Читать книгу In der Q-Schlinge - Manfred Hinderer - Страница 4

1.Kapitel Inder Q-Schlinge

Оглавление

Der Tag war noch bei der Morgentoilette. Das Taxi verpasste die Einfahrt in die Walter-Heller-Straße. F konnte es beobachten. Er wartete, bis der Fahrer seinen Irrtum bemerkt und den Wagen zurückgesetzt hatte, so dass er einbiegen und vorfahren konnte.

„Flughafen bitte,Terminal 3“. Um diese Zeit konnte man noch ungehindert vom dichten Verkehr durchrauschen. Wie oft hatte F in den letzten 15 Jahren sich früh auf den Weg gemacht, um noch am selben Tag irgendwo in Europa eine Firma zu besuchen und seiner Arbeit nachzugehen. Er gab seinen Rollkoffer am Gepäckschalter auf. Fast eine Million Flugmeilen hatte ihn das gute Stück begleitet und dabei 4 Kontinente gesehen.

Um 10 Uhr sollte das Audit mit dem Gespräch bei der Unternehmensleitung beginnen.

Abflug 06:40h nach Lyon war pünktlich.

Régional Air flog im Auftrag der Air France. Das Morgenlicht hübschte die Alpen zusätzlich auf und der Mont Blanc spreizte sein Portrait ins Kabinenfenster. F bewegte der Gedanke, dass solche Momente wohl gezählt sind, denn er hatte seinen Entschluss gefasst, im Dezember mit der Auditorentätigkeit aufzuhören.

Noch einmal ließ er die Stationen seines Berufslebens Revue passieren: nach dem Diplom begann er in einem Konzernunternehmen der Nachrichtentechnik mit der Aufgabe, eine Laborgruppe für Kunststoffanwendung zu leiten. Die wachsende Anwendung von Kunststoffen konnte er mit der Auswahl geeigneter Materialien und konstruktiven Auslegungsempfehlungen begleiten. So hat er noch heute, wenn er einen Telefontischapparat in postgrauer Farbe sieht, einen „aha“-Moment. Die Veränderung in ein ganz neues Gebiet, der „integrierten Qualitätssicherung“, war ein Schritt, der ihn aufgrund einer Firmen-internen Ausschreibung nach wenigen Jahren gereizt hatte: die Mitarbeit bei der Entwicklung der ersten sogenannten „Null-Fehler-Programme“ in Deutschland und die Gestaltung des entsprechenden Qualitätsgeschehens, ausgehend von einem Pilotbereich.“Null-Fehler“? Der Gedanke klang grandios und ambitioniert. Die systematische Umsetzung im Unternehmensalltag erwies sich als überaus vielgestaltig und forderte Ausdauer. Im Laufe der üblichen organisatorischen Veränderungen wurde sein Arbeitsgebiet schließlich im Zentralen Qualitätswesen als Referat „Qualitätstechnik und Produktsicherheit“ eingeordnet. In den 14 Jahren, die daraus wurden, betrat man auf dem Gebiet des Qualitätsmanagements viel Neuland, es gab Bewusstseinsveränderungen und missionarische Aufgaben, innerhalb und außerhalb der Firma.

Mit dem Gelernten aus dem Großunternehmen begab er sich als Qualitätsleiter an die Front bei einem mittelständisch geprägten Zulieferunternehmen mit mehreren Fertigungsstätten. Die Gestaltung eines bis dahin fehlenden Qualitätsmanagementsystems war neben der Präsenz für die täglichen Fragen und Entscheidungen erwartet und gefordert. Zum Aufbau und Betrieb des Systems, der Repräsentanz gegenüber den Kunden und zur Behandlung der Probleme stand ihm ein kleines Team zur Seite, dem er seine Denkweise gut vermitteln konnte. Er bereute es nicht, diese Aufgabe übernommen zu haben, obwohl kitzlige Momente zu überstehen waren, insbesondere als das Unternehmen in Konkurs geriet. Das war aus verschiedenen Gründen durch Qualität nicht zu verhindern. Immerhin war die Qualitätsreputation der Firma für die Weiterführung durch neue Investoren der entscheidende Faktor. Sie ließen F in seiner Funktion und holten ihn auch zur Unterstützung ihrer Werke, die sie in den U.S.A. betrieben. Daneben hatte er sich ein zweites Standbein durch die Qualifikation als Auditor für Zertifizierungsgesellschaften geschaffen.

