Читать книгу Blutschwertzeit - Manfred Lafrentz - Страница 7
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ОглавлениеEinige Tage später tauchte der Vogt wieder im Dorf auf. Die Leute wunderten sich, denn es gab keine Männer mehr, die er mitnehmen konnte. Sie fragten sich, was er ihnen nehmen wollte. Die Abgaben für den Krieg waren hoch gewesen. Wenn er noch mehr nahm, würden die Leute verhungern.
Die Frauen, Greise und Kinder versammelten sich unter der Eiche, Folke mitten unter ihnen. In den letzten Tagen war er für sich geblieben, hatte mit niemandem geredet und sich vor der Arbeit gedrückt. Egli war wütend gewesen und hatte ihm Vorwürfe gemacht, aber er hatte sich nicht rechtfertigen wollen, war einfach weggelaufen.
Der Schmiede war er fern geblieben. Er wollte Brokk nicht sehen, und der Schmied hatte auch nicht nach ihm gesucht.
Eine unbestimmte Scham bedrückte ihn, und er wusste nicht genau, weshalb. Es kam ihm vor, als hätte er etwas Unrechtes getan, etwas Verwerfliches, und die ganze Zeit fürchtete er, jemand könnte davon erfahren.
Die Wunden an seinem Arm heilten nur langsam und schmerzten immer noch. Er hatte ein Tuch um sie gewickelt und passte auf, dass niemand sie sah. Sogar seiner Mutter ging er aus dem Weg. Sie war eine große starke Frau, eine Frau, die zu einem Felsen passte, aber sie war nicht so hart wie Farli. In ihren grauen Augen hatte Folke immer lesen können. Wenn sie böse auf ihn war, konnte er sehen, dass sie sich verstellen musste, dass dahinter schon wieder die Verzeihung wartete und darum bettelte, hervorkommen zu dürfen. Diese Augen waren für Folke mehr als alles andere sein Zuhause. Was auch geschah, er war immer sicher gewesen, dorthin zurückkehren zu können. Doch nun wich er ihren Augen aus und wusste nicht, warum. Unruhe. Fragen. Verwunderung. Er konnte es in ihnen lesen, aber er konnte nichts sagen. Es war das erste Mal, dass er die Augen seiner Mutter floh, und es machte ihm mehr Angst als alles andere. Etwas war verloren gegangen.
Wenn er schweigend am Tisch saß und sein Brot aß, sah sie ihn besorgt an, den breiten Mund, der immer fast wie ein Lächeln wirkte, zusammengekniffen. Vielleicht spürte sie es auch.
Jetzt, mitten unter den Dorfleuten, fühlte er, dass etwas bevorstand. Etwas Unerhörtes. Er erinnerte sich vage an den Traum in der Schmiede. In diesem Traum hatte sich sein Leben verändert, und er hatte darüber gelacht vor Freude. Aber jetzt fürchtete er sich davor. Zwei schmerzende Stellen schnitten durch diesen Traum wie Schlangenzähne, und ihr Gift brodelte in seinem Blut.
Trotz allem brachte er seine dunklen Vorahnungen nicht mit dem Vogt in Verbindung, der auf dem Stein neben der Eiche stand und auf die Leute herabblickte. Die Augen hatte er wie immer halb geschlossen, als wollte er ihnen den Anblick des gemeinen Volks nicht zumuten. Er stand fast an derselben Stelle, an der Folke im Mondlicht gestanden und sich an Zauberei erinnert hatte.
„Das Heer des Fürsten braucht jeden Mann”, sagte der Vogt bedeutungsvoll. „Der Kampf gegen die Aelfen ist nicht irgendein Krieg. Wir oder sie. Wenn wir leben wollen, müssen wir gewinnen.”
Die Mütter stellten sich schützend vor ihre Söhne.
„Ihr habt uns alle Männer genommen!”, rief Lif, Eglis Mutter. „Wollt ihr jetzt noch die Kinder in den Krieg schicken?”
Die Frauen schüttelten die Fäuste und riefen Drohungen. Ihre Gesichter waren hart, ihre Augen rebellisch. Einen Augenblick lang war Folke sicher, dass niemand ihnen etwas wegnehmen konnte.
„Wir brauchen keine Kinder”, sagte der Vogt verächtlich, als wieder Ruhe eingetreten war. „Hier im Dorf gibt es einen Blutschwertmann. Er soll vortreten!”
Die Dorfleute sahen sich verwirrt an.
„Ihr müsst Euch irren”, sagte Lif. „Ihr meint sicher ein anderes Dorf.”
Brokk trat neben den Vogt, streckte den Arm aus und zeigte auf Folke. Alle sahen ihn an. Er las Unglauben in ihren Augen und Entsetzen in denen seiner Mutter. Verstört schüttelte sie den Kopf.
„Tritt vor, Blutschwertmann!”, rief der Vogt.
Folke zögerte. Seine Beine fühlten sich so schwer an wie das Eisen der Sümpfe. Mühsam tat er einen Schritt nach vorn, während er an nichts anderes denken konnte als an dieses Wort.
