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1. Zum Begriff des Sozialstaates

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Wir sprechen in dieser Arbeit vom Sozialstaat in Deutschland und verwenden nicht den vor allem im angelsächsischen Raum gebräuchlichen Terminus Wohlfahrtsstaat bzw. welfare state, der noch an die Wohlfahrtspflege aus der vordemokratischen Epoche des aufgeklärten Absolutismus erinnert.53 Demgegenüber wird hier betont, dass der moderne, voll ausgeprägte Sozialstaat „eine besondere Form der Massendemokratie“ ist, wenngleich einzelne Elemente des Sozialstaates durchaus in vordemokratischen Staaten und planwirtschaftlich organisierten Staaten, autoritären Staaten oder faschistischen Diktaturen zu finden sind. Sozialpolitik als Begriff kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und erlebte immer wieder einen Definitionswechsel. Dies galt auch für Deutschland als Pionierland der Sozialpolitik, wo seit Bismarcks Zeiten immer wieder Bezeichnungen auftauchten wie „Soziale Frage“, „Arbeiterfrage“ oder „Sozialstaat“. Letztlich ist der Begriff Sozialpolitik heute sehr umfassend angelegt, denn er beinhaltet neben staatlicher Sozialpolitik die Sektoren Markt, Verbände und Familien sowie andere Politikfelder wie z.B. Bildungspolitik oder regionale Wirtschaftsförderung oder Arbeitsbeziehungen.

Der Begriff des Sozialstaates ist in Deutschland wohl auf Lorenz von Stein in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, der die Bezeichnung „soziale Demokratie“ und den Terminus des „sozialen Staates“ verwendete. In der Weimarer Republik sprach man vom „Sozialstaat“ in einem positiveren Sinne. Der moderne Sozialstaat, der sich begrifflich nach 1945 im (west)deutschen Sprachgebrauch endgültig durchgesetzt hat, beinhaltet die „wesentlichen demokratischen Elemente der Gleichheit und Selbstbestimmung der Staatsbürger“. Der Terminus „Sozialstaat“ vermeidet Anklänge an eine paternalistische Wohlfahrt aus der Zeit des Absolutismus, die die bürgerliche Freiheit beschränkte.

Schließlich ist die Dominanz des Begriffs „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch ein Resultat negativer Assoziationen des Begriffs „Wohlfahrt“, der an das wenig erfreuliche Schicksal der sog. Wohlfahrtserwerbslosen in der großen Krise in der Endphase der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre erinnerte. Ebenfalls spielte die Erinnerung an die völkisch ausgerichtete NS-„Volkswohlfahrt“ eine Rolle bei der Vermeidung des Wohlfahrtsbegriffes. Die Dominanz der Terminologie „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart ist darüber hinaus auch auf das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip zurückzuführen. Schließlich beinhaltet „welfare state“ zumeist nicht das im deutschen Sozialstaat wichtige Arbeitsrecht, so dass der Begriff „Sozialstaat“ letztendlich eine spezifische deutsche Tradition verkörpert und hier vorrangig Verwendung findet.54

Zu den Eigenarten des deutschen Sozialstaats zählt Franz-Xaver Kaufmann55 die Verbindung zwischen Staatlichkeit und Sozialstaat, denn historisch gesehen ist die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland auf staatspolitische Überlegungen zurückzuführen, d.h. die sozialpolitische Aufgabe konzentrierte sich auf die Befriedung des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit. Des Weiteren ist in Deutschland im Unterschied etwa zu Schweden oder Großbritannien, wo man den Arbeitnehmerschutz als Angelegenheit der Tarifparteien betrachtet, das Arbeitsrecht Bestandteil sozialstaatlicher Regulierung. Ein weiteres deutsches Charakteristikum stellt die hohe Verrechtlichung der Sozialpolitik dar, die durch die spezifische Sozialgerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsbarkeit zum Ausdruck kommt.

