kindsbewegungen nicht oder erst sehr spät spüren kann, dann werden Kindsbewegungen eben als Blähungen gedeutet. Und wenn eine Dicke über Monate einige Kilos zunimmt, wundert sich auch niemand. Die Blutungen, die während dieser Schwangerschaft auftreten, sind dann übrigens keine Regelblutungen mehr, sondern Blutungen infolge der Lage des Mutterkuchens oder Entzündungen.

Triebtäter

Wiederum brauchen wir uns gar nicht um die Motivierung einer Tat zu kümmern, wenn wir eine krankhafte Lust am Töten annehmen. Aber auch Triebtäter sind weder Mordbuben ohne Hemmungen oder Gewissensbisse, noch sind sie die Intelligenzbestien, als die wir sie aus dem Schweigen der Lämmer (Film 1991) kennen. Triebtäter fühlen sich getrieben, sie stehen subjektiv unter Zwang.

Doch auch hier gibt es rational nachvollziehbare Motive. Die Frage ist ja immer: Warum macht einer so was? Wissenschaftler sehen Serienmörder in der Nähe von Spielsüchtigen. Sie sind süchtig nach Mord. Man nennt das auch eine nicht stoffgebundene Abhängigkeit2. Demnach sind es Aktivitäten wie Spielen, Fantasieren oder eben Töten, die den Herzschlag beschleunigen und eine angenehme Erregung schaffen. Krankhafte Spieler oder Serienmörder sind abhängig von diesem Erregungszustand, der mit bestimmten Neurotransmitterausschüttungen im Gehirn einhergeht ( Herrschsucht) und sich auf die Stimmung auswirkt. Das Suchtverhalten entsteht, weil der Süchtige aktiv immer wieder Gefühle von Macht und Kontrolle herstellen will. Er entkommt damit seinen Alltagsgefühlen von Einsamkeit, Ohnmacht und Frustration.

Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die Triebtäter aus gestörten Familien kommen: Der Vater fehlte oder war Alkoholiker, die Mutter war gefühlskalt oder bigott, sie wuchsen in einer feindselig-freudlosen Atmosphäre auf und so weiter. Allerdings Vorsicht: Wie viele Menschen sind unter belastenden, freudlosen, feindseligen und sonst wie problematischen Verhältnissen aufgewachsen und doch keine Serienmörder geworden? Und welche Fama baut so ein Täter auf, wenn er merkt, dass die Psychologen, die ihn befragen, zufrieden sind, wenn sie hören, wie sehr er unter Vater und Mutter gelitten hat?

Momentan geht die Tendenz dahin, biologisch-genetische Gründe anzunehmen, gegen die weder Gesellschaft noch Individuum etwas ausrichten könnten. Verschiedene Forscher belegen eifrig, dass Sadisten und Sexualmörder überdurchschnittlich oft Anomalien im Gehirn aufweisen, und zwar im rechten Frontallappen (der ist für Werte, Ich-Identifikation und Vorlieben zuständig). Man führt sie auf pränatale oder frühkindliche Schädigungen zurück. Fast 80 Prozent der späteren Sexualmörder haben sich von Kindheit an gegen Sozialkontakte abgeschottet. Vermutlich ging der Rückzug in den Kokon der Empfindlichkeit, Ablehnung und Lustlosigkeit anderen Menschen gegenüber mit negativen Erfahrungen einher, die sie seit der Kindheit angehäuft haben: Als Kinder waren sie durchsetzungsschwach und unfähig, Konflikte auszutragen. Sie neigten und neigen zu abwartendem und leidendem Verhalten und sind leicht gekränkt. Das normale Zusammenleben macht ihnen keine Freude, es stört, ängstigt oder ärgert sie nur.