Anfangs hatte er auf einen Teil seines Angestelltengehaltes verzichtet, um Begutachtungen für die Zertifizierungsgesellschaft , mit der er sich als freier Auditor geeinigt hatte, durchführen zu können. Die Anfragen für Audits zur Zertifizierung der Managementsysteme wurden mehr, insbesondere aus der Automobilindustrie, für die er sich spezielle Zusatzqualifikationen erworben hatte.

Damals, als er die Weiche für die Auditorentätigkeit als Hauptberuf stellen musste, hatte er eine Handvoll Audits bei verschiedenen Firmen durchgeführt und arbeitete sich in die Abläufe ein, die zur Planung und Berichterstattung gefordert waren. Er musste sich entscheiden, ob er die Sicherheiten des Angestelltendaseins aufgeben wollte zugunsten der Freiheiten, aber auch der Risiken, in der Rolle des Freiberuflers. Die Warnungen vor der „Selbstausbeutung“ der Selbständigen hatte er vernommen. Er musste die Robustheit seiner Gesundheit abschätzen, ob sie ihm erlauben würde, ohne große Ausfälle über die nächsten Jahre immer anzutreten. Für bezahlbare Zusatzversicherungen, um Verdienstausfall zu kompensieren, war er zu alt. Broschüren und Beratungsunterlagen für Existenzgründer von offiziellen Stellen, wie der Industrie- und Handelskammer, trafen für seine Situation kaum zu.

Was sollte die Basis der Existenz sein? Kann man von Qualität, von der Begutachtung der dafür installierten Systeme, leben? Vielleicht noch hie und da ein Beratungsauftrag?

Solide Berufsausbildung, Wissen über Normen und Regelungen, Erfahrungen im internationalen Geschäftsverkehr, technisches Know-How, Kenntnisse aus Konzernunternehmen und mittelständischen Unternehmensformen , abgelieferte Projekteergebnisse, dramatische Erfahrungen aus der Personalverantwortung - waren das ausreichende Pfunde, die einen Sprung in die Selbständigkeit aussichtsreich erscheinen ließen? Eine veränderte Lebensweise war absehbar: Viele Reisen, keine Kontinuität in der Zeitplanung, kein Freiraum für Ehrenämter oder regelmäßige Freizeitinteressen, weniger Zeit für Ehefrau und Familie, dafür viel Vorbereitung und Nachbereitung der Audits an Wochenenden, ständige Weiterbildung und regelmäßige Prüfungen zur Ergänzung und Aufrechterhaltung der Qualifikation, jedes Mal mit dem hohen Potential, zu scheitern.

Und dann die unterschiedliche Akzeptanz des gesamten Zertifizierungsgeschehens: In den Jahren davor hatte sich der Bedarf, im Geschäftsverkehr allgemein anerkannte Regeln aufzustellen zur Förderung von gegenseitigem Vertrauen der Geschäftspartner immer deutlicher gezeigt. Das fand Niederschlag in Standards und Normen, die sich in den unterschiedlichen Branchen, Nationen, Märkten etc. entwickelten. Ein Treiber dieser Entwicklung war beispielsweise das Beschaffungswesen der amerikanischen Streitkräfte. Im nichtmilitärischen Bereich entstanden nationale Regelwerke, behördliche Normen oder Branchenvorschriften. Es zeichnete sich ab, dass es unumgänglich würde, auch auf internationaler Ebene Standards zu schaffen, die diesem Ziel dienten. Darin bestand bei allen ernstzunehmenden Gremien Konsens. Ein solches Bezugsregelwerk sollte dann die Basis für neutrale Begutachtungen bieten, die zur Zertifizierung des Qualitätsmanagementsystems dienten. Neutrale Auditoren mit Fachkenntnis in der betreffenden Branche sollten die Systeme vor Ort auditieren und der jeweiligen Zertifizierungsgesellschaft eine Empfehlung für oder gegen eine Zertifikatsverleihung unterbreiten.