Schließlich besteht das deutsche System der sozialen Sicherung aus vielfältigen und berufsgruppenspezifischen Komponenten, die ursprünglich nach einer Zuordnung als Angestellter oder Arbeiter differenziert waren. Entscheidendes Kriterium war die möglichst durchgehende Teilnahme am Produktionsprozess. Lutz Leisering56 unterscheidet einen Sozialstaat im engeren Sinn – die soziale Sicherung und das Arbeitsrecht – und einen Sozialstaat in einem weiteren Sinn – dazu zählend das Bildungswesen, die Wirtschafts- und Betriebsverfassung, die Arbeitsbeziehungen sowie die wachstums- und beschäftigungsbezogene Wirtschaftspolitik.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich – im Rahmen der klassischen Staatstätigkeitsforschung – auf Sozialpolitik als Staatstätigkeit, wobei für Deutschland, wie oben Kaufmann bereits betonte, die „historischen Wurzeln staatlicher Sozialpolitik [liegen] in der ungelösten Arbeiterfrage“57 liegen. Damit steht im Fokus die staatliche soziale Sicherung gegen die Lebensrisiken basierend auf der Erwerbstätigkeit, also staatliche Programme und Leistungen. Entsprechend mittlerweile zahlreichen ländervergleichenden Forschungen, die dem staatszentrierten Ansatz zu zuordnen sind, wird in der vorliegenden Studie im Hauptteil in Anlehnung an Köppe/Starke/Leibfried58 auf drei zentrale Indikatoren zur Beschreibung und Analyse des deutschen Sozialstaates zurückgriffen: Erstens eine Analyse der Sozialausgaben des Staates, zweitens die Erfassung der anspruchsberechtigten Personen (Versicherte, Leistungsempfänger) und schließlich drittens der Inhalt und die Ausgestaltung der sozialpolitischen Maßnahmen, d.h. der Leistungen.

Die genannten Autoren sprechen von dreifachen Entgrenzungen der Sozialpolitik, nämlich sektoraler, funktionaler und territorialer Art, und verwenden einen erweiterten Begriff von Sozialpolitik, um die Pluralität der Wohlfahrtsproduktion insgesamt zu erfassen. Denn neben dem Staat als den wichtigsten Produzenten agieren auch andere Akteure, Programme oder Angebote. Man spricht im Kontext der erweiterten Sozialpolitik von einem Wohlfahrtsmix, einem Wohlfahrtspluralismus oder einer Wohlfahrtsproduktion. Dabei wird zwischen den Sektoren Staat, Markt, Verbänden und Familien/Haushalten unterschieden, wobei sich die Sektoren verwischen. Unter einem erweiterten Begriff von Sozialpolitik subsumieren andere Forscher staatliche, fiskalische, marktförmige, freiwillige informelle und betriebliche Programme und betonen Privatisierungen und eine Vermarktlichung sozialpolitischer Aktivitäten. Man beschreibt sie als hybride Märkte mit sozialpolitischer Zielsetzung und bezeichnet sie als Wohlfahrtsmärkte (Beispiel: die Riesterrente).

Neben dieser sektoralen Entgrenzung läuft parallel die funktionale Entgrenzung, durch die immer mehr Politikfelder ins Blickfeld der Sozialpolitik geraten, d.h. Mittelstandspolitik, Wettbewerbspolitik, Verbraucherschutzpolitik oder Umweltpolitik. Zwar sei die „Vermeidung sozialer Risiken und Kompensation von Marktungleichheiten [ist] weiterhin funktionaler Kern der Sozialpolitik, wird aber mittlerweile häufig weiter gefasst“. Zusammenfassend umgreift der Aufgabenbereich der Sozialpolitik verschiedene Politikbereiche und weist keinen funktionalen Kern mehr auf.

