Читать книгу Die esoterische Botschaft der Märchen - Manfred Ehmer - Страница 7

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Einhörner, Drachen

und Fabelwesen

Das Einhorn

Eines der populärsten Märchenwesen, das uns zugleich eine höhere Welt des Geistes erahnen lässt, ist jenes mythische Fabeltier, das wir seit der ausgehenden Antike unter dem Namen „Einhorn“ kennen. Überall begegnet uns das scheue Einhorn, auf Gemälden und Wandteppichen, auf mittelalterlichen Paradies-Darstellungen, in Märchen, Filmen und Gedichten, bis in die Gegenwart hinein. Es begegnet uns, in wandelnden Gestalten, aber doch immer mit denselben Charakteristika, im Alten China, in Indien, Persien, in der Bibel, vor allem im Buch Hiob und den Psalmen Davids, in der berühmten Pariser Gobelin-Serie Die Dame und das Einhorn (La Dame à la Licorne), ausgestellt im Cluny-Museum, auf Fresken in der Engelsburg in Rom, auf Bildern von Hans Holbein und Lucas Cranach, auf Wappen und Apothekenschildern. Dichter haben es besungen, vor allem Rainer Maria Rilke, der es wie ein Wahrbild vor unserem Auge auferstehen lässt:

Der Beine elfenbeinernes Gestell

bewegte sich in leichten Gleichgewichten,

ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,

und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,

stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,

und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.

Das Maul mit seinem rosa-grauen Flaum

war leicht gerafft, sodass ein wenig Weiß

– weißer als alles – von den Zähnen glänzte;

die Nüstern nahmen auf und lechzten leis.

Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte,

warfen sich Bilder in den Raum

und schlossen einen blauen Sagenkreis.11

Selbst noch im 20. Jahrhundert feiert das Einhorn seine Auferstehung und Wiederkunft. Der Märchenroman von Peter S. Beagle DAS LETZTE EINHORN (THE LAST UNICORN, 1968) wurde zu einem Kultbuch. Es erzählt, wie der Titel schon sagt, die Geschichte von dem „letzten Einhorn“ in einer entzauberten Welt. In einer poetischen Sprache, die Urmärchenhaftes wieder heraufdämmern lässt, wird es folgendermaßen beschrieben: „Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem gehörnten Pferd, wie Einhörner gewöhnlich dargestellt werden; es war kleiner und hatte gespaltete Hufe und besaß jene ungezähmte, uralte Anmut, die sich bei Rehen nur in schüchtern-scheuer Nachahmung findet und bei Ziegen in tanzendem Possenspiel. Sein Hals war lang und schlank, wodurch sein Kopf kleiner aussah, als er in Wirklichkeit war, und die Mähne, die fast bis zur Mitte seines Rückens floss, war so weich wie Löwenzahnflaum und so fein wie Federwolken. Das Einhorn hatte spitze Ohren und dünne Beine und an den Fesseln Gefieder aus weißem Haar. Das lange Horn über seinen Augen leuchtete selbst in tiefster Mitternacht muschelfarben und milchig. Es hatte Drachen mit diesem Horn getötet und einen König geheilt, dessen vergiftete Wunde sich nicht schließen wollte, und für Bärenjunge reife Kastanien heruntergeschüttelt.“12

Das Einhorn steht als ein Sinnbild für einsames Umherschweifen. Aber diese Einsamkeit bedeutet nicht etwa Isolierung, Verlassenheit, sondern viel eher Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, die alles überschauende Einsamkeit des Adlers, der sich hoch in die Lüfte schwingt, die Einsamkeit wahrer Verbundenheit mit der Natur. Eine solche, zutiefst schöpferische Einsamkeit hat in Indien auch ein so großer Erleuchteter wie Buddha für sich in Anspruch genommen, der sich in einer von dem schwedischen Tierschriftsteller Bengt Berg übersetzten „Buddha-Hymne“ selbst mit dem Einhorn vergleicht, wie es in der immer wiederkehren Schlusszeile deutlich ausgedrückt wird:

Einem Löwen gleich, ohne Furcht vor Geschrei,

Einem Winde gleich, nie in Netzen gefangen,

Einer Lotosblume gleich, nie vom Wasser besprengt,

Lass' mich einsam wie ein Einhorn wandern.13

Das alttestamentliche BUCH HIOB nimmt ebenfalls auf die Freiheit und Unbezähmbarkeit des Einhorns Bezug: „Meinst du, das Einhorn werde dir dienen und bleiben an deiner Krippe? Kannst du ihm dein Joch aufknüpfen, die Furchen zumachen, dass es hinter dir brache in Gründen? Magst du dich darauf verlassen, dass es so stark ist? Und wirst du es dir lassen arbeiten? Magst du ihm trauen, dass es deinen Samen dir wiederbringe und in deine Scheune sammle?“ (Hiob 39/9). Es sind alles rhetorische Fragen: das Einhorn ist frei, wild, unzähmbar, darin liegt der Sinn der hier zitierten Sätze.

