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2. »Heiliger Sonntag«

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»Herzlich willkommen auf unserem Holstenhof!« Nilis Vetter Hans-Peter öffnet den Gästen die Haustür. Er geht auf Nili zu und umarmt sie, dann schüttelt er Waldi die Hand. Schließlich sagt er: »Hallo, Hauke, lange nicht gesehen!«

»Und doch wiedererkannt!«, erwidert dieser. »Entschuldigt unseren Überfall, aber Nili hat uns hierzu verdonnert. Ich darf dir meine Kollegin KOK Dörte Westermann vorstellen!«

»Zieht euch doch eure nassen Sachen aus, ihr müsst halb erfroren sein!«, bemerkt Hans-Peter, während er und Dörte sich die Hand geben.

Sie legen ihre durchnässten Jacken ab und hängen diese an die große Wandgarderobe.

»Und zieht bitte auch eure Schuhe aus!«, fügt Nili an. »Dort hinter der Garderobentür findet ihr genügend Puschen zur Auswahl!«

Hans-Peter führt die Gäste in die warme und gemütliche Wohnküche, in der Platz für alle ist. Die gesamte Truppe wird von den Familienmitgliedern mit großem Hallo empfangen. Hausherr Oliver umarmt zunächst seine Nichte Nili, dann verkündet er unwillkürlich auf Spanisch: »Bienvenidos en ésta su casa!«

»Aber Onkel Oliver, meine Freunde verstehen doch kein Spanisch!« Nili lacht und wendet sich Hauke und Dörte zu. »Was er euch sagen wollte, ist: ›Willkommen in diesem, eurem Hause!‹ Es handelt sich um eine im spanischen Sprachbereich weitverbreitete Begrüßung. Meine Großeltern haben zusammen mit ihren Kindern, also mit Oma Clarissa, Onkel Oliver und meiner Ima Lissy, die Nazizeit im bolivianischen Exil verbracht und kommunizieren auch heute noch in dieser Sprache. Für mich ein großes Plus, denn schon aus dem Grund bin auch ich mit dieser Sprache aufgewachsen.«

Nachdem sich die beiden Gäste des Hauses mit der Familie bekannt gemacht haben, lässt Hauke es sich nicht nehmen, Nilis inzwischen sechsundneunzig Jahre alte Großmutter ganz besonders herzlich zu begrüßen. »Ich freue mich, sehr geehrte Frau Keller, Sie nach so langer Zeit mal wieder zu treffen. Ich muss Ihnen ein Kompliment aussprechen, gnädige Frau: Sie sehen immer noch fantastisch aus, alle Achtung!« Ehrerbietig verbeugt er sich vor der alten Dame und deutet galant einen Handkuss an.

Oma Clarissa, der die Sache zunächst ein wenig unangenehm zu sein scheint, greift nach Haukes Hand und fragt mit einem Augenzwinkern: »Sag mal, Nili, war dein Kollege immer so ein Charmeur?« Dann, an diesen gerichtet: »Danke, lieber Hauke, das war sehr lieb von dir! Aber woher hast du diese vornehme Art? Jedenfalls tut es einer alten Frau wie mir gut, ab und zu einmal so richtig hofiert zu werden!«

Ihren Worten folgt allgemeines, sehr vergnügtes Gelächter.

Nili ist von Haukes Auftritt sehr berührt, geht auf ihn zu und umarmt ihn. »Genug geklönt, Leute! Greift zu, die Spiegeleier und die Würstchen werden nicht heißer!« Onkel Oliver geht mit gutem Beispiel voran und bedient sich. »Wo hast du denn deine beiden Kollegen getroffen?«, erkundigt sich Lissy.

»Waldi und ich waren auf unserer üblichen Joggingstrecke, als Hauke und Dörte zufällig vorbeifuhren. Da es gerade heftig zu schneien begann, haben sie uns einfach in ihrem Wagen mitgenommen!«

Hauke nickt: »Wir fuhren zu einem Einsatz – macht doch nichts, Dörte, sie erfahren es sowieso morgen aus der Presse und im Radio – in dem neuen Windpark am Nordrand von Oldenmoor. Man hat dort eine unbekannte Leiche gefunden, und da hilft weder Zähnefletschen noch Müdesein, auch nicht an diesem Sonntag, wo so ein hundsmiserables Wetter ist. Also mussten wir wohl oder übel dorthin.«

Dörte, die kurz davor gewesen war, Hauke zu unterbrechen, nahm schweigend etwas von dem Rührei, das Oliver ihr reichte.