Aber weder Anomalien im Hirn noch kaltherzige Mütter machen aus einem unglücklichen und durchsetzungsschwachen Kind einen Serienkiller. Es muss auch noch prägende Zufälle geben. Triebtäter berichten oft von einem Schlüsselerlebnis in ihrer Kindheit, das bei ihnen eine angenehm überraschende, sexuell berührende und starke körperliche Reaktion ausgelöst hat: Kribbeln, Erregung, Herzrasen, Schwitzen, Lust. Beispielsweise als sie sahen, wie ein Huhn oder Schwein geschlachtet wurde. Unserer Phantasie als Krimiautorinnen sind da keine Grenzen gesetzt. Es muss sich nur um eine vorsexuelle Erfahrung handeln, die sexuell erlebt wurde und im Lauf des Älterwerdens das Töten, also die Herrschaft über Leben und Tod, mit sexueller Erregung in Verbindung bringt.

Ein Triebtäter entfaltet zwar durchaus Täterintelligenz, um seine Opfer in seine Gewalt zu bringen, aber was ihm an Mitgefühl für seine Opfer fehlt, bringt er auch nicht für andere Personen aus seiner Umgebung auf. Solche Mörder haben grundlegende emotionale und soziale Defizite, auch wenn sie durchaus kommunikatives Geschick besitzen, um ihre Opfer zu über­reden, sich ihnen anzuvertrauen ( Täterprofil).

Bevor es zur ersten Tat kommt, hat so ein Mann sich über Jahre im Kopf ein reiches Arsenal von Fantasien und Bildern geschaffen und sich Hunderte von Malen bestimmte Taten ausgemalt. So beschreibt ein Sexualmörder, der in den sechziger Jahren in einem Luftschutzstollen vier Jungs zu Tode folterte, seine Fantasien folgendermaßen (nix für schwache Nerven!):


»[…] Ich will immer Kerzen mitnehmen, z. B. keine Taschenlampe. Das ist bei mir wie bei manchen Eheleuten, die brauchen rotes Licht, das gibt es. […] Außerdem sieht jemand, der ausgezogen ist, bei Taschenlampenlicht verhältnismäßig unappetitlicher aus als bei Kerzen. Ich würde das Kind ausziehen, mit Gewalt wieder. […] Wenn ich es dann geschlagen hätte, würde ich es hinlegen, schon eher hinschmeißen. Es müsste schon schreien. […] Es wäre mir lieb, wenn das Kind noch nicht so weit entwickelt ist. […] Ich würde auch mal brutal sein, bis es wimmert. Das gehört dazu. […] Dann möchte ich, dass das Kind zappelt. Dann würde ich anfangen zu schneiden …«3

Tötungsfantasien haben den Vorteil, dass das Opfer gesichtslos bleibt. Dem Triebtäter geht es nicht um eine Person, sondern um Entmenschlichung. Seine Opfer sind Objekte seiner Allmachtsfantasien. Nicht aus allen Fantasien wird eine Tat. Aber wenn schließlich doch, so ist der Täter plötzlich mit einem Menschen konfrontiert, der sich völlig anders verhält, als er es braucht, und hinterher mit einer Leiche, die stinkt und blutig und eklig ist. Deshalb kann die von ihm als Opfer ausersehene Frau durchaus davonkommen, wenn sie es schafft, Namen und Gesicht zu gewinnen, oder dem Raster widerspricht, bei dem er sich Erfolg erhofft. Auf einen Sexualmord mögen 30 bis 100 Versuche kommen, eine Frau auszutesten und an einen geeigneten Tatort zu locken. Sie kann mit einem Wort, einem Blick die Absicht des Täters zunichtemachen. Sie kann aber genauso gut mit irgend­einer Bewegung ihr Todesurteil besiegeln, falls sie sich dann noch von ihm überreden lässt, die geschützte Kneipe zu verlassen und ihm an einen Ort zu folgen, an dem er mit ihr alleine ist und sich auskennt.

Die Erfolgsrate bei der Aufklärung von Serienmorden liegt bei ungefähr 80 Prozent und ist verglichen mit der anderer Tötungsdelikte (über 90 Prozent) geringer.

Von Arsen bis Zielfahndung

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