Talmudische Texte berichten von wilden Kämpfen des Einhorns mit dem Löwen, und so wurde das Einhorn im Judentum zu einem Symbol für göttliche Macht und unbesiegbare Kraft, die Gott besonders seinem „auserwählten Volk“ zeigte: „Gott hat sie aus Ägypten geführt, seine Freudigkeit ist wie eines Einhorns.“ (4. Mose 23/22). „Seine Herrlichkeit ist wie eines erstgeborenen Stiers, und seine Hörner sind wie Einhornhörner; mit denselben wird er stoßen die Völker zu Haufen, bis an des Landes Enden.“ (5. Mose 33/17) Und interessanterweise wird in der jüdisch-christlichen und mittelalterlichen Tradition die Stärke des Einhorns, dieses wunderbaren Zauberwesens, zunehmend als etwas Unheimliches, Bedrohliches empfunden, sodass zuletzt ein Martin Luther aufstöhnen konnte: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!“ (Psalm 22/20-22)

Aber trotz seiner unbändigen, zuweilen furchteinflößenden Kraft bleibt das Einhorn doch ein überirdisches himmlisches Wesen, Wohngenosse und Gefährte von Adam und Eva im Paradies, wie die Legende zu berichten weiß: „Gott forderte Adam auf, die Tiere zu benennen. (….) Das erste Tier, dem er einen Namen gab, war das Einhorn. Als Gott den Namen hörte, kam er hernieder und berührte die Spitze des einzigen Hornes, das diesem Tier auf der Stirne wuchs. Von da an war das Einhorn erhöht über die anderen Tiere. Adam und Eva konnten auf seinem Rücken reiten. Alle Tiere und das Menschenpaar lebten in Frieden miteinander, bis zu dem Tage, als Adam und Eva von der verbotenen Frucht aßen. Sie probierten die Früchte der Erkenntnis, fingen an, sich zu schämen und mit dem Laub der Blätter zu bekleiden. Gott war erzürnt über ihre Tat und vertrieb sie aus dem Garten Eden. Zwei Cherubim mit flammenden Schwertern bewachten fortan den Eingang. Gott gab dem Einhorn die Wahl, im Paradiese zu bleiben oder Adam und Eva zu begleiten. In die Welt hinaus zu begleiten, dorthin, wo Pest und Kriege herrschen, die Kinder unter Schmerzen geboren werden und alles Leben sterblich ist. Das Einhorn folgte Adam und Eva. Für sein Mitleid wurde das Einhorn mit besonderen Gaben gesegnet. Wählte es doch aus Liebe den schweren Weg der Menschen und blieb nicht an jenem Ort der Schönheit und Freude.“14

Esoterisch gesehen symbolisiert das Einhorn unser höheres Selbst, die Monade, denn auch dieses Geistselbst entstammt dem „Paradies“, der göttlichen Lichtwelt. Nur aus Mitleid hat es sich zum Herabstieg in die niedere Materiewelt entschlossen. Dies war ein echtes Opfer, eine Tat der Selbstaufopferung, und daher wurde schon im Mittelalter das Einhorn mit Christus gleichgesetzt. Auch Christus ging freiwillig in die Materie hinein. Das Einhorn steht esoterisch als ein Symbol für den inneren göttlichen Funken, für den Wesensanteil des Menschen, der sich trotz irdischer Verkörperung himmlisch, überirdisch, spirituell rein erhalten hat und sich nicht durch Materielles korrumpieren lässt. Der Innere Funke, die Monade, das höhere Selbst – wie immer wir es nennen wollen – folgt dem Menschen stets als unsichtbarer Lebensbegleiter auf dem Weg durch die irdische Materie, geradeso wie in der Legende das Einhorn einst das Paradies verließ, um Adam und Eva zu folgen.

In Peter S. Beagles Märchenroman steht der Satz: „Einhörner sind unsterblich“15. In seiner Unschuld weiß das Einhorn nichts von der Tragik des Sterbenmüssens, von Schuld und Verstrickung; es erfreut sich des ewigen Lebens und einer paradiesischen Zeitlosigkeit, wie sie dem ursprünglichen Schöpfungsplan entspricht. Obgleich es Adam und Eva in die Welt folgte, blieb das Einhorn immer ein Paradieswesen; mit ihm kam ein Stück Himmel auf die Erde herab, und so kündet es wie ein Lichtbote von einer höheren Welt. Daher auch die sprichwörtliche Scheue des Einhorns: es hat sich den Gesetzen dieser Welt nie angepasst, und es entzieht sich dem Zugriff des Irdischen, Welthaften, Materiellen, weil es einer anderen Welt entstammt. Nur mit den „Augen des Geistes“ kann das Einhorn geschaut werden; es ist Gegenstand einer Vision, aber kein wissenschaftliches Studienobjekt. Scheu und zurückgezogen lebt es in seinem hortus conclusus, dem „geschlossenen Garten“, einem Zaubergarten, in dem nicht mehr die Gesetze der Welt, sondern spirituelle Gesetze gelten. Kein Zweifel, dieser mystische Einhorngarten befindet sich nicht in der äußeren Raumzeitwelt, sondern im Innersten unserer Seele.

Wenn man in Indien Buddha, im Westen Christus mit dem Einhorn gleichgesetzt hat, so kann es ja nur ein Symbol des höheren Selbst – der Monade – sein. Auch die Monade, ihrem Wesen nach scheu und zurückgezogen, entzieht sich jeder Kategorisierung, Einordnung, Vereinnahmung. Anstatt sich dem eisenharten Zugriff dieser Welt zu beugen, will sie lieber – wie das Einhorn – frei, wild und ungezähmt bleiben, will im Umherschweifen ihre Souveränität erfahren. Niemand wird das Einhorn einfangen, zähmen, bändigen können, niemand ihm Fesseln anlegen, denn der Geist bleibt frei und lässt sich nicht von der Materie an die Kette legen. So bedeutet das Einhorn im Grunde etwas rein Geistiges. Es ist der stets frei umherschweifende Geistesfunke, der seine Göttlichkeit in sich trägt und seines Ursprunges in der höheren geistigen Welt immer eingedenk bleibt. Im Einhorn als Sinnbild verkörpert sich das Höchste, Reinste, Spirituellste, das sich denken lässt, der Innere Funke Gottes.