»Wisst ihr schon, wer der Tote ist?«, fragt Oskar, der jüngste von Nilis Cousins.

»Nein, leider nicht. Bei dem Wetter konnte weder die Polizei noch der Kriminaltechnische Dienst groß etwas an der Fundstelle ausrichten. Wir mussten deshalb kurzerhand den Einsatz abbrechen.«

Ein wenig verwundert sieht Nili ihren Waldi an, der mit seiner Erklärung offenbar versuchen wollte, von dem leidigen Thema abzulenken. Dann eilt sie ihm zu Hilfe: »Hast recht, Waldi, lasst uns lieber von etwas Angenehmerem reden!«

Als Dörte und Hauke sich etwas später verabschieden, hat es zwar aufgehört zu schneien, doch die gesamte Landschaft ist nun von einer dicken weißen Schneeschicht bedeckt, die von starken östlichen Windböen verweht wird und sich an manchen Stellen bereits meterhoch auftürmt.

Waldi und Nili begleiten die beiden hinaus: »Fahrt vorsichtig, Freunde! Wenn Petrus so weitermacht, geht hier bald auf den Straßen nichts mehr«, orakelt Nili.

Bevor Hauke in den Wagen steigt, fragt er: »Sagt mal, liebe Kollegen, würdet ihr uns bei diesem Fall eine Hand reichen? Mir schwant, dass wir allein nicht weiterkommen werden. Es hat wegen der Windräder in letzter Zeit einen ziemlichen Aufruhr in der Bevölkerung gegeben. Wenn dieser Fall irgendwie damit zu tun haben sollte, na denn Mahlzeit!«

»Im Prinzip sehr gerne, nicht wahr, Waldi?«, sagt Nili. »Aber ehrlich gesagt glaube ich kaum, dass euer Boss, der ehrenwürdige Herr Kriminaloberrat Stöver, so etwas zulassen würde. ›Hein Gröhl‹ ist doch berühmtberüchtigt wegen seiner Abneigung gegen jede ›Einmischung‹ von außen, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern!«

»Versucht doch erst einmal die Leiche zu identifizieren«, beschwichtigt Waldi. »Wenn ihr wisst, um wen es sich handelt, und dann tatsächlich Hilfe benötigt, gebt uns Bescheid! Dann ergibt sich vielleicht eine passende Gelegenheit. Und nun ab mit euch, bevor es wieder schneit. ’ne gute Fahrt und tschüss!«

*

Kranführer Wilfried Beuck parkt sein Audi Q5 vor dem Eingangstor des Barghus. »Komm schon, Sigfried, wir müssen dem Chef Bericht erstatten.«

Monteur Förster steigt ebenfalls aus. Beide betreten die geräumige Diele des ehemaligen Bauernhauses, in dem der Sitzungssaal der Genossenschaft eingerichtet wurde. Sie gehen weiter bis zu einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift »Technischer Leiter« und dem Namen des Diplomingenieurs – Wolfgang Schneider – angebracht ist.

»Herein!«, ertönt es von innen, nachdem Beuck angeklopft hat. Schneider begrüßt die beiden, überrascht über ihr unerwartetes Erscheinen.

Der Kranführer berichtet kurz von der Anordnung des Montageleiters Klages, die sie zur Inspektion der Gerätschaften an die Baustelle geführt hatte, und von dem dabei erfolgten grausamen Fund.

»Oh weh, das ist ja fürchterlich! So etwas hat uns gerade noch gefehlt! Verdammt noch mal, womit haben wir nur dieses Schlamassel verdient? Wer uns das wohl eingebrockt hat!« Schneider lässt die beiden ausführlich berichten. »Habt ihr sonst irgendjemandem von dem Leichenfund erzählt?« Als Wilfried Beuck und Sigfried Förster verneinend die Köpfe schütteln, greift Wolfgang Schneider zum Telefon. »Dann macht jetzt mal Feierabend, Jungs. Ich kümmere mich darum. Seid so nett und haltet die Schnauze über diesen Vorfall. Wir müssen ja nicht unbedingt alle Hunde wecken. Das werden mit Sicherheit andere zur Genüge tun, vor allem die feindseligen Medien!«

Die Angesprochenen murmeln nur noch ihr »Auf Wiedersehen, Chef!« und verschwinden lautlos durch die Tür.