In Wirtschaft und Industrie lagen für dieses Konzept die Haltungen anfangs weit auseinander – von „endlich kommt ein vergleichbares System und man spricht eine Sprache“ bis „bürokratisches Monster und Abzocke der wirtschaftlich Schwächeren“. Auch an der fachlichen Substanz wurde genörgelt. So begründete der Repräsentant eines bedeutenden Branchenverbandes seine Ablehnung an das Normungsinstitut mit den unterstrichenen Worten: Ein Qualitätssystem kann man nicht normen! (Heute gibt eben jener Verband für seine Branche mehrere Dutzend rote Bücher zum Qualitätsmanagement heraus als „unverbindliche Normempfehlung“, in asymptotischer Annäherung an die internationalen Standards).

Nach verschiedenen Geburtswehen hatte es schließlich auch in Deutschland zum Ende der 80-iger Jahre eine gültige Norm mit Forderungen an Qualitätsmanagementsysteme gegeben, nach der auch bald Zertifizierungen anliefen.

Seine Entscheidung für die Auditorentätigkeit stütze F u.a. auf die Erfahrung des Zertifizierungsprozesses im eigenen Unternehmen. Dort war die Kundenliste gleichsam das „Who-is- Who“ mehrerer Branchen: Automobilzuliefergeschäft, Elektrowerkzeuge, Staubsauger, Haushaltsgeräte, Flurförderfahrzeuge, Aufzüge und andere elektrische Maschinen. Jeder Kunde war bedeutend, viele prominent. Ein Trend hatte sich bei den Kunden entwickelt, das Qualitätssystem der Lieferanten bei einem Besuch zu beurteilen, d.h. mehr oder weniger qualifiziert zu auditieren. Der interne Zeitaufwand für diese Besuche wuchs rapide, die Ergebnisse und Berichte waren völlig inhomogen und selten hilfreich. Andererseits war die Intention der Kunden verständlich, die sie mit den Besuchen verfolgten – selbst dann, wenn es sich um den üblichen Jahreausflug der Delegationen handelte. Die Ablehnung eines Kunden hätte der als Brüskierung auffassen müssen, solange nicht alle anderen Kunden gleich behandelt worden wären. Was F brauchte, war eine neutrale Beurteilung seines Systems, einen qualifizierten Bericht und – wenn möglich – ein Zertifikat, das ausdrückte, nach welchem Bezugsregelwerk die Firma mit ihren verschiedenen Standorten begutachtet worden war. Er wollte die langsam entstehende touristische Abteilung aus Vertrieb und Qualitätswesen wieder schließen. Zu dem früh eingeleiteten Zertifizierungsprozess hatte er deshalb die Unterstützung der Geschäftsführer und der der Gesellschafter. Das Zertifizierungsaudit ging nicht ohne Ehrenrunde, d.h. Nachaudit, über die Bühne, so dass das selbstgesteckte Ziel, noch in den 80-er Jahren das Zertifikat zu erlangen, um wenige Wochen verfehlt wurde. Der Effekt aber war der erhoffte - mit Vorlage des Zertifikats war es möglich, die Auditwünsche der Kunden abzulehnen. Da gab es einige Enttäuschungen und kritische Stellungnahmen, aber auch Verständnis, wenn der Zusammenhang erläutert wurde. Die Kunden konnten auf Anforderung den Bericht des Zertifizierers erhalten, obwohl der auch kritische Formulierungen enthielt. F blieb ein Jahr lang hart. Die Ressourcen wurden wieder neu fokussiert. Das kam der Arbeit für die Produkt- und Prozessqualität entgegen. Der finanzielle Effekt war nachweisbar.