Blutschwertmann.
Es klang hart. Nach Krieg und Tod. Er konnte nicht gemeint sein. Es war ein Irrtum. Er hatte nur fünfzehn Sommer gesehen. Einen zu wenig.
Aber in seinen Gedanken war ein Zaubergesang und ein gewaltiges Zischen. Eine Schlange aus Dampf und Stahl.
Und an seinem Arm waren zwei Wunden.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn zurück.
„Was tust du?”, schrie seine Mutter ihn an. Dann wandte sie sich an den Vogt. „Er ist zu jung. Ihr könnt ihn nicht mitnehmen! Er ist kein Blutschwertmann! Wer hat Euch diesen Unsinn erzählt?”
Die Leute murmelten beifällig. Folke fing einen Blick vom alten Atli auf, einen Blick voller Grauen, der bedeutsamer war als der Zorn seiner Mutter. Sie verstand nicht, aber Atli verstand es. Folke konnte es in seinem Blick lesen. Es gab kein Zurück. Er war ein Mann geworden in der Schmiede. Ein Blutschwertmann. Er wusste nicht, was es bedeutete, aber es schien etwas Schlechtes zu sein.
Unheil. Sie pflanzen das Unheil in dich.
Er wandte sich ab und trat noch einen Schritt nach vorn, obwohl die Hand seiner Mutter sich in seinen Hemdrücken krallte und wütend daran zog.
Der Vogt tuschelte mit Brokk, dann winkte er Folke zu sich, der vortrat und seine Mutter dabei hinter sich her zerrte.
„Dieser hier ist ein Blutschwertmann”, sagte der Vogt. „Wir werden es beweisen.”
Brokk überreichte ihm ein Schwert, das er hinter seinem breiten Rücken hervorholte. Es sah neu und glänzend aus. Sonnenlicht tanzte über die Schneide, und Folkes Herz klopfte schneller bei diesem Anblick. Das war sein Schwert. Das war, was er gewollt hatte. Der Vogt übergab es ihm, und sobald er es berührte, leuchtete die Klinge in einem rötlichen Schimmer kurz auf, um dann wieder zu verblassen. Alle hatten es gesehen.
„Blutschwertmann!”, rief der Vogt.
Brokk grinste triumphierend.
Folke starrte auf das Schwert in seiner Hand, spürte, dass es sein Blut war, das dort in der Klinge geleuchtet hatte. Das Schwert schien ihn zu erkennen und seine Nähe zu suchen. Der Griff, ein mit rätselhaften Zeichen verziertes Stück Stahl unter einer leicht geschwungenen Parierstange, schmiegte sich in seine Hand wie der Kopf eines Kätzchens, das gestreichelt werden wollte. Folke schauderte. Gleichzeitig aber fühlte es sich gut und richtig an.
Blutschwertmann.
Das Wort dröhnte immer noch durch seinen Kopf wie eine schwere Glocke, die, einmal in Gang gesetzt, lange nicht mehr aufhören würde zu schlagen. Mühsam wandte er den Blick von dem Schwert ab und schaute in die Augen der Leute rundum. Egli und die anderen Jungen wirkten schockiert. Die Augen seiner Mutter waren so fremd, dass er es nicht ertragen konnte.
„Verfluchte Zauberer!”, rief der alte Atli und spuckte aus.
Folke warf das Schwert von sich, obwohl ihm das seltsam schwer fiel, und rannte los, stieß Leute zur Seite, den Blick zu Boden gesenkt, und lief zwischen den Häusern aus dem Dorf heraus. Er wollte nicht noch mehr von diesen Blicken sehen, keine Augen, die wie Mauern waren, die ihn ausschlossen. Über Wiesen lief er und zwischen weidenden Rindern hindurch, die mit unwilligen Gebrüll schwerfällig auseinanderstoben, bis er einen Bach erreichte, an dessen Ufer er sich niederwarf, um sein Gesicht zu kühlen und mit dem Wasser des Bachs das Wasser der Augen abzuwaschen, das heiß auf seiner Haut brannte. Dann legte er sich auf den Rücken und starrte zum unbewölkten Himmel hinauf. Er fühlte sich wie eins der Grasbüschel, die von dem schweren Wagen der Schmiede überrollt und zerdrückt worden waren.
Was hatte er getan? Etwas Entsetzliches. Etwas Verbotenes. Er hatte es in den Augen seiner Mutter gesehen, die ihn angestarrt hatte wie einen Fremden, vor dem sie sich fürchtete. Und dahinter war nichts gewesen. Kein Verzeihen, kein Lächeln, kein Verständnis. Alle waren vor ihm zurückgewichen. Bei allen hatte er diese Angst gespürt, die er sich nicht erklären konnte. Er verstand es nicht. Verstand das Wort nicht.
Blutschwertmann.