Die spirituelle Natur des Einhorns zeigt sich auch in seiner Androgynität und in seinem Bezug zur Jungfräulichkeit. Das Androgyne kommt beim Einhorn schon im äußerlichen Anblick zum Ausdruck: die üppige, wallende Haarmähne und die runden weichen Formen bekräftigen das Weibliche, das spitze Horn und die ungestüme Kraft eher das Männliche. So zeigen sich Männliches und Weibliches vollkommen integriert, ohne dass das eine sich auf Kosten des anderen verwirklicht. Androgynen Charakter besitzt aber auch das höhere göttliche Selbst. Und wir wissen aus den Traditionen der Esoterik, dass die ursprüngliche Menschheit, als sie noch auf den höheren geistigen Ebenen weilte, zweigeschlechtlich war. Erst im Laufe einer späteren Evolutionsperiode, im Zuge stärkerer physischer Verstofflichung, trat die Geschlechtertrennung ein. Und in einem künftigen vergeistigten Zustand wird die Menschheit ihre ursprüngliche Androgynität wiederhergestellt haben.

Eine christliche Legende erzählt, wie das Einhorn, das von niemandem gefangen genommen werden kann, zutraulich seinen Kopf in den Schoß einer keuschen Jungfrau legt. In einer aus Syrien stammenden Version der Geschichte, die mehr das Erotische daran betont, lesen wir: „Es gibt ein Tier mit dem Namen 'dajja'. Das ist so sanft wie es auch stark ist, und kein Jäger vermag es zu fangen. Mitten auf der Stirn trägt es ein einzelnes Horn. Nur mit List kann man seiner habhaft werden. Dorthin, wo es des öfteren gesehen wird, führt man eine reine und keusche Jungfrau. Sobald das Tier diese bemerkt, kommt es näher und wirft sich in ihren Schoß. Die Jungfrau bietet dem Einhorn ihre Brüste dar. Das Tier beginnt zu saugen, wird vertraut mit ihr und immer zutraulicher. Sobald das Mädchen das Horn auf der Stirn berührt, lähmt es jeden Widerstand des Einhorns. Die Jäger können es jetzt ergreifen und zum König bringen. So wie das Einhorn brachte auch Christus sich zum Opfer dar und pflanzte das Horn der Erlösung für uns, vermittelt durch die Gottesmutter, die unbefleckte und reine Jungfrau Maria.“16

So steht das Einhorn auch in Bezug zur Großen Muttergöttin, die einen Archetyp spiritueller Weiblichkeit bildet und in der Jungfrau Maria nur eine ihrer zahlreichen Ausdrucksformen findet. Im Mittelalter galt die mystische Einhornjagd als ein Symbol für spirituelle Suche, ähnlich der Suche nach dem Heiligen Gral oder dem alchemistischen Stein der Weisen. Bei so vieler und tiefgründiger Symbolik steht die Frage, ob es denn Einhörner jemals „wirklich“ gegeben habe, als unbedeutend im Hintergrund. Bei einem esoterischen Symbol zählt nie die historische Realität. Zwar gibt es seit der späten Antike immer wieder Berichte von Augenzeugen, die Einhörner „gesehen“ haben wollen, etwa der von dem Griechen Megasthenes, der im 3. Jh. v. Chr. im Auftrag von Seleukos nach Indien – dem klassischen Land aller Wunder und Fabeln – gereist sein soll, wo er das meist mit „Einhorn“ übersetzte Tier Kartazoon gesehen haben will. Schon 100 Jahre vor ihm hatte sein Landsmann Ktesias Ähnliches berichtet, und Cäsar lässt in seinem „Gallischen Krieg“ ein dem Einhorn täuschend ähnliches Wesen in den Tiefen des Hercynisches Waldes umher springen.

Aber wir brauchen die Frage nach der historischen Realität des Einhorns nicht zu entscheiden. Wir halten es mit dem Dichter Rainer Maria Rilke eher für das „Tier, das es nicht giebt“, nicht gibt im objektiv-wissenschaftlichen Sinne, wohl aber als innere seelische und spirituelle Wirklichkeit; und es gibt kaum ein esoterisches Symbol, das machtvoller gewesen wäre und tiefere Spuren in der Kulturgeschichte des Morgen- und Abendlandes hinterlassen hätte, als das des Einhorns. Deshalb möge hier aus Rilkes SONETTE AN ORPHEUS (1922) jenes eine zitiert werden, das die Symbolgestalt des Fabeltiers in aller Pracht erstehen lässt – die Liebeserklärung eines spirituell Suchenden an Einhörner:

O dieses ist das Tier, das es nicht giebt,

Sie wusstens nicht und haben jeden Falls

– sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals

bis in des stillen Blickes Licht – geliebt.

Zwar war es nicht. Doch weil sie's liebten, ward

ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.

Und in dem Raume, klar und ausgespart,

erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum

zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,

nur immer mit der Möglichkeit, es sei.

Und die gab solche Stärke an das Tier,

dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.

Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei –

und war im Silber-Spiegel und in ihr.17

Der Drache

In zahlreichen Märchen, Mythen, Sagen und Heldenlegenden wird immer wieder von Drachenkämpfen berichtet, die der Held zu bestehen hat, ein Kampf des Lichts gegen abgründige Mächte der Finsternis. Solche Ungeheuerkämpfe sind in verschiedenen Versionen überliefert, mal der Kampf eines Berittenen mit Helm und Lanze oder Schwert gegen den Lindwurm, wie beispielsweise beim heiligen Georg, mal der Kampf zweier Tiere, in den der Held eingreift, wie etwa in der Heinrichsage oder bei Dietrich von Bern, dann wieder die Besiegung des Ungeheuers durch List wie in der Sage von Beowulf und Grendel. „Der Kampf mit dem Drachen“, schreibt der Märchenforscher Max Lüthi, „ein Lieblingsmotiv des europäischen Märchens, erinnert zunächst an den Kampf des Menschen mit wirklichen Untieren, ein Geschehen, das die Phantasie früherer Zeiten mit großer Gewalt beschäftigt haben muss. Gerade deshalb wird der Kampf mit dem Untier zum Symbol für den Kampf mit der feindlichen Umwelt, mit dem Bösen außer uns und in uns, des Willens mit den Trieben, der Form mit dem Chaos, des Menschen mit dem Jenseitigen oder mit dem Schicksal. Der Drache ist ein Bild für die ungestaltete und gefährliche Natur wie für das eigene Unbewusste.“18