Schließlich fungiert als dritte Entgrenzung die territoriale Ebene, wobei zunächst nur die nationale Ebene maßgeblich war. Nunmehr aber habe sich die territoriale Ebene zweifach entgrenzt, d.h. einerseits in Richtung einer Regionalisierung und andererseits in Richtung einer Internationalisierung, wenngleich weiterhin gilt, „der nationale Wohlfahrtsstaat bleibt aber der zentrale Bezugspunkt der Sozialpolitik“, da sich eine dem Nationalstaat vergleichbare europäische Sozialpolitik bisher nicht ausbilden konnte. Resümierend gesehen hat sich ausgehend vom eher engen Konzept des nationalen Wohlfahrtsstaates die Sozialpolitik auf sektoraler, funktionaler und territorialer Ebene dreifach entgrenzt. Aus heutiger Perspektive zählen zur Sozialpolitik alle Ebenen und Funktionen, wobei der Staat die sozialpolitische Koordinierung beibehält. Der Nationalstaat bleibt aber dessen ungeachtet die „mit Abstand wichtigste Quelle von Sozialpolitik“ und die nationale Gesetzgebung legt weiterhin die Grundregeln fest.

Betrachtet man die Aufgaben des Sozialstaates, so zählt nicht nur die Sozialversicherung mit ihrer Schutzfunktion bei Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit als wichtigster sozialpolitischer Gegenstand dazu, sondern auch Familienhilfe, Gesundheitsfürsorge und sozialer Wohnungsbau. Ein Kennzeichen des Sozialstaates sind „Versuche zum Ausgleich unterschiedlicher Startchancen des einzelnen durch ein staatliches Erziehungs- und Bildungswesen und die partielle Umverteilung von Einkommen durch das Steuersystem, ferner die Regulierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen durch Maßnahmen des Schutzes für Arbeitnehmer“59. Die Arbeitsbeziehungen und die sie tragenden Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Sozial- bzw. Tarifpartner fungieren als unverzichtbare Bestandteile des Sozialstaates, der „Institutionen zur Konfliktlösung entwickelt [hat], die schon über Jahrzehnte erfolgreich den Interessenausgleich ermöglichen“60.

Fassen wir den Begriff und Inhalt des Sozialstaates zusammen, so ist er „eine Antwort auf den steigenden Bedarf nach Regulierung der im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung immer komplizierter gewordenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, auf die geringere Bedeutung der traditionellen Formen der Daseinsvorsorge vor allem in der Familie und auf die Zuspitzung von Klassengegensätzen“61. Der Sozialstaat versucht die „von dem umfassenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft betroffenen Menschen in ihrer sozialen Existenz zu sichern und an den Früchten der wachsenden Produktivität durch Hebung des allgemeinen Wohlstandes partizipieren zu lassen“62. Dies impliziert nicht die Aufhebung sozialer Ungleichheit, sondern nur deren Abmilderung.

Verfassungsrechtlich verankert und damit deutlich aufgewertet ist der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland in den Artikeln 20, Abs. 1 und Artikel 28, Abs. 1 des Grundgesetzes. Gemäß Artikel 20, Abs. 1 ist die „Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Artikel 28, Abs. 1 spricht von den Grundsätzen eines „sozialen Rechtsstaates“. Allerdings geht das Grundgesetz inhaltlich nicht näher auf diese Staatszielbestimmung ein.63 Hans F. Zacher betont deshalb folgerichtig: „Der Sozialstaat ist etwas Offenes“64, seine tatsächliche Ausgestaltung sei nur vage im Grundgesetz verankert und letztendlich entscheidet die Politik über die konkrete Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Im Unterschied zur Verfassung der Weimarer Republik finden sich im Grundgesetz nur wenige soziale Grundrechte: Das Recht der Koalitionsfreiheit in Art. 9, Abs. 3, das die Bildung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sichert, die freie Arbeitsplatzwahl und Berufswahlfreiheit in Art. 12, Abs. 1, die Gewährleistung und Sozialbindung des Privateigentums in Art. 14.

Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende

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