»Hier ein aufgebrachter Alfred Rademacher am Hörer! Wer wagt es, meine heilige Sonntagsruhe derart zu stören?« Der Geschäftsführer der Genossenschaft ist offensichtlich über den Anruf wenig erfreut.

»Tut mir leid, Herr Rademacher, dass ich Ihre Siesta unterbreche, aber ich muss Ihnen ein sehr bedauerliches Ereignis melden, das zudem keinen Aufschub erlaubt!« Schneider erzählt seinem Vorgesetzten von dem Vorfall, so wie dieser ihm soeben gemeldet worden war.

Nachdem Alfred Rademacher seinem ersten Entsetzen lauthals Luft gemacht hat, beruhigt er sich und senkt seine Stimme. »Mensch, Schneider, das kommt ja wohl wirklich zum allerunglücklichsten Zeitpunkt. Keine Ahnung, um wen es sich bei dem Toten handeln könnte? Ich meine, hat er irgendetwas mit unserem Unternehmen, mit unseren Gegnern oder etwa mit unserem Projekt zu tun?«

»Soweit unsere Mitarbeiter mir soeben berichteten, ist die Antwort eindeutig nein! Es scheint sich um eine uns völlig unbekannte Person zu handeln, jedenfalls hat keiner der dort ermittelnden Beamten irgendwie erkennen lassen, dass die Identität des Toten bekannt sei. Mir scheint, der Täter hat einfach nur nach einem günstigen, weil weitab gelegenen und kaum frequentierten Ort gesucht.«

»Ihr Wort in Gottes Ohren, mein lieber Schneider! Fällt Ihnen irgendetwas ein, was wir eventuell tun sollten?«

»Ich denke, zunächst am besten die Ruhe bewahren, sehr geehrter Herr Rademacher. Informieren Sie doch erst einmal die anderen Vorstandsmitglieder. Meiner Meinung nach sollten wir ›abwarten und Tee trinken‹, wie der alte, weise Friese sagt. In der augenblicklichen Situation können wir sowieso nichts anderes tun. Vielleicht lässt sich unsere PR-Dame vorsorglich einen passenden Text für die Verlautbarung an die Medien einfallen. Das könnte sich durchaus positiv für uns auswirken, sobald der Vorfall publik wird.«

*

»Hast du nun endlich deine Entscheidung getroffen, Schwiegervater? Die Bedenkzeit, die Regine und ich dir vor zwei Wochen gegeben haben, ist um. Wir müssen nun endlich erfahren, woran wir sind.«

Norbert Bahlke fängt sich einen scheelen Blick des Altbauern Theo Thode ein. »Ick hef yum segt, ick lass mi nie nich de Pistol op de Bost setten!«, antwortet er stur.

»Dann dait uns dat mannig leid, Vadder, dann schalt wi nun uttrecken!«, verkündet seine Tochter Regine mit von Tränen erstickter Stimme.

Der Altbauer springt von seinem Stuhl auf, hinkt hinüber zu seiner Tochter und umarmt sie. »Woll du worhaftig dien ol’n Vadder leddig loten, mien Deern?«

»Kannst du uns nicht wenigstens etwas entgegenkommen?«, fragt Norbert Bahlke. »Natürlich möchten Regine, die Kinder und auch ich keineswegs von hier weg. Du musst aber verstehen, dass es so, wie es bisher war, nicht weitergehen kann. Wir haben kein Geld mehr in der Kasse, sind praktisch pleite und müssen jede Woche zwei Milchkühe dem Schlachter überlassen. Sieh doch der Realität ins Gesicht! Diese Art Landwirtschaft wirft in der heutigen Zeit keinen Gewinn mehr ab, von dem wir alle einigermaßen anständig leben könnten. Und ich muss an unsere Zukunft und an die unserer Kinder denken. Die sollen doch was Ordentliches lernen! Leider haben sie hier auf dem Hof kaum noch eine Zukunft, und ohne Bildung bekommen sie keinerlei Chance für ihr Leben. Die Windräder wären unsere Rettung. Glaube mir, wir meinen es nicht böse mit dir, aber ich kann doch nicht weiter mit ansehen, wie meine ganze Familie darbt, nur weil du uns diese uns einzig verbliebene Möglichkeit vereitelst.«