Dem Wort „Drache“, ein Lehnwort in der deutschen Sprache, liegt das griechische drakon („der furchtbar Blickende“) zugrunde; im Germanischen entspricht ihm das Wort „Wurm“ (oder Lindwurm), der auch in der germanischen Mythologie im Mittelpunkt zahlreicher Drachenkämpfe steht. In der Mythologie vieler Völker erscheint der Drache als eine fabelhafte Mischgestalt, zumeist eine Kreuzung aus Vogel und Schlange, auch aus Löwe und Vogel, mehrköpfig, Feuer speiend, möglicherweise auf eine vorzeitliche Saurierform zurückgehend. Meist wird der Drache mit beschupptem Körper, übergroßen Fledermausflügeln, Hörnern auf dem Haupt und furchtbaren Fangzähnen dargestellt; sein giftiger Atem kann töten wie ebenfalls sein starrer Schlangenblick. In vielen Schöpfungsmythen verkörpert der Drache die bösen gottfeindlichen Mächte; er hält die fruchtbringenden Wasser zurück, will Sonne und Mond verschlingen, bedroht die Mutter des heilbringenden Helden, oder er muss getötet werden, damit die Welt entstehen kann.

Der heldenhafte Drachenkampf findet sich in indoeuropäischen, aber auch vorderasiatischen, alttestamentlichen wie christlichen Mythologien; er scheint ein kulturübergreifendes Symbolbild darzustellen. Schon die Antike kannte Drachenkämpfe – Zeus gegen Typhon, Herakles gegen die berüchtigte Hydra von Lerna, Bellerophon gegen die Chimaira (daher das Wort „Schimäre“), Perseus bei der Befreiung der Andromeda. Der Drachentöter ist entweder ein Sonnenheld oder die Verkörperung jenes frühjahrszeitlichen Donner- und Gewittergottes, der im Pantheon des Heidentums stets im Mittelpunkt stand. Der älteste Drachentöter, den wir überhaupt kennen, scheint der altindische Hochgott Indra gewesen zu sein. In den Gesängen des Rigveda, die bis auf die Zeit um 1800 v. Chr. zurückgehen, wird er als der Götterkönig und Schirmherr aller Krieger angerufen, als den Gebieter über Blitz und Donner, der erlösende Gewitter herbeiführt, indem er Vritra, den Drachen der Dürre tötet. In einem dieser Hymnen heißt es:

Den schrecklichen Unhold jage hinaus

Und, Indra, des Drachen Kiefer zerbrich,

Und den Grimm, du Drachentöter, treib aus

Dem Widersacher, das bitten wir dich.19

In einer modernen poetischen Nacherzählung des vedischen Drachenkampfmythos finden wir den Drachen Vritra wie folgt beschrieben: „Writra verfügt im Gegensatz zu den meisten Göttern über magische Kraft, und vermöge dieser Kraft kann er mancherlei Gestalt annehmen; einmal erscheint er als Schlange, ein andermal als Eber. Auch seinen Aufenthaltsort wechselt er: jetzt ist er auf dem Gipfel eines Berges, dann liegt er auf der Oberfläche des Meeres. Starke Festungen – neunundneunzig an der Zahl – stehen ihm zu Diensten; hier verteidigt er sich gegen die Angriffe der Götter. Seine Waffen sind Blitz, Donner, Hagel und Nebel. Besonders vom Nebel macht er Gebrauch, und daher nennt man ihn auch den Nebling. Sich selbst hüllt er in Nebel ein, und über seinen Gegner wirft er einen Nebelschleier, damit er die Spur verliert und sich verirrt.“20

Und hier nun der Drachenkampf Indras: „Der Somatrunk verlieh Indra besonderen Mut und gab ihm unüberwindliche Kraft. Hochauf schwingt er sich in die Luft und zielt mit seiner Waffe auf Writra; dieser aber benutzt seine magischen Fähigkeiten, hüllt sich in Nebel und stürzt sich in voller Größe auf den Angreifer. Indra jedoch durchschaut alle Gestalten, die das Ungeheuer annimmt, späht nach seinen verwundbaren Stellen und fällt ihn immer wieder an. Mit seiner tausendspitzigen Waffe trifft er ihn, wie der Blitz einen Baum spaltet (….). Danach begibt sich Indra dorthin, wo die Wasserfluten verborgen und eingesperrt sind. Wie ein Zimmermann das Holz, so spaltet er die Wolken und befreit die Regenströme, die sich nunmehr ungehindert auf die Erde ergießen.“21 Indra erscheint hier wie ein gigantischer Regenmacher; die Einkleidung seines Drachenkampfes in einen Naturmythos tritt klar zutage und weist auch auf das hohe Alter dieser Geschichte hin.