Da F viele Zulieferfirmen in der vergleichbaren Situation wusste, sah er einen wichtigen und wachsenden Markt, nicht nur national, sondern auch bei den vielen international verbundenen Unternehmen . Er wusste, dass er in dem Thema in voller Breite involviert war und dass er im Qualitätsmanagement sein Betätigungsfeld sah, seitdem Alfred H. ihn aus dem Werkstofflabor in das Qualitätswesen geholt hatte, um ihn bei der Einführung der Null-Fehler-Programme zu unterstützen. Die Entscheidung lief für ihn auf die Fragen hinaus: Wer – wenn nicht Leute wie ich? Wann, wenn nicht jetzt?

Das war dann der Moment, der es nahe legte, das Auditieren für Zertifizierungsgesellschaften und Beratungstätigkeiten aus der Position eines unabhängigen Ingenieurbüros durchzuführen . Sein Arbeitgeber hatte Verständnis und unterstütze ihn auch bei der Gründung seiner „Small Business Corporation“ in den USA, mit der er für verdiente Dollar auch amerikanische Steuern bezahlen durfte.

Die Schlinge zog sich zu – entrinnen aus dem Q-.Geschäft wurde immer aussichtsloser. Berufung ist wohl schon der treffende Ausdruck..

Die Jahre als Auditor boten ihm viele Möglichkeiten, Einblick in die Qualitätsgestaltung verschiedener Organisationen zu nehmen, aber auch Impulse zu geben für zweckmäßiges Vorgehen und das Finden von Lösungen. Er fühlte sich wie ein Anwalt der Kunden und konnte deren Interesse auch auf den unterschiedlichen Hierarchiestufen der besuchten Firmen vertreten. Er lernte, wie Beziehungsgeflechte in den Unternehmen funktionierten und entwickelte ein Gespür für formelles und informelles Management. Er begegnete einer Vielzahl von engagierten und motivierten Kämpfern für solide Qualität ebenso wie einigen Fassadenmalern. Ein Unternehmen, das ein Zertifikat erhielt, sollte dieses auch verdient haben. Wo Defizite beseitigt werden mußten, half er mit seinen Möglichkeiten beim Brückenbau. Die Seriosität des Zertifizierungsgeschehens lag ihm am Herzen. Pflichtgemäß hielt er sich auf dem Laufenden was die veränderten Forderungen der Bezugsnormen betraf ebenso wie über die Zertifizierungsregeln.

Die Auditorenarbeit war im Laufe der Jahre vielerlei Veränderungen unterworfen, speziell im Automobilsektor. Die Vorstellungen über die Interpretation der Normforderungen wurden durch die Gremien der Branche mit der Interpretationshoheit abgegrenzt. Mit schlichten Modellen halfen sie einerseits die Denkmuster über Prozesse zu kanalisieren, lösten damit aber auch eine beobachtbare Trägheit bei der Beschäftigung mit den allgemeinen Forderungen aus. Die Automobilhersteller hatten ihre „kundenspezifischen Forderungen“ und ihre spezifischen Abläufe weiter emtwickelt. Jeder baute seinen eigenen Balkon an das Regelwerk. Es ist die Aufgabe der Auditoren, die Einhaltung der kundenspezifischen Forderungen im Audit zu begutachten. Das gilt formal ohne Einschränkung, ist aber bei Organisationen, die nicht nur einen Kunden versorgen, faktisch nicht handhabbar, oder besser: wirtschaftlich nicht darstellbar im Zeitrahmen eines Zertifizierungsaudits.