Darin steckte etwas Schreckliches, das ihn zu einem Ausgestoßenen, Mutterlosen, Dorflosen machte. Er spürte den Verlust wie körperlichen Schmerz. Das war es nicht, was er gewollt, was er in der Schmiede gesucht hatte. Ein Krieger hatte er werden wollen, zu dem alle aufschauten, den alle bewunderten. Jetzt war er zu etwas geworden, das alle fürchteten und verabscheuten.
Die Einsamkeit, die ihn umfing, war greifbar, wie ein Mantel, den er selbst um sich geschlungen hatte. Selbst hier am Bach war alles totenstill, als ob alle, sogar die kleinsten Tiere ihn flohen. Er fror in diesem Mantel, fror bis auf die Knochen, und konnte ihn doch nicht abwerfen.
Lange Zeit blieb er liegen und wartete darauf, dass die Glocke in seinem Kopf aufhören würde zu schlagen.
Blutschwertmann. Blutschwertmann.
Der Tag ging vorbei, lautlos, schleichend, wie eine Seele auf dem Weg ins Totenreich.
Als er ins Dorf zurückkam, wandten sich alle ab, denen er begegnete. Sie verschwanden schnell in ihren Häusern und schlugen die Türen zu.
Er war ein Fremder geworden. Vor dem Haus seines Vaters fragte er sich einen Moment, ob er es noch betreten durfte.
Dann öffnete er die Tür.
Auf dem Boden der Stube, gleich neben dem Tisch, an dem sie immer aßen, lag seine Mutter, wand sich stöhnend unter Brokk, dem Schmied, dessen fahl weißes, pumpendes Hinterteil nicht zu seiner sonstigen Schwärze passen wollte. Folke konnte den Gestank des Mannes riechen und hatte augenblicklich das Bedürfnis, sich zu übergeben.
Seine Mutter bemerkte ihn. Ihre Augen zogen sich wie in Schmerzen zusammen, als ob sie nicht wollte, dass er in ihnen las.
„Geh raus!”, schrie sie. „Sofort!”
Brokk wandte ihm grinsend das Gesicht zu, ohne mit dem aufzuhören, was er tat. Seine bleichen Hinterbacken zitterten wie vor unterdrücktem Gelächter.
„Geh raus!”, schrie Folkes Mutter noch einmal. Es klang, als wäre sie dem Irrsinn nahe.
Folke warf noch einen Blick auf sie in dem schwarzen Gefängnis, in dem sie steckte, dann drehte er sich um und lief hinaus. Es war, als müsste er nur noch laufen. Schon wieder. Als trieb das Dorf selbst ihn immer wieder hinaus.
Im Wald traf er auf Egli, fand ihn beim Fällen der Bäume, die in den Öfen der Schmiede verschwinden sollten. Seine Gedanken waren festgefroren wie das Wasser des Ententeichs im kältesten Mittwinter. Auch wenn er noch so fest trat und hüpfte, das Eis wollte nicht zerbrechen. Daher wollte er sich zurückziehen, wusste nicht, ob er sprechen konnte, fürchtete sich vor dem Zersplittern des Eises. Aber dann blieb er doch. Egli war sein Freund. Wenn das Eis zerbrach, war er der einzige, der es hören durfte.
Egli hörte nicht mit der Arbeit auf, als er ihn kommen sah. Seine stämmige Gestalt schien in den immer gleichen Bewegungen gefangen. Selbst als Folke direkt neben ihm stand, holte er ungerührt weit mit seiner Axt aus und schlug sie hart in einen Baumstamm hinein.
Folke sah ihm eine Weile zu.
„Ich hab das nicht gewollt”, sagte er dann. Es klang wie eine Entschuldigung, aber es war kein Splittern zu hören.
Egli sagte nichts. Vergrub nur immer wieder die Axt im Baumstamm. Späne flogen, klebten an Folkes Hose fest. Das scharfe Hackgeräusch hallte weithin durch den Wald.
„Es war Brokk, der Schmied. Er hat mich reingelegt. Hat Zauberei angewandt.”
Ein weiterer Schlag mit der Axt.
„Er ist ein Zauberer!”, rief Folke beschwörend.
Die Wunde des Baumes wuchs und wuchs.
„Hörst du? Ein Zauberer!”, schrie Folke. „Du hast es selbst gesagt! Die Schmiede sind Zauberer! Ich kann nichts dafür!”
Egli zog die Axt aus dem Stamm, stellte sie auf den Boden und stützte sich darauf. Er sah Folke nicht an, sondern schaute auf die Erde, die mit weißen feuchten Holzsplittern übersät war, als wären Folkes Eisgedanken dort zerbröckelt.
„Du warst ständig in der Schmiede”, sagte Egli. „Hast dir angesehen, was sie dort machen. Warum warst du ständig in der Schmiede?”
Seine Stimme klang merkwürdig. Folke hörte bittere Vorwürfe darin. Und Wut. Aber sie klang leise, unsicher.
„Ich weiß nicht. Ich wollte sehen, ob sie zaubern. Sehen, wie sie die Waffen herstellen.” Und dann, als ob das alles erklärte, fügte er hinzu: „Brokk hat mir ein Schwert versprochen.”