Spuren von Drachenmythen finden sich auch im Alten Testament; jedoch tritt der Drache hier unter Namen wie Tannin, Leviathan, Rehab, Behemoth auf, bald als Verkörperung riesiger Meertiere, bald allegorisch als Israel feindliche Geschichtsmächte wie Babylon, das Perser-, Meder- Alexanderreich, dann als Gegner im persönlichen Lebenskampf. Unter den Schutz Gottes soll man sich stellen, denn von ihm wird gesagt: „Über Löwen und Ottern wirst du gehen, und junge Löwen und Drachen niedertreten.“ (Psalm 91/13) Apokalyptisch erscheint der Drache im Buch Daniel als Verkörperung gottloser Weltreiche (Dan.7), um dann in der Offenbarung des Johannes sich ganz mit dem Endzeitmythos zu verbinden: „Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel, und sie siegten nicht, und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel.“ (Offenbarung des Johannes 12/7–8)

Der Erzengel Michael ist hier an die Stelle Indras getreten; denn in der Gestalt des Drachentöters zeigt sich ebenso viel Archetypisches wie im Drachen selbst. In der griechischen Mythologie haben wir, als ein Beispiel unter vielen, den Lichtgott Phoibos Apollon, dem das Heiligtum zu Delos geweiht war und der das Orakel von Delphi in Besitz nahm, das zuvor unter der Macht alter Urmuttergöttinnen stand. Aber zuerst musste Apollon in Delphi den dort hausenden furchtbaren Drachen Python töten. Im Homerischen Hymnus an den Pythischen Apollon heißt es:

Nahe dabei fließt schön ein Quell. Der Herrscher Apollon

tötete dort die Drachin mit seinem gewaltigen Bogen,

ein gar riesiges, feistes und wildes Untier,

das vieles Elend schuf den Menschen im Lande ….22

In der germanisch-nordischen Mythologie schließlich tritt der Drache als Ungeheuer von sagenhafter Gestalt häufig auf, kosmologisch als die weltumringende Midgardschlange, gegen die der Gott Thor zu kämpfen hat, eschatologisch als der drohende Drache Niddhöggr in den Tagen der Götterdämmerung. Daneben sehen wir den Drachen als Schatzhüter und als Inhaber magischen Wissens, oder es sind zaubermächtige Riesen wie der berüchtigte Fafnir, die sich in einen Lindwurm verwandeln können. Vielleicht kann man hier regelrecht von einer geheimen Drachenweisheit und einer Drachenmagie sprechen. Das Bild des den Goldhort bewachenden Drachens begegnet uns noch in J. R. R. Tolkiens großartigem Märchen DER KLEINE HOBBIT, wo mit Bilbos Konversation mit Smaug ein hervorragendes Beispiel für Drachenpsychologie gegeben wird.

Magische Motive tauchen auch in der nordischen Sigurd-Sage auf, dem Urbild der Siegfried-Geschichte: das Baden im Drachenblut macht unverwundbar; der Verzehr des Drachenherzens lässt den Helden plötzlich die Vogelsprache verstehen. Das Drachenhortlied ist in der Liederedda enthalten, die eine wohl aus Deutschland stammende Sigurdsage benutzt hat. Zwei Felsritzungen in Södermannland südlich des Mälarsees zeigen uns Abbildungen zu der Geschichte: wir sehen da einen Fischotter; sodann das Ross Grani, das eine Last auf dem Rücken trägt und an einen Baum gebunden ist, auf dem zwei Vögel sitzen; ferner Sigurd, wie er das Drachenherz brät und einen Finger in den Mund hält – die Runeninschriften unter den Bildsteinen lassen erkennen, dass sie um das Jahr 1020 geritzt wurden. Die dargestellte Situation wird in der Edda so geschildert: „Sigurd nahm Fafnirs Herz und briet es an einem Zweig. Als er glaubte, dass es gar sei, und der Saft aus dem Herzen schäumte, da fasste er es mit einem Finger an, um zu versuchen, ob es fertig sei. Er verbrannte sich und fuhr mit seinem Finger in den Mund. Als Fafnirs Herzblut ihm auf die Zunge kam, da verstand er die Vogelsprache.“23

Gute Drachen scheinen rar zu sein; durchweg stellt der Lindwurm das Niedere, das Gegnerische, zu Bezwingende dar. Vielleicht deswegen, weil das Reptil, die Echse, der Saurier, allesamt Urformen des Drachens, evolutionär niedere Lebensformen als der Mensch darstellen? Hat sich der Mensch im Drachenkampf mit seiner eigenen evolutionären Vergangenheit auseinanderzusetzen? Wie im Falle des Einhorns scheint sich die Frage nach der historischen Realität des Drachens zu erübrigen. Man könnte ja wohl mutmaßen, dass der Mensch als Spezies viel älter ist als bisher angenommen wurde – dass er vielleicht noch Augenzeuge der Riesenechsen der Kreidezeit war, mit denen er furchtbare Kämpfe zu bestehen hatte? Eine reizvolle Spekulation, aber größere Bedeutung besitzt die esoterische Bedeutung des Drachens.

Esoterisch gesehen stellt der Drache geradezu den entgegengesetzten Pol zum Einhorn dar. Verkörpert das Einhorn das höhere, das geistig-göttliche Selbst, die Monade, so ist der Drache ein Sinnbild für die niedere Astralnatur des Menschen. Der Kampf des Einhorns mit dem Drachen und der letztendliche Sieg über diesen bedeutet die Bezwingung des niederen astralen Selbst durch den höheren, seiner Göttlichkeit bewusst gewordenen Geistesfunken. Das muss nicht bedeuten, dass Drachen „böse“ sind, sondern sie stehen eher – wie alles Astrale –„jenseits von Gut und Böse“, darin der ewig schaffenden und zerstörenden Natur ähnlich. Die „Weisheit der Drachen“, auch ihre magische Kunstfertigkeit, ist reine Astralweisheit. Diese mag für niedere Naturmagie gut brauchbar sein, lässt sich aber mit der spirituellen Weisheit des Einhorns nicht vergleichen. Die gnostische Sekte der Ophiten in den Tagen des Frühchristentums sah den weltumgürtenden Drachen Leviathan als Sinnbild für den die Erde umringenden Astralgürtel mit seinen zwölf Tierkreiszeichen. Und sie wusste wohl, dass gerade diese Weltenschlange der eigentliche „Herrscher dieser Welt“ war, dessen Zugriff es sich auf dem Wege stufenweiser Einweihung zu entziehen galt.