Darüber hinaus wurde das Überwachungssystem für die Auditoren zum perfekten Misstrauenssystem entwickelt. Neben der regelmäßigen Requalifikation, die alle Auditoren durchlaufen und bestehen müssen, wurden sie in einem immer dichter gewobenen Netz von „Witnessaudits“ sowohl von Vertretern der Akkreditierungsinstanz als auch der Zertifizierungsgesellschaft bei der Durchführung von Audits begleitet und bewertet. Dabei hatte jeder Auditor im Zuge seiner Eingangsqualifikation nicht nur Lehrgänge und Prüfungen nachgewiesen, die Zertifizierungsgesellschaft hatte ihn auch auf seine persönliche Integrität hin zu bewerten. Dafür gibt es einen besonderen Normabschnitt. Da ist von Berufsethos, unparteiisch, aufrichtig, wahrheitsliebend ehrlich und weiteren edlen Eigenschaften die Rede. Es ist wohl für keinen Berufsstand so viel an persönlichen Voraussetzungen definiert, weder für einen Bundespräsidenten, einen Papst noch einen Bankchef, wie für Audoitoren. Eigentlich sind sie unbezahlbar. Auch wird ein Chefarzt, Pilot oder Architekt nicht mit dieser Dichte an Nachweisforderungen für die Erhaltung seiner Qualifikation konfrontiert und überwacht.

Die Witnessauditoren kommen aus großen Unternehmen, in denen sie Positionen im Qualitätsbereich inne hatten, oft waren sie langjährig für Verbände und Gremien tätig. Sie kennen die Normen, ihre Rolle dient der Absicherung, dass das Zertifizierungsgeschehen regelkonform abläuft. Die Kosten trägt die Zertifizierungsstelle, die sie natürlich in den Audit- und Zertifikatsgebühren an die begutachteten Firmen weitergibt.

F erlebte 14 Witnessauditoren im Laufe der Jahre. Ihre Kompetenzen waren natürlich durch Qualifikationslehrgänge und Prüfungen gewährleistet, der Beobachtung nach streuten sie etwa im Muster einer breiten Normalverteilung. Mit allen musste er notgedrungen kooperieren, denn ihre Berichte waren entscheidend für die weitere Zulassung als Auditor. Diese Verrenkungen mochte er sich nicht unbedingt viel länger antun.

Nun war er also entschlossen, sich von dieser Tätigkeit zurückzuziehen.

Seine 68 Jahre waren nicht der entscheidende Grund, denn die Gesundheit spielte noch mit, er hielt sich durch Joggen einigermaßen fit und mit den begutachteten Firmen gab es auch keine Reibungen. Nein, es war mehr eine Summe von Strömungen und Erscheinungen, die ihm Zweifel an der Nachhaltigkeit und Seriosität des gesamten Konzeptes weckten. Er konnte es nicht mit einem einzelnen Faktum beschreiben. Sicher gab es konkrete Schwächen in der Organsiation, die angetreten war, der Wirtschaft zu dienen, Vertrauen im Geschäftsverkehr zu entwickeln und Verschwendung zu vermeiden. Natürlich hatte es mit der Zertifizerungsorganisation hin und wieder Differenzen gegeben - weil er eigene Meinungen entwickelte und damit nicht gerade diplomatisch umging. Aber das war nicht die veränderte Grundstimmung, die er empfand. Es hatte sich etwas verselbständigt. Die mit Idealismus gestartete Bewegung hatte kommerzielle und bürokratische Schlagseite bekommen, Ansätze der Selbstheilung blieben früh stecken und der Spagat, das System vor Kunde zu vertreten und das Beste aus ihm zu machen, andererseits aber die kritische Beobachtungsdistanz nicht zu verlieren, wurde immer anstrengender.

Er war zunehmend überzeugt, dass das System nötig war, aber ohne Reform nicht überlebensfähig schien – zumindest nicht wirkungsvoll bleiben konnte. Das Schiller-Zitat kam ihm in den Sinn: Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre.