Egli lachte verächtlich. „Nun, jetzt hast du eins.” Er nahm die Axt wieder in die Hand und führte den nächsten Schlag mit solcher Wucht, dass der Stamm erzitterte und einige schon gelbe Blätter auf die Jungen herabrieselten.
Folke wusste nicht, was er sagen sollte.
Egli warf plötzlich die Axt beiseite.
„Du musst ihm dein Blut gegeben haben!”, schrie er. „Wir haben dich gewarnt, und du bist trotzdem hingegangen. Du musst es gewollt haben! Warum hast du ihm dein Blut gegeben?”
Folke schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich nicht. Ich hatte einen Traum. Brokk hat viel geredet. Als ich zu mir kam, hatte ich diese Wunden.” Er zeigte seinen Arm vor, zog den Verband beiseite.
Egli wich zurück. „Es ist Zauberei!”, rief er. „Es ist verfluchte Zauberei! Du weißt, was das bedeutet, verdammt! Komm mir nicht zu nahe!” Er hob schnell die Axt wieder auf und hielt sie, als ob er sich gegen Folke verteidigen wollte.
Die Geste verwirrte Folke. „Was hast du? Glaubst du, ich würde dich angreifen?”
„Du bist ein Blutschwertmann.”
„Aber was bedeutet das?”, schrie Folke verzweifelt. „Ich bin derselbe wie vorher!”
Egli schüttelte den Kopf und ließ die Axt sinken. „Du weißt nicht, was es bedeutet, ein Blutschwertmann zu sein? Hat Brokk es dir nicht erklärt?”
„Nein. Erzähl es mir!”
„Frag Atli. Er hat es uns vorhin erklärt.”
„Sag es mir! Du bist mein Freund.”
„Frag Atli.” Egli schlug die Axt wieder in den Stamm. Neue Splitter flogen aus der Wunde.
Folke sah ihm einige Augenblicke lang zu. Dann drehte er sich um und ging zurück ins Dorf.
Atli saß auf einem Hocker vor seiner Hütte. Er hielt das Gesicht in die untergehende Sonne; die Augen waren geschlossen. Folke glaubte, dass er schlief, und überlegte, ob er ihn wecken sollte. Wollte er wirklich hören, was der alte Mann zu sagen hatte? Zögernd wandte er sich ab.
„Bleib hier, Blutschwertmann!”, sagte Atli.
Folke fuhr zusammen. Es war ihm, als hätte er seinen Namen verloren. Er war nicht mehr Folke Farlissohn. Er war der Blutschwertmann. Ein völlig anderer.
Missmutig setzte er sich neben Atli ins Gras und wartete ab, was der Alte sagen würde. Es gab nur eine Frage, die er stellen konnte, aber er hatte noch nicht genug Mut dafür.
„Sie haben dich reingelegt”, sagte Atli sachlich.
Folke schaute auf.
„Diese verdammten Schmiede!”, rief der Alte ungeduldig. „Es ist immer einer dabei, der Zauberei betreibt.”
„Warum tut niemand etwas gegen solche Zauberer?”
Atli lachte grimmig. „Weil er das Spiel der Fürsten spielt. Er bekommt eine hohe Bezahlung für jeden Blutschwertmann, den er dem Fürsten verschafft.” Er sah auf Folke herab, versetzte ihm eine Kopfnuss, aber keine wirklich schmerzhafte. „Du hättest besser aufpassen müssen! Was hattest du in der Schmiede verloren? Sie warten nur auf solche wie dich. Solche, die gierig dastehen, die Augen weit offen für das Blinken des Stahls. Er hat dir ein Schwert versprochen, nicht wahr?”
Folke nickte.
„Dummkopf!” Es klang nicht böse, eher mitleidig. „Vielleicht ist es meine Schuld”, murmelte er. „Ich hätte euch davor warnen sollen.” Er schien in Gedanken zu versinken.
„Was ist ein Blutschwertmann?”, fragte Folke. Es klang wie die Frage eines Kindes, und er schämte sich dafür.
„Zauberei”, sagte Atli. „Sie haben sie irgendwann von den Aelfen gelernt. Es gibt immer Leute, die nach ihnen suchen, mit ihnen verhandeln, ihr dunkles Wissen erwerben. Hexen. Und unter den Schmieden gab es immer Zauberer. Vielleicht sind sogar alle welche. Man sagt, die Schmiede haben Schwarzaelfenblut in ihren Adern. Auf jeden Fall ist das Schmieden eine schwarze Kunst. Eine Kunst, die zwischen den Elementen vermittelt. Sie verwandelt Erde durch Feuer, Luft und Wasser in etwas anderes. In Stahl, der töten kann.” Er brummte unwillig. „Ich hab es euch gesagt, aber ihr habt nicht auf mich gehört. Jedenfalls du nicht. Man muss sich vor der Zauberei hüten. Ja”, sagte er fest, als wollte er sich selbst davon überzeugen, seine Pflicht getan zu haben, „ich habe es euch gesagt.”
„Üben die Aelfen die Schmiedekunst denn auch aus?”, fragte Folke verwirrt.
„Sicher”, sagte Atli. „Auch sie haben Waffen. Schwerter, Schilde, Helme. Oh ja, es gibt Schmiede unter ihnen, seit alter Zeit. Aber sie meiden das Eisen. Sie arbeiten mit Silber. Es taugt nicht so viel wie Stahl, aber sie haben auch Waffen aus Stein. Sie lieben die Steine, machen Pfeilspitzen und Lanzen aus ihnen. Mit dem Silber schmücken sie sich lieber. Dafür haben sie ihre Schmiede. Und auch ein Schwert aus Silber kann tödlich sein, vor allem wenn es verzaubert ist.”
„Das Schwert, das Brokk für mich geschmiedet hat”, fragte Folke vorsichtig, „ist es auch verzaubert?”
Atli nickte. „Der Schmied hat dein Blut in den Stahl geschmiedet. Nun bist du mit dem Schwert verbunden, so lange du lebst. Es ist ein Teil von dir. Blut in Waffen zu verschmieden ist alte Zauberei. Es ist ein Fluch. Die Blutzauber bringen Unheil.”
„Haben die Aelfen ihr Wissen deshalb an die Menschen weitergegeben? Um Unheil zu stiften?”
Atli lachte humorlos. „Gut möglich. Wer weiß schon, was Aelfen denken? Wenn ja, werden sie es inzwischen bereut haben, denn es schlägt auf sie zurück. Die Schwerter tragen das Unheil zu ihnen zurück.“ Er zuckte mit den Achseln. „Vielleicht haben die Schmiede ihnen das Zauberwissen auch gestohlen. Aelfenzauber gehört nicht in Menschenhand.”
„Aber was ist so schlimm an den Schwertern?”, fragte Folke störrisch. „Viele Männer haben ein Schwert. Ich könnte für den Fürsten kämpfen. Oder das Dorf verteidigen, wenn es angegriffen wird. Was macht es, wenn ich dieses Schwert mein ganzes Leben lang führe?”
„Es ist nicht einfach ein Schwert”, sagte Atli streng. „Das Blut macht es wild und unberechenbar. Wenn du es ziehst, wird es keine Ruhe geben, bis es getötet hat. Dein Blut in ihm ist deine dunkle Seite, ohne Mitleid, ohne Gewissen, voller Freude über das Töten. Es ist das Tier, das in dir steckt, das Tier, das töten will. Dieses Tier ist ein Schwert geworden. Und je länger du es hast, desto mehr wirst du selbst zu diesem Tier. Irgendwann wird jeder Blutschwertmann wahnsinnig.”
Es war eine kalte Prophezeiung. Folke spürte, wie sie heimtückisch durch seine Gedanken schlich und Raureif über alles legte. Er schauderte.
„Warum gibt es so etwas?”
Atli schnaubte. „Blutschwertmänner können sehr nützlich sein, auch wenn sie schwierig zu kontrollieren sind. Sie können einen Krieg entscheiden, aber man weiß nie im Voraus, für wen.”
„Dann ist es doch sinnlos, sie einzusetzen.”
„Krieg ist immer sinnlos, Junge, jedenfalls für die, die ihn austragen müssen. Er fängt an, und alle warten auf ein Ergebnis. Wenn die Schlacht geschlagen ist, heißt es handeln, den Vorteil erkennen. Selbst wenn nur wenige Leute übrig bleiben, sie genügen, um den Sieg für sich zu beanspruchen. Je weniger, desto übersichtlicher, verstehst du? Es kommt für die Fürsten nicht darauf an, wie viele Männer sie verlieren, wenn nur ein paar mehr übrig bleiben als beim Gegner.” Er kicherte sarkastisch. „Natürlich ist es gefährlich, Blutschwertmänner einzusetzen. Es ist ein Spiel. Du kannst verlieren und gewinnen. Solche wie wir verlieren ihr Leben. Die Fürsten vielleicht ein wenig Macht, ein wenig Land. Sie sind bereit, das einzusetzen, für die Möglichkeit, zu gewinnen.” Er wurde nachdenklich. „Sie werden die Blutschwertmänner im Krieg gegen die Aelfen einsetzen. Nicht in der Schlacht, sondern weit weg vom Heer. Dort, wo sie töten können, ohne den Menschen zu schaden. Wahrscheinlich brauchen sie dringend neue Blutschwertmänner dafür, deshalb hat der Schmied dir das angetan. Er wird eine schöne Belohnung dafür bekommen.” Er spuckte angewidert aus.
„Ich habe es nicht gewollt”, sagte Folke kläglich. „Er wollte mein Blut. Ich wollte es ihm nicht geben, aber ich war verwirrt. Ich wollte ein Schwert. Ist es so schlimm, ein Schwert zu wollen?”
Atli nickte. „Sie haben ihre Tricks. Zaubertricks. Sie reden und zaubern.”
Folke sah ihn neugierig an. „Hast du Blutschwertmänner gekannt?”
„In allen Schlachten gab es welche. Ich habe sie gesehen. Auch dein Vater hat sie gesehen. Sie sind grausam. Niemand kann ihnen trauen, nicht, wenn sie ihre Schwerter ziehen. Die Schwerter wollen Blut trinken, nachdem sie einmal auf den Geschmack gekommen sind, es spielt keine Rolle, von wem.
Blutschwertmänner haben keine Familie mehr.” Er sah Folke traurig an. „Alle haben Angst vor dir und zwar mit Recht. Nicht einmal deine eigene Mutter ist vor dir sicher.”
„Das ist nicht wahr!”, schrie Folke aufgebracht. „Ich würde ihr niemals etwas antun!” Er dachte daran, wie sie unter Brokk gelegen hatte. Sie hatte es für ihn getan. Vielleicht hatte der Schmied ihr versprochen, das Schwert zu zerstören. Folke verspürte unbändigen Hass auf ihn. Brokk würde er töten können.
„Ich glaube dir, dass du es nicht willst”, sagte Atli beschwichtigend. „Aber du kannst nicht wissen, was das Schwert aus dir macht.”
Folke zog die Beine an und senkte den Kopf auf die Knie. „Gibt es keinen Weg, es rückgängig zu machen?”, fragte er dumpf.
Atli schüttelte bekümmert den Kopf. „Ich weiß von keinem. Ich habe auch noch nie gehört, dass Blutschwertmänner den Fluch rückgängig machen wollten. Wenn du erstmal mit dem Schwert getötet hast ...”
„Aber ich will das nicht!”, rief Folke verzweifelt. „Was soll aus mir werden? Ich kann doch nicht bis an mein Lebensende nur kämpfen und töten. Ich will nicht, dass alle Angst vor mir haben. Und ich will nicht wahnsinnig werden.”
„Ich wünschte, ich könnte dir helfen”, sagte Atli betrübt. „Ein Augenblick, Junge, nur ein winziger Augenblick, in dem du unachtsam warst, trunken von den Verheißungen eines gewissenlosen Zauberers, und schon hat sich alles für dich verändert.” Er seufzte. „Wir hätten alle besser aufpassen sollen.”
Folke schaute in die Dämmerung. Alles schien sich zu verdunkeln, auch in ihm selbst. „Es ist meine Schuld, nicht wahr? Ich habe etwas gewollt, das mir nicht zustand. Die anderen haben mich gewarnt, aber ich wollte ein Krieger sein.”
Atli schwieg.
„Ich wollte kein Blutschwertmann werden. Ich wusste gar nichts darüber. Aber vielleicht ...” Folke sah Atli unsicher an. „Ich habe manchmal über das Töten nachgedacht. Glaubst du, dass ich ein Blutschwertmann geworden bin, weil in mir etwas ist, das es wollte?” Seine Stimme wurde heiser. Er dachte an die seltsamen Gefühle, die er manchmal hatte. Unsichtbar sein. Der schwarze Sack, der sich um ihn zusammenzog und ihn ersticken wollte. „Vielleicht bin ich schon verrückt und bin deshalb diesen Weg gegangen ...”
„Das kann ich nicht sagen.” Atlis Stimme war voller Unbehagen. „Du bist noch ein Junge. Ich glaube, du hast es nicht besser gewusst.”
„Was soll ich tun?”
„Du wirst mit dem Vogt gehen müssen”, sagte Atli bedauernd, aber bestimmt. „Du kannst nicht hierbleiben. Was geschehen ist, ist geschehen. Niemand wäre mehr sicher, wenn du im Dorf bliebest. Du wirst tun müssen, was sie dir sagen. In den Krieg ziehen und gegen die Aelfen kämpfen.”
„Und dann? Wenn der Krieg zu Ende ist? Kann ich dann zurückkommen? Oder muss ich auf einen neuen Krieg warten. Und dann wieder auf den nächsten?”
Atli schwieg.
Folke verstand. Er legte den Kopf wieder auf die Knie.
„Ich könnte fortlaufen”, sagte er. „Weit weg. Dahin, wo sie mich nicht finden mit ihrem verdammten Schwert.”
„Das Schwert findet dich, Junge”, sagte Atli nachdrücklich. „Es gehört zu dir wie dein Arm oder dein Schwanz. Vielleicht wird es dir genauso viel Freude machen wie dein Schwanz. Es heißt, Blutschwertmännern seien die Frauen gleichgültig, weil nichts der Freude am Töten gleichkäme.” Seine Stimme wurde ein wenig kühl. „Blutschwertmänner haben kein schlechtes Leben. Sie werden gehasst und gefürchtet, aber sie werden reich entlohnt.” Er legte Folke eine Hand auf die Schulter. „Du darfst es den Leuten nicht übelnehmen, wenn sie dich meiden. Niemandem, verstehst du? Sie können nicht anders.”
Folke schaute auf die Häuser des Dorfes, auf denen noch ein Rest Abendsonne glühte. Sie sahen wunderschön aus. Es war sein Zuhause seit fünfzehn Sommern.
„Ich habe doch nur einen Traum gehabt”, sagte er. Einen Augenblick lang war er kurz davor zu weinen.
„Ich weiß”, sagte Atli. „Wir haben alle einen Traum.”
Folke schwieg eine Weile.
„Krieg”, dachte er. „Ich werde in den Krieg ziehen.” Der Krieg war nun sein Zuhause. Es war ein seltsamer Gedanke. Ein verrückter Gedanke.
„Wie sind sie wirklich, die Aelfen?”, fragte er.
Atli lächelte schief. „Was ich euch erzähle, sind nur Geschichten”, sagte er. „Im Grunde weiß ich nichts über sie. Es ist nicht gut, zu viel zu wissen. “
„Aber sie sind nicht nur Tänzer im Mondlicht”, sagte Folke. Es war keine Frage.
Atli zögerte. „Manche sagen, sie seien Schatten. Schatten, die aus der Dunkelheit heraustropfen.”
Folke nickte. Er würde es erfahren. Der Krieg war nun sein Zuhause.
Im Haus seines Vaters warteten der Vogt und Brokk, der Schmied, auf ihn. Sie saßen nebeneinander auf der Bank neben dem Fenster. Das Licht der Feuerstelle ließ die Gesichter der beiden Männer, auf denen sich ständig Schatten ausdehnten und wieder zusammenzogen, unruhig wirken. Folkes Mutter saß ihnen gegenüber und schaute kurz auf, als er eintrat, dann gleich wieder weg, aber er hatte das unstete Flackern in ihren Augen gesehen. Es war wirr, unlesbar, ein grauer Schmerz. Er erschrak darüber, wie alt sie aussah. Sie war noch jung an Jahren, eine schöne, gerade Frau, wie sein Vater immer sagte, aber nun schien sie in sich zusammengesunken. Der Kopf hatte tief zwischen den Schultern ein Loch gefunden, in dem er feststeckte. Es sah schmerzhaft aus, und die erstarrten Züge ihres Gesichts schienen es zu bestätigen. Immer noch hatte er den Moment vor Augen, in dem sie ihn angeschrien hatte. Als sie unter Brokk gelegen hatte.
„Da bist du ja”, sagte der Vogt mit einer Stimme, die zu laut und herrisch war für die Stube eines Bauernhauses. „Was hast du dir dabei gedacht, einfach wegzulaufen? Es herrscht Krieg, Junge! Du kannst nicht machen, was du willst. Du stehst unter dem Befehl des Fürsten, hast du das verstanden?” In seinem sichelförmigen Gesicht sammelten sich Schatten wie Wasser in einer Schale, schwappten umher und umspülten die halbgeschlossenen Augen.
Wut und Hass glühten in Folke auf, irgendwo am Rande seiner Gedanken. Vielleicht dort, wo das Tier saß, von dem Atli geredet hatte.
„Nennt mich nicht Junge”, sagte er leise. „Ich bin ein Blutschwertmann.” Er hatte die Worte gesprochen, ohne nachzudenken.
Der Vogt hatte diese Antwort offenbar nicht erwartet. Er zupfte an der Verschlusskette seines Mantels, die leise klingelte, und schaute unsicher den Schmied an. Brokk sagte nichts und seine Augen waren schwarze Löcher und unverwandt auf Folke gerichtet. Er hatte das Schwert in der Hand, in einer neuen glänzenden Scheide verborgen, die Spitze auf den Boden gestellt. Er hielt es wie den Stab eines Zauberers.
„Ihr müsst ihn freigeben”, sagte Folkes Mutter. „Er ist zu jung.”
Sie sagte es mit monotoner, müder Stimme. Es klang, als hätte sie es schon tausend Mal gesagt und wiederholte es nun pflichtschuldig, weil es das war, was gesagt werden musste.
„Sei nicht töricht, Weib”, sagte der Vogt ungeduldig. „Man kann einen Blutschwertmann nicht freigeben, egal, was man dir erzählt hat.” Er warf einen unwilligen Blick auf den Schmied, der schmierig grinste. „Sein Schicksal ist entschieden; er hat selbst diesen Weg gewählt.”
„Er ist zu jung”, sagte sie noch einmal. Die Worte klangen alt und verbraucht in Folkes Ohren. Sie klangen so wie seine Mutter aussah.
Der Vogt beachtete sie nicht mehr. „Du musst mitkommen”, sagte er. „Morgen. Der Fürst hat alle Blutschwertmänner in den Krieg gerufen.” Er wandte sich an den Schmied. „Gebt ihm das Schwert!”
Brokk beugte sich vor, hielt Folke das Schwert entgegen und deutete spöttisch einen Kniefall an, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen.
„Ich hoffe, ich habe Euren Auftrag zu Eurer Zufriedenheit ausgeführt, Blutschwertmann”, sagte er. Folke hörte, wie seine Mutter ein Schluchzen unterdrückte. „Ich hoffe, Eure Träume werden wahr.”
Folke betrachtete den Schmied, der aussah wie ein aus der Nacht herausgebrochenes Stück. Schwarze Haare, schwarzer Bart, schwarze Augenhöhlen. Nur die wenigen Stellen in seinem Gesicht, die das Licht reflektierten, erinnerten daran, dass es sich um einen Menschen handelte.
„Ihr habt mich betrogen”, sagte Folke. „Ihr seid ein Zauberer. Ihr habt dunkles Wissen gegen mich angewandt, das Ihr von den Aelfen gestohlen habt.” Die Worte waren für seine Mutter bestimmt. Er hoffte, sie würde verstehen.
„Du hast mir dein Blut gegeben”, sagte Brokk.
„Ihr wurdet dafür bezahlt, es Euch zu nehmen!”, rief Folke und spuckte ihm vor die Füße. „Es war nicht meine Entscheidung!”
Der Vogt sprang auf. „Genug!”, rief er. „Es war sehr wohl deine eigene Entscheidung, dich in den Dienst des Fürsten zu begeben. Die Schmiede tun nur, was im Sinne des Fürsten ist.”
Brokk lachte ein schwarzes Zaubererlachen, voller Hohn, Betrug und Geheimnisse. Geheimnisse, für die kein Fürst je bezahlt hatte. Folke hörte ihn lachen, und das wilde Tier in ihm reagierte. Sein Blick verengte sich. Er sah nur noch die schwarze Gestalt des Schmieds, der sich sein Blut genommen hatte, der seine Mutter genommen hatte, der höhnisch und zufrieden lachte, weil er sich auf seinen Lohn freute. Folke sprang auf den Schmied zu und riss ihm das Schwert aus der Hand, zog es mit einer schnellen Bewegung aus der Scheide. Es glänzte hell im Feuerschein, schien ihn aufzusaugen. Rötliche Blitze tanzten um die Klinge.
Brokk sprang auf und wich zurück, geduckt, die Hände abwehrend vor den Körper haltend. Die Schatten verschwanden aus seinen Augenhöhlen, und Folke konnte Angst in ihnen entdecken, aber auch Belustigung. Es machte ihn noch wütender.
„Steck das Schwert zurück, Junge!”, rief der Vogt. Er hatte sich in eine Zimmerecke zurückgezogen und seine Augen hatten sich fast ganz geschlossen, als wollte er sich weigern, das, was geschah, wahrzunehmen.
„Nennt mich nicht Junge!”, schrie Folke.
Sein Herz schlug wie eine Trommel, und er spürte sein Blut auch im Schwert pulsieren. Es reagierte auf seine Wut und brüllte vor Blutdurst. Folke hörte es mit seinem ganzen Körper. Es fühlte sich fremd an, fremd, aber gut. Mit dem Schwert in der Hand trat er auf die beiden Männer zu, die sich aneinanderdrängten und erschrocken keuchten. Sie waren zwei Gestalten in einem Nebel, der Folke umgab. Es gab nur einen Weg aus dem Nebel heraus, und er führte durch das Blut der beiden Männer. Es schien ein guter Weg.
„Nicht!”, hörte er eine Stimme durch den Nebel hindurch rufen. Sie war wie eine Erinnerung, eine Erinnerung an graue Augen, die wie ein Zuhause waren. Sie drang zu ihm durch, fand einen Weg zu dem Tier, das vor Ungeduld knurrte.
Niemand wird vor dir sicher sein, auch deine Mutter nicht.
Fünfzehn Sommer schienen wie weggewischt. Verloren. Eine Erinnerung, die er vergessen würde, die jetzt schon verblasste. Er war ein Fremder in diesem Dorf, in diesem Haus. Im Haus seines Vaters. Am Tisch seiner Mutter.
„Nein”, dachte er. Mühsam scheuchte er das Tier zurück in seinen Käfig am Rande seiner Gedanken.
„Du stehst unter dem Befehl des Fürsten!”, schrie der Vogt. „Wenn du dich widersetzt, wird deine Familie es büßen. Dein Dorf!”
„Erklärt ihm, was Ihr für ihn tun könnt”, sagte Brokk drängend. „Ihr hättet es gleich sagen sollen, Narr! Bevor er das Schwert gezogen hatte.”
„Deine Mutter!”, schrie der Vogt. Seine Stimme war hoch und wimmernd. „Der Fürst wird sie für deine Dienste entlohnen! Es wird ihr gut gehen! Willst du das aufs Spiel setzen?”
Die Worte erreichten Folke wie aus weiter Ferne. Er verstand ihre Bedeutung, aber das war nicht der Grund, warum er das Schwert in die Scheide steckte. Der Grund war eine Stimme im Nebel, die er nicht verlieren wollte. Das Tier im Schwert protestierte, heulte durch seine Gedanken wie ein Wolf, dann verschwand es irgendwo, versteckte sich, wartete, lauerte.
„Ist das wahr?”, fragte Folke.
„Auf mein Wort”, sagte der Vogt mit zittriger Stimme. „Ich habe es dir gleich sagen wollen, aber du bist weggelaufen.”
Folke schaute seine Mutter an, deren Mund noch geöffnet war von