Der Greif

Der Greif ist ein fabelhaftes Mischwesen aus dem Altertum, mit dem Leib eines Löwen, Adlerkopf, Flügeln und Krallen; er begegnet uns später noch als Wappentier, auf Gemmen und in der römischen Kunst auf Sarkophagen. In der griechischen Sage dachte man ihn am rhipäischen Gebirge hausend, wo er die Goldschätze des Nordens gegen die Arimaspen verteidigte, ein mythisches einäugiges Volk nahe am Polkreis. Als Goldwächter wurden die Greifen auch in Indien, Äthiopien und in anderen Ländern lokalisiert. Er war ein Sinnbild für Hoheit, Macht und wegen des durchdringenden Blicks für Wachsamkeit. Zwei wahrhaft königliche Tiere, der Adler und der Löwe, vereinigten sich in diesem Fabeltier zu einer Synthese.

Der Greif erscheint ursprünglich in der Kunst Mesopotamiens, von wo er in die unter orientalischem Einfluss stehende archaische Kunst Griechenlands eindringt; dort galt er als dem Apollon und der Artemis geheiligt. Der Greif war bereits in der kretisch-mykenischen Kunst verbreitet, wie etwa das berühmte Greifenfresko im Thronsaal von Knossos zeigt; das Motiv selbst war um 1500 v. Chr. aus dem Orient über Syrien nach Kreta gekommen, und im Orient liegen denn auch die Ursprünge dieses Fabelwesens.

Über persische und islamische Sagen wird es dem Abendland erneut bekannt gemacht; in der mittelgriechischen Buchmalerei finden wir ihn unter den Tieren der Arche, und der fabulöse PHYSIOLOGUS, eine Art mythische Tierkunde der späten Antike, nennt ihn zusammen mit dem Einhorn. In der sehr verbreiteten Alexandersage ist es ein mächtiger Greif, der Alexander den Großen nach seinem Tod hinauf in den Himmel trägt. Die Urform des Greifen haben wir in dem altsemitischen Krb bzw. Kerub zu sehen, aus dem im Judentum der Cherub wurde, eine der ältesten Darstellungen mythischer Tiere, die wir kennen. Die ursprünglichen ka-ribu waren machtvolle Schutzfiguren, die überall im Nahen und Mittleren Osten gefunden werden, das älteste sumerische Zeugnis ist rund 6000 Jahre alt. Mit ihnen stehen die riesigen assyrischen Kreaturen in Zusammenhang, mit geflügelten Körpern von Löwen, Adlern, Stieren, Sphinxen und menschlichen Gesichtern, die allerorten die Portale der Tempel flankierten.

Kein Zweifel: diese Wesen fungierten als Boten des Himmels, sie waren Gottesboten oder Engel, aus denen sich erst später die voll vermenschlichten Engel entwickelten. Es waren heilige Wesen, die sich lobpreisend im unmittelbaren Umkreis Gottes aufhielten und vielleicht auch menschlichen Königen oder Priestern Beistand leisteten. Aber anders als der Greif vereinigte der altsemitische Kerub neben dem Löwen und dem Adler auch den Stier und den Menschen in seiner Natur, vor allem der Kopf wurde immer als Menschenkopf abgebildet mit langem geflochtenem Bart nach assyrischer Mode. Löwe, Adler, Stier und Mensch, dargestellt im Bilde der vier Tierkreiszeichen Löwe, Skorpion, Stier und Wassermann, wurden von den sternenkundigen Eingeweihten Babyloniens als astrale Urgestalten geschaut, die den ganzen Tierkreis trugen, sozusagen die vier Wächter des Himmels. Noch der jüdische Prophet Hesekiel sieht sie in einer Vision als mächtige Cherubim, die in flammender Wolke vom Himmel herabkommen: „Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten; die waren anzusehen wie vier Menschen (…) Ihre Angesichter waren vorn gleich einem Menschen und zur rechten Seite gleich einem Löwen bei allen vieren und zur linken Seite gleich einem Stier bei allen vieren und hinten gleich einem Adler bei allen vieren.“ (Hes.1/5-10)

Sie tauchen noch ein zweites Mal in der Bibel auf: in der Weltvision des Johannes als die vier göttlichen Urgeister, die vor dem Thron Gottes stehen: „Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich einem Kristall, und in der Mitte am Thron und um den Thron vier himmlische Gestalten, voller Augen vorn und hinten. Und die erste Gestalt war gleich einem Löwen, die zweite Gestalt war gleich einem Stier, und die dritte hatte ein Antlitz wie ein Mensch, und die vierte Gestalt war gleich einem fliegenden Adler.“ (Off. Joh. 4/7-8) In den „heiligen Tieren“ der Assyrer und Babylonier sowie in den „Engeltieren“ des Judentums haben wir wohl den Ursprung des Greifen zu sehen. Er ist ein Himmelswesen, den mächtigen Cherubim vergleichbar, und so nimmt es nicht Wunder, dass Dante in seiner Göttlichen Komödie die Beatrice auf einem von Greifen gezogenen Wagen vom Himmel herniederkommen sieht:

Und einen Wagen sah ich sie umringen,

Den auf zwei Rädern stolz und wundersam

Ein Greif am Halse zog, wohin sie gingen.24

Alle diese Belege weisen darauf hin, dass wir den Greifen als ein spirituelles Symbol zu betrachten haben: Himmelstier und Himmelsbote, eine Verkörperung göttlicher Transzendenz, zuweilen auch ein Christussymbol. Dem steht übrigens nicht entgegen, dass es ein Grimm'sches Volksmärchen über den „Vogel Greif“ gibt, in dem dieser als ein christenfressendes Ungeheuer dargestellt wird (Kinder- und Hausmärchen Nr. 165). Aber die Grimm'schen Märchen stammen ja aus dem späten Mittelalter, als der esoterische Gehalt der Ursymbole längst verblasst war.