Für Ideen, die dem ganzen wachsenden Gebilde der „Qualitätsindustrie“ eine neue Richtung verleihen konnten, war keine geeignete Lobby zu erkennen, denn die interssierten Parteien versuchten natürlich, ihre jeweilige Nische auszubauen. Wer da mit Rückbau-Ideen antreten wollte, hätte gleich verloren.

Wie könnte es gehen, die in den letzten dreißg Jahren gewonnenene Substanz im Bereich des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung zu bewahren, aber gleichzeitig zu transparenteren und schlankeren Abläufen und Lösungen zu kommen? Was in einem einzelnen Unternehmen durchsetzbar ist, wenn es um das Zuückschneiden von Wildwuchs und die Besinnung auf die Kernaufgaben geht, ist in dem komplexen Geflecht von Organisationen im Wirtschaftsgeschehen nicht möglich.

Oder doch? Ist es möglich, von einzelnen Inseln aus, eine Bewegung auszulösen, die dem Ziel der Qualität voll verpflichtet bleibt, aber die Umwege, die unnötige Bürokratie und die verschiedenen subtilen Formen von Verschwendung beseitigt. Vielleicht verbünden sich doch einmal einige Beteiligte zu einer „Task-Force“, die das Thema angehen. Man sollte nicht unbedingt darauf wartern, dass die Bewegung erneut von anderen Ländern ausgeht.

Am Ende seiner Reflektionen hatte er sein Tagesziel erreicht und konzentrierte sich auf das Eröffnungsgespräch des Audits bei seinem französischen Kunden.

Die Auditorentätigkeit abzuschließen fiel F nicht ganz leicht. Er musste bekennen, dass er von dem Tätigkeitsspektrum immer noch fasziniert, ja infiziert, war. So lange es kein gesundheitliches Problem gäbe, sah er keinen Grund, mit der Arbeit im Dienste der Qualität aufzuhören. Sein Schlüsselerlebnis für die Erkenntnis, dass starre Altersgrenzen Unsinn sind und eine Diskriminierung darstellen, hatte er bei einem Audit in den USA. Beim Besuch des Werkstofflabors einer Firma bemerkte er, dass die Leiterin sicher nicht mehr zu den Jüngsten gehörte. Der Qualitätsleiter wies stolz darauf hin, dass die Dame bereits 78 Jahre alt sei. Als die Laborleiterin beim Lunch zufällig neben F Platz nahm, fragte er sie vorsichtig, was der Grund sei, dass sie noch arbeite. Sie antwortete etwas aufgebracht, warum er das frage. Ob denn die Bosse signalisiert hätten, dass sie den Job schlecht mache? Das war aber nicht der Fall. „Na also - diese Arbeit macht mir Spaß, ich komme jeden Morgen hier her, treffe nette Leute, meine Kinder sind aus dem Haus, mein Mann ist gestorben – kannst Du mir sagen, warum ich nicht arbeiten soll?“

Neben der Tätigkeit als Auditor war es F immer wichtig, gestalterisch tätig zu bleiben. Die Unterstützung kleiner Firmen beim Aufbau oder Umbau ihres Qualitätsmanagementsystems hielt ihn auf dem Laufenden in der realen Welt der Wirtschaftsinterssen und Zwänge. Daneben wurde er um Stellungnahmen zu speziellen Problem- und Streitfällen gebeten, er führte die eine oder andere Schulungsmaßnahme durch und half verschiedenen Unternehmen bei der Entwicklung ihrer Lieferanten. Um das Feld nicht ganz zu räumen, entschloss er sich, diese Art der beratenden Tätigkeiten beizubehalten. Langjährige Tätigkeit im Qualitätsgeschäft prägt – vielleicht sollte man sagen verdirbt – die Persönlichkeit irreversibel.

In der Q-Schlinge

Подняться наверх