Regine sieht ihren Vater flehend an. »Vadder, denk doch an unsere liebe verstorbene Modder, dien Siglinde, die hätte uns ganz bestimmt recht gegeben!«

Altbauer Theo Thode wendet sich von seiner Tochter ab und dreht sich zu seinem Schwiegersohn um. Dieser bemerkt verwundert, dass zwei dicke Tränen über die wettergegerbten, runzligen Wangen des Alten kullern. Mit heiserer Stimme gibt sich Theo Thode geschlagen. »Dann mokt man in Gottes Nomen, wat ihr wullt!« Schwer hinkend verlässt er die Wohnküche.

Erleichtert fallen sich Norbert und Regine in die Arme.

*

»Ruf bitte all die Freunde zusammen, Elisabeth! Es gibt brisante Neuigkeiten!«

»Was ist denn los, Martha, weshalb die Aufregung?«, flötet Elisabeth Beckstein, die Erste Vorsitzende des BÜGEWIR – Bürger gegen Windräder e. V. – mit Sitz in Neufeld am Dithmarscher Nordseeufer, verwundert ins Telefon.

Die Aktivistin Martha Waldberg antwortet: »Jonas hat mich gerade angerufen. Er sagt, dass in einer Fundamentgrube am neuen Windpark bei Oldenmoor eine Leiche gefunden wurde. Ob das einer von unseren Leuten ist?«

»Mensch, Martha, denk doch mal nach! Glaubst du wahrhaftig, dass bei diesem miserablen Wetter auch nur einer von denen hier eintrifft? Auf der B 5 und auf der Zufahrtsstraße nach Neufeld türmen sich meterhohe Schneewehen. Unter diesen Umständen glaube ich kaum, dass wir die Freunde überhaupt zusammenkriegen! Weiß man denn nicht, wer der Tote ist?«

»Soweit ich erfahren konnte, ist nichts darüber bekannt. Aber allein die Tatsache des makabren Fundes ausgerechnet an diesem neuralgischen Ort lässt doch die Vermutung zu, dass es einer von uns ist. Rein psychologisch würde das zudem bestens in unsere Liste der Argumente gegen diesen verfluchten Windpark passen. Doch wahrscheinlich hast du recht. Bei diesem Wetter traut sich wohl kaum jemand vor die Tür, geschweige denn in sein Auto, um zu dir hinauszufahren. Aber bitte ruf doch alle unsere Freunde an und informiere sie. Sie sollen ihre Lauscher offen halten und alles zusammentragen, was sie in Erfahrung bringen können. Wir treffen uns dann, sobald wir mehr wissen und sich die Wetterlage beruhigt hat.« Martha hält einen Moment inne und fährt dann fort. »Sag mal, da fällt mir noch etwas ein: Weißt du, wo unser Lübecker Mitstreiter abgeblieben ist? Ich habe schon seit zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört. Auch auf meine Mails hat er nicht geantwortet.«

Als Elisabeth Beckstein sich dazu äußern will, wird sie von Martha unterbrochen. »Du auch nicht? Komisch! Na, dann man tschüss, liebe Elisabeth, hol di und erfriere ja nicht an deinem Deich!« Sie legt auf und überlegt. Vielleicht hat ihre ein wenig überkandidelte Aktivistin Martha gar nicht so unrecht mit dem Gedanken, dem verhassten Windkraftprojekt ein wenig ans Bein – oder eher zutreffend an den Mast – zu pinkeln. Sie ruft bei ihrem Vize, dem Gymnasiallehrer Menno Brauer, an und hat dessen Ehefrau Julia am Apparat. Ihr Mann sowie ihr Sohn Jonas seien unterwegs, erklärt Julia Brauer und versichert ihr, den beiden Bescheid zu geben, sobald diese wieder zu Hause eintreffen. Schließlich informiert Elisabeth Beckstein die medizinische Beraterin des Vereins, Frau Dr. Grete Voss. Diese verspricht, mit ihrem Kollegen, Herrn Dr. Vollmert, Kontakt aufzunehmen, von dessen Frau sie beiläufig beim heutigen Sonntagsgottesdienst erfahren habe, dass dieser zu einer Leichenschau gerufen worden sei.