Die Sphinx

Eigentlich müsste es heißen: der Sphinx; denn dies Wesen wurde bei den Ägyptern immer nur männlich dargestellt. Die älteste bekannte Darstellung eines Sphinxwesens, eines geflügelten Löwen mit Menschenantlitz, ist der Sphinx von Gizeh mit dem Gesicht des Pharao Chefren. Bescheiden ruht er zu Füßen der gewaltigen Pyramiden, 73 Meter lang und 20 Meter hoch, aber wer diesem steinernen Königslöwen in das seltsame, zerschlagene Antlitz schaute, dem wird sie zu einem Urweltriesen, der Staunen erweckt, mit einem unheimlichrätselvollen Gesicht und einem in endlose Ferne gerichteten Blick. Die weibliche Form erhielt das Fabelwesen erst in Syrien, und von dort aus erfolgte die Verbreitung nach Kreta und Griechenland, wo sie zumeist rein ornamental verwendet wurde, zum Beispiel als Bekrönung von Grabstelen oder als Weihgeschenk. Die griechische Mythologie nennt die Sphinx als Tochter des Drachen Typhon und des Ungeheuers Echidna; sie saß im Auftrag der Göttin Hera vor einem der Tore Thebens und stellte jedem Vorübergehenden das Menschen-Rätsel („Was geht zuerst auf vier, dann auf zwei und zuletzt auf drei Beinen?“), wobei sie alle tötete, die es nicht zu lösen wussten. Als Ödipus die Lösung wusste, stürzte sich das Untier in einen Abgrund….

Hier ist die Sphinx zu einem reinen Phantasiewesen verkommen; aber im frühen Ägyptertum finden wir noch etwas von der ursprünglichen Wahrbedeutung. Der Sphinx besitzt in erster Linie natürlich eine esoterische Bedeutung: er ist der Löwenvogel mit dem menschlichem Gesicht, der das geistig-göttliche Sonnenzentrum repräsentiert. Es handelt sich um ein Symbol für den göttlichen Sonnenlogos, und wenn dies Wesen die Züge des Pharao Chefren trägt, dann deswegen, weil der Pharao als wesenseins mit dem göttlichen Sonnengeist gesehen wurde. Das Löwenhafte ist ein astrales Sinnbild für die Sonnenkraft. Gleichzeitig weist es hin auf ein längst vergangenes Weltzeitalter, in dem der Frühjahrspunkt noch im Tierkreiszeichen des Löwen stand und nicht wie heute am Ende des Tierkreiszeichens Fische.

Auf der berühmten Traumstele, die später zwischen den Pfoten des Sphinx aufgestellt wurde, wird berichtet, wie der Pharao Thutmosis IV. (1419–1386 v. Chr.) bei einem Ausflug im Schatten des gigantischen Standbildes einschlief; da erschien ihm der Sphinx im Traum und gab sich ihm als Re-Harachte, eine Erscheinungsform des Sonnengottes Re, zu erkennen: „Erhebe die Augen zu mir und sieh mich an, Thutmosis, mein Sohn; ich bin dein Vater, der Gott Harachte-Re-Atum. Ich werde dir königliche Macht geben, das Land in seiner ganzen Ausdehnung wird dir gehören. …. Seit vielen Jahren ist mein Blick und mein Herz dir zugewandt. Der Sand der Wüste aber, auf dem ich ruhe, erdrückt mich. Versprich mir, dass du mein Begehren erfüllen wirst…“25 – und Thutmosis ließ, auf diesen Traum hin, den vom Wüstensand schon halb zugewehten Sphinxkörper wieder freilegen. Aber warum wurde der Sphinx überhaupt mitten in der Wüste angelegt? Und ist sein Erbauer tatsächlich Pharao Chephren (2558–2523 v. Chr.), wie immer wieder behauptet wird? Wie alt ist der Sphinx tatsächlich?

Die Löwengestalt des Sphinx weist uns hin auf das Große Platonische Jahr, jene gewaltige Wanderung des Frühjahrspunktes durch alle Tierkreiszeichen innerhalb von 25.920 Jahren, sie verweist insbesondere auf das prähistorische Löwe-Zeitalter (10.950–8790 v. Chr.), in das die Überlieferung den Untergang des alten Erdteils Atlantis verlegt; aber auch die Wissenschaft sieht in dieser Periode das Ende der letzten Eiszeit. Und Hans Künkel hat in seinem Buch DAS GROSSE JAHR (1922) viel Intuition bewiesen, als er die Sphinxgestalt mit dem Löwe-Zeitalter in Verbindung brachte: „Die Sphinx ist älter als die älteste Pyramide. Sie ist aus den Gesteinsrippen eines heute verschwundenen Felsenberges herausgehauen. In unzugänglichen Gesteinskammern ihres Innern birgt sie das Geheimnis des Äons, das vielleicht in einem einzigen Meisterwort besteht. Die Sphinx von Gizeh hat ein Menschenantlitz und einen Löwenleib. Nach der Symbolik, der sich die alten Völker bedienten und derer wir uns vielleicht unbewusst noch heute bedienen, mögen wir vermuten, dass uns in der Sphinx ein Wahrzeichen des Löwezeitalters erhalten geblieben ist. Um das Jahr 10.000 vor Christi Geburt stand der Frühlingspunkt im Tierkreiszeichen des Löwen.“26

