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2. Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates

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Grundsätzlich basiert das gesamte System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, auch gesellschaftliche Risikovorsorge genannt, auf dem Versicherungsprinzip, dem Versorgungsprinzip und dem Fürsorgeprinzip.65

Versicherungsprinzip:

„Kernstück der Sozialen Sicherung in Deutschland ist die Sozialversicherung“ für die großen Lebensrisiken Alter, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Die auf Bismarck zurückführende obligatorische Sozialversicherung stieg zum „zentralen Element“ des sozialen Sicherungssystems auf. Eine staatlich organisierte Sozialversicherung erweist sich für diese nur bedingt kalkulierbaren Risiken im Vergleich zu einer privaten Versicherung als besser geeignet. Erstens können umfassende Solidargemeinschaften mit einer Umlagenfinanzierung große Belastungen, Katastrophen, Kriege eher bewältigen als kapitalansparende Sicherungssysteme, die durch Kriege oder Inflation leichter vernichtet werden. Vorteilhaft ist zweitens das Prinzip der Pflichtversicherung, da es den Menschen manchmal an einer ausreichenden privaten Vorsorge mangelt. Entscheidendes Kriterium für das Prinzip der Sozialversicherung ist aber drittens die Verknüpfung vom Versicherungsprinzip mit dem Solidarprinzip, wodurch eine Umverteilung der Belastungen erfolgt.

Beispielhaft für den Gedanken des Solidarprinzips steht die gesetzliche Krankenversicherung, wo die jeweils gezahlten Beiträge nicht das mögliche Risiko widerspiegeln, denn der Kranke und der Gesunde zahlen bei gleichem Einkommen die gleiche Prämie. Es herrscht demzufolge kein Äquivalenzprinzip. Man kann drei Ausprägungen des Solidarprinzips festmachen:66 Erstens werden ungleiche Risiken mit gleichem Beitrag zusammengefasst, zweitens besteht eine „intertemporale Umverteilung“, d.h. mit Blick auf den Generationenvertrag in der Rentenversicherung bedeutet dies einen Leistungserhalt in der Lebensphase, wenn selber kein Beitrag mehr geleistet wird bzw. werden kann, und drittens werden die Lasten durch eine einkommensabhängige Beitragszahlung zugunsten der Schwächeren durch die Stärkeren zumindest bis zur Beitragsbemessungsgrenze umverteilt. Letzteres ist vor allem in der Krankenversicherung ausgeprägt.

(b) Versorgungsprinzip:

Das Versorgungssystem basiert demgegenüber auf Steuermitteln und die Begünstigten haben einen Rechtsanspruch auf Leistungen wie beispielsweise die Kriegsopferversorgung ohne vorherige Beitragsleistung.

(c) Fürsorgeprinzip:

Das Fürsorgeprinzip hingegen verlangt eine Bedürftigkeitsprüfung vor einer Leistungsgewährung. Ein Anspruch auf Leistung besteht erst dann, wenn eigenes Vermögen und Einkommen sowie etwaige Unterhaltspflichten von Angehörigen nicht eingefordert werden können. Die Leistungen werden ebenfalls aus Steuermitteln bestritten, Beispiele sind die Formen der Grundsicherung, die Ausbildungsförderung oder das Wohngeld.

Gerhard Bosch variiert und differenziert einige übergreifende Grundprinzipien des deutschen Sozialmodells:67 Erstens nennt er das Subsidiaritätsprinzip, demzufolge ein Eingreifen des Staates erst erfolgt, wenn andere Ebenen nicht entsprechend helfen können, zweitens das mit der Rentenreform 1957 implementierte Prinzip der Sicherung des erreichten Lebensstandards, drittens das verfassungsrechtlich verankerte Prinzip der gleichen Lebensbedingungen in allen Landesteilen und viertens das Prinzip des equal pay bei vergleichbarer Arbeit in einem Betrieb.

Den zentralen Stellenwert bei der Darstellung der Einrichtungen und Leistungen des deutschen Sozialstaates nimmt das Sozialgesetzbuch (SGB) ein, das die Teile des verstreuten Sozialleistungsrechts in einem Gesetzeswerk zusammenfassen soll. 1976 begann diese große Aufgabe mit dem SGB I, dem Allgemeinen Teil. Der Allgemeine Teil des SGB beinhaltet eine Kodifikation sozialer Rechte des Bürgers, also eine Art „Sozialcharta für die Bundesrepublik Deutschland“68. § 1 SGB I formuliert als Aufgabe des Sozialrechts „… ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen…“. Die §§ 2 bis 10 beschreiben die sozialen Rechte der Bürger mit dem Anspruch auf soziale Sicherung, soziale Entschädigung und soziale Förderung, die §§ 13, 14 und 15 regeln Fragen der Durchsetzung des Rechtsanspruchs. Hierbei geht es um die Pflicht der Leistungsträger der Sozialen Sicherung zur Aufklärung, Beratung und Auskunft. Bisher sind 12 Bücher des Sozialgesetzbuches erschienen:

Abbildung 1: Sozialgesetzbuch (SGB)

Buch I: Allgemeiner Teil (1976) Buch II: Grundsicherung für Arbeitssuchende (2003)
Buch III: Arbeitsförderung (1998) Buch IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (1977)
Buch V: Gesetzliche Krankenversicherung (1989) Buch VI: Gesetzliche Rentenversicherung (1992)
Buch VII: Gesetzliche Unfallversicherung (1996) Buch XIII: Kinder- und Jugendhilfe (1991)
Buch IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (2001) Buch X: Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (Neufassung 2001)
Buch XI: Soziale Pflegeversicherung (1994) Buch XII: Sozialhilfe (2003)

Schließlich sei noch die Finanzierung des deutschen Sozialstaates kurz aufgegriffen. Die deutschen Sozialversicherungen als das Kernstück des Sozialstaates werden durch ein Umlagesystem finanziert, das aber eine begrenzte Liquiditätsreserve für kurzfristige Schwankungen beinhaltet. Abgesehen von der Unfallversicherung und dem Konkursausfallgeld für Beschäftigte, die beide ausschließlich von den Arbeitgebern finanziert werden, herrscht das Paritätsprinzip vor, demnach Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils die Hälfte der Beiträge übernehmen, allerdings mit Abweichungen bei der Krankenversicherung, wo die Krankenkassen einen nur vom Versicherten zu bestreitenden Zusatzbeitrag zahlen müssen und bei der Pflegeversicherung, wo zum Ausgleich des Arbeitgeberbeitrags ein bisheriger Feiertag gestrichen wurde (außer im Bundesland Sachsen). Neben den Beiträgen für die Sozialversicherung werden weitere sozialpolitische Leistungen durch Steuermittel als zweite große Finanzierungssäule bestritten: Dies betrifft die Grundsicherung einschließlich der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Sozialleistungen für Beamte und Zuschüsse aus Steuermitteln für einzelne Zweige der Sozialversicherung in der Krankenversicherung oder den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung.

53 Vgl. Hockerts, Problemlöser, S. 331ff. und Ritter, Sozialstaat, S. 10ff., ebenda, S. 11 und S. 13 (die beiden folgenden Zitate).

54 Nach Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015, S. 16f. habe sich erst in den 1970er Jahren der Begriff „Sozialstaat“ richtig verbreitet aufgrund des nachhaltigen Staatshandelns durch die sozialliberale Koalition und dem damit korrespondierenden Verständnis des Staates als Problemlöser.

55 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialwissenschaften, Sozialpolitik und Sozialrecht, in: Peter Masuch/Wolfgang Spellbrink/Ulrich Becker/Stephan Leibfried (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Bd. 1, Berlin 2014, S. 782ff.

56 Vgl. Leisering, Nachkriegssozialstaat, S. 426; ähnlich auch ders., Sozialstaat, S. 182.

57 Stephan Köppe/Peter Starke/Stephan Leibfried, Sozialpolitik. Konzepte, Theorien und Wirkungen (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 06/2008), S. 7.

58 Vgl. Köppe/Starke/Leibfried, Sozialpolitik, S. 9f. und ebenda, S. 12f. und S. 13f. (die folgenden Zitate).

59 Ritter, Sozialstaat, S. 16. In der vorliegenden Arbeit wird das Bildungswesen nicht weiter behandelt, um den vorgegebenen Rahmen nicht auszudehnen.

60 Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 13.

61 Ritter, Sozialstaat, S. 20.

62 Ritter, Soziale Frage, S. 5f.

63 Vgl. dazu Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 47 (mit Verweis auf die Debatten unter den Staatsrechtslehrern um das Spannungsverhältnis zwischen dem Rechtsstaatsprinzip und dem Sozialstaatsprinzip, was hier nicht weiter zu verfolgen ist).

64 Hans F. Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Stephan Leibfried/Uwe Wagschal (Hg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2000, S. 56 und ausführlicher ebenda, S. 56ff.

65 Vgl. dazu Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 157ff. und ebenda, S. 157 (das folgende Zitat).

66 Vgl. Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 165f.

67 Vgl. Bosch, Sozialmodell, S. 7.

68 Neumann/Schaper, Sozialordnung, S. 49.

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