*

Nili und Waldi winken ihren Kollegen hinterher, bis der Streifenwagen von der Hofauffahrt auf die Hauptstraße abgebogen ist. Während sie wieder in das Haus gehen und Waldi die Tür schließt, sagt er leise: »Sag mal, meine Schnuggelfrau, wo können wir uns hier ungestört ein wenig unterhalten? Ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen.«

Nili schaut ihn zunächst verwundert an. »Ich habe wohl bemerkt, dass Ihnen etwas über die Leber gelaufen sein muss, mein geliebter Herr EKHK Mohr!«, bemerkt sie, nun lächelnd. »Bitte folgen Sie mir unauffällig!« Sie geht voran und öffnet die Tür zu Onkel Olivers Büro. »Hier dürfte uns heute wohl kaum jemand stören. Also, Liebster, was beschwert dein Gemüt?« Nili setzt sich in den Bürosessel am Schreibtisch.

Nachdem Waldi ihr gegenüber auf dem Lehnstuhl Platz genommen hat, räuspert er sich und schaut auf den Boden. »Ich weiß nicht genau, wie und wo ich beginnen soll.« Er versucht erst einmal seine Gedanken zu ordnen. Nach kurzer Pause setzt er fort: »Also, ich muss da etwas weiter ausholen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass zurzeit – und besonders hier im nördlichen Schleswig-Holstein – eine bittere Fehde zwischen Befürwortern und Gegnern von Windkraftanlagen ausgebrochen ist. Sicher, seit der Energiewende ist es nötig geworden, die nach und nach stillgelegten Kernkraftwerke durch Erzeugung alternativer Energien zu ersetzen. Dabei ist allerdings der Zuwachs an Windrädern in dieser Region um einiges zu hastig erfolgt. Dies geschah auch – und das muss ich leider betonen –, ohne die direkt davon Betroffenen vorab zu informieren und zu beraten, ihnen zuzuhören und vor allem ihre Zustimmung einzuholen. Den Bauern hier geht es bekanntlich nicht gut und sie waren wohl zum Teil sehr darauf erpicht, ihr schmächtiges Einkommen mit der Verpachtung von Landflächen zur Aufstellung der Windräder wesentlich aufzubessern. So weit, so gut. Doch besonders in den letzten drei Monaten haben wir eine rasante Zunahme der militanten Gegnerschaft bemerkt, die mit zahlreichen und teilweise berechtigten, aber auch ebenso an den Haaren herbeigezogenen Scheinargumenten ein regelrechtes Kesseltreiben gegen die Erbauer der Windkraftanlagen und deren Befürworter veranstalten. Was ich dir jetzt sage, Nili, ist selbstverständlich vertraulich. In unserem LKA-Dezernat 21 haben wir versucht, die Sachlage zu analysieren, sind aber immer wieder an Grenzen gestoßen, weil unsere Informanten – je nach ihrer persönlichen Einstellung – weitestgehend subjektive und besser gesagt weniger objektive Berichte abgeliefert haben.«

»Ist die Sachlage tatsächlich derart drastisch, dass sich sogar das LKA dafür interessiert?«, wirft Nili ein wenig verwundert ein.

»Nun ja, unsere beiden obersten Bosse, die Kriminaldirektoren Timo Freiberg und Rüdiger Voss, sowie mein Chef, Kriminaloberrat Andreas Heidenreich, sind offenbar dieser Meinung und befürchteten eine Eskalation. Um dieser Eventualität vorzubeugen, haben sie vor einiger Zeit beschlossen, einen verdeckten Ermittler in die Reihen der Windkraftgegner einzuschleusen, damit wir uns ein umfassendes Bild von den tatsächlichen Strömungen und Aktivitäten für und gegen Windkraft machen können.«

»Euch erscheint also diese Angelegenheit wirklich derart akut?« Nili hat ein ungutes Gefühl.

»Nun, um dir die Wahrheit zu sagen, habe ich bis heute auch nicht unbedingt daran geglaubt. Und nun hat sich auf einmal die Lage verändert.«

»Was veranlasst dich zu dieser Aussage, Waldi? Du meinst doch damit nicht die aufgefundene Leiche, oder? Die kann jeder beliebige Täter ganz einfach dort deponiert haben, ohne dass dieses Verbrechen in irgendeinen direkten Zusammenhang mit ›pro‹ oder ›contra Windkraftanlagen‹ gebracht werden kann.«

»Da muss ich dir leider widersprechen, meine geliebte Nili. Ich habe nämlich das Gesicht des Toten gesehen und ihn erkannt: Es ist unser LKA-Kollege Kriminalkommissar Werner Köppen!«

Nili ist sprachlos. »Oh mein Gott, der Arme! Das trifft einen hart und tut wirklich weh! Warum hast du denn den hiesigen Kollegen nicht gleich gesagt, dass du den Toten erkannt hast?«

»Aber Nili, denkt doch mal nach! Was meinst du, welch ein Tumult losbricht, wenn die Leute erfahren, dass hier ein verdeckter Ermittler des LKA eingeschleust und vermutlich deswegen sogar ermordet wurde? Es ist viel besser, wenn man in dieser Sache zunächst ein wenig im Dunkeln tappt, bevor die ganze Wahrheit ans Licht kommt. Auf jeden Fall muss ich schleunigst zurück nach Kiel, um persönlich Meldung zu erstatten. Sollen sich doch die verantwortlichen Herren Gedanken machen, wie sie aus dieser Nummer wieder herauskommen!«

»Natürlich hast du recht, Waldi! War dumm von mir!«

Dieser will protestieren, doch Nili erhebt sich und geht mit einem vielversprechenden Gesichtsausdruck auf ihren Geliebten zu. Waldi steht auf, sie umarmen sich und geben sich einen sehr, sehr langen Kuss. Der enge körperliche Kontakt ihrer Leiber bleibt nicht ohne deren natürliche Folgen. Langsam zieht Waldi Nilis Jogginghose über ihre Hüften, dann tut Nili dasselbe bei ihm. Wenig später sitzen beide fast vollständig nackt in Onkel Olivers Bürosessel. Während sie sich abermals eng umarmen und liebkosen, dringt Waldi behutsam in sie ein, und bald schweben sie in den Wolken eines himmlischen Orgasmus.

Rasch ziehen sie ihre Kleidung wieder an, wurde doch soeben mehrfach nach ihnen gerufen. Gerade haben sie sich zurechtgemacht und wieder hingesetzt, öffnet Tante Madde die Bürotür. »Ach, hier seid ihr!«

»Ja, Tante Madde, Waldi und ich hatten etwas Berufliches zu besprechen.«

»Weiß jemand, wann der nächste Zug nach Kiel geht?«, versucht Waldi abzulenken. »Ich muss mich dann wohl mal auf die Socken machen, ich will nämlich morgen früh unbedingt pünktlich in meinem Büro sein!«

Nili schüttelt den Kopf. »Ich weiß leider nicht, wann von Oldenmoor aus die Züge gehen. Wahrscheinlich ist es besser, ich bringe dich nach Wrist. Von dort aus hast du, soweit ich weiß, stündlich eine direkte Regio-Verbindung. Ich hole mir nur schnell Imas Autoschlüssel, dann fahre ich dich erst einmal zu unserem Onkel Suhls Haus, damit du deine Sachen holen kannst.«

Während sie eine Stunde später in Ima Lissys VW Taro nur mühsam auf der verschneiten Landstraße vorankommen und hier und dort die vom Wind zusammengefegten Schneewehen überwinden müssen, unterhalten sie sich weiter über den grausamen Tod des Kollegen.

»Vielleicht ist es ein günstiger Wink des Zufalls, dass du die nächsten Tage hier verbringen kannst, Nili. Es wäre sicherlich nützlich, wenn du – natürlich möglichst unauffällig – ein wenig auf die Pirsch gehst. Vielleicht erfährst du dabei ja etwas Nützliches.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Ist doch nur natürlich, wenn ich meinen früheren Arbeitskollegen ein wenig unter die Arme greife, oder? Ich ahne sowieso, dass es nicht lange dauern wird, bis man mich um Unterstützung bittet. Brauchst keine Angst zu haben, selbstverständlich weiß ich überhaupt nichts davon, dass der arme Tote unser KK Werner Köppen ist, das müssen die hiesigen Kollegen schon selbst herausfinden, wenn sie es überhaupt ohne die Unterstützung durch das LKA schaffen. Am besten wäre es, wenn es dem LKA irgendwie gelingen sollte, die Leiche in die Rechtsmedizin der Uni in Kiel zur Obduktion überführen zu lassen. Lasst euch doch dazu etwas Passendes einfallen!«

Raue Februarwinde über den Elbmarschen

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