Und entspricht das Löwe-Weltzeitalter zeitlich denn nicht genau der „Altsteinzeit“, von der wir durch Funde hinlänglich wissen, dass Ägypten in ihr unter klimatisch völlig andersartigen Bedingungen von Menschen bereits besiedelt war? Geologische Untersuchungen, die man seit 1979 am Urgestein des Sphinx vornahm, haben massive Wasserschäden am Bauwerk zutage gebracht, die nur durch heftige Regengüsse (Sintflut?) oder durch ein regenreiches Klima wie während der Altsteinzeit bewirkt sein können. Hier die Deutung des Archäologen John A. West: „Lange bevor sich Ägypten in eine Wüste verwandelte, war das Giseh-Plateau eine fruchtbare Savanne. An ihrem Rand häufte sich im Laufe der Zeit Gestein auf, aus dem unbekannte Steinmetze einen gewaltigen Kopf herausschlugen. Den Kopf einer Gottheit oder eines Löwen. Als der Kopf fertig war, wurden 100 Tonnen schwere Kalksteinblöcke herausgeschlagen und am Tal-Tempel sowie am Sphinx-Tempel scheinbar mühelos in Position gebracht. Jahrtausende vergingen, und sintflutartige Regenfälle wetzten die Sphinx nahezu auf ihre heutige Größe. Als der Regen endete, wandelte sich die einst fruchtbare Savanne in die Wüste Sahara um. Der Wüstensand begrub die Sphinx bis zum Hals und konservierte somit das Bauwerk und seine Verwitterungsspuren am Körper. Der Kopf der Sphinx hingegen schrumpfte und wurde möglicherweise neu gemeißelt. Die Könige der vierten Dynastie, die Erbauer der Pyramiden um 2500 v. u. Z., gruben die Sphinx aus und restaurierten den Kopf. Auch Pharao Chefren erbaute die Sphinx nicht, sondern ließ sie lediglich restaurieren.“27 Nach dieser Deutung ist der Sphinx von Gizeh, dies Wahrzeichen einer untergegangen Kultur, rund 12.000 Jahre alt! Der Sphinx würde somit zu den ältesten Kultursymbolen der Menschheit überhaupt gehören; und es besteht kein Zweifel, dass ein so uraltes Symbol tiefe Wurzeln im kollektiven Unbewussten der Menschheit besitzen muss.

Der Phönix

Über den Wundervogel Phönix wird uns folgendes berichtet: „Einen Vogel aber gibt es, der sich selbst verjüngt und neu erschafft. Die Assyrer nennen ihn Phönix. Weder von Korn noch von Kraut, sondern von den Tränen des Weihrauchbaums und dem Saft des Balsamstrauchs lebt er. Hat er ein Alter von fünfhundert Jahren erreicht, so baut er sich auf den Zweigen der Steineiche oder im Wipfel der schwanken Palme mit seinen Klauen und dem reinen Schnabel ein Nest. Sobald er sich darin ein Lager aus Sennesblättern und zarten Rispen der Narde, am Zimtrindenstücken und gelblicher Myrrhe bereitet hat, setzt er sich hinein und endet sein Dasein in Wohlgerüchen. Darauf soll zu einem gleich langen Leben aus dem Leib des Vaters ein kleiner Phönix hervorgehen. Wenn diesem die Jahre Kraft verliehen haben und er der Last gewachsen ist, dann befreit er die Zweige des hohen Baums von der Bürde des Nestes, trägt fromm seine Wiege und des Vaters Grab durch die leichten Lüfte zur Stadt des Sonnengotts und setzt es dort vor der heiligen Pforte des Sonnentempels nieder.“28

Das Urbild des Phönix stammt aus Ägypten. Der griechische Name Phoinix ist nur ein Lehnwort für die Bezeichnung eines heiligen Vogels, den die Ägypter Benu oder Boine nannten; ursprünglich als Bachstelze, dann als Reiher dargestellt, galt er als Wesen, das bei der Erschaffung der Welt auf dem Urhügel erschienen war. Er wurde als eine Erscheinung des Sonnengottes Re gesehen und hatte in Heliopolis, der Kultstadt dieses Gottes, eine eigene Wohnstätte. Später indes wurde er mit dem Osiris, der stirbt und wiederaufersteht, gleichgesetzt. Wiederauferstehung und Neugeburt ist der Grundsinn der Phönix-Mysterien. Der Phönix ist ein Auferstehungs-Symbol und bedeutet esoterisch die Geburt eines neuen spirituellen Ich aus den Schlacken des alten Ego. Als Sinnbild des durch den Tod sich erneuernden Lebens wurde der Wundervogel mit vielerlei Umdeutung von Griechen und Kirchenschriftstellern übernommen; allein von den Römern stammt die Neufassung der Sage, die besagt, der Phönix würde sich alle 500 Jahre in einem Feuersturm selbst verbrennen und sodann aus der Asche neu aufsteigen; als Heimat des Fabeltiers wurden nun so sagenumwobene Länder wie Arabien oder Indien genannt.

Seit dem 2. Jh. n. Chr. übertrugen die Kirchenväter das Bild des Phönix auf Christus. Wir dürfen daher auch im Phönix ein Sinnbild des Inneren Christus-Lichts sehen. Aber auch in zahlreiche Märchen ist das Phönix-Motiv eingedrungen. Oft erhält der Held den Auftrag, diesen Wundervogel aus einem fernen Land zu holen, ihn seiner goldenen Federn zu berauben oder ihm Geheimnisse zu entlocken. Dabei hat sich der Phönix, gleich dem Greifen oder dem Einhorn, oft zu einem dämonischen Wesen gewandelt; hieran sieht man, wie in den Volksmärchen der ursprüngliche esoterische Sinn der Ursymbole oftmals völlig verloren ging.

Die esoterische Botschaft der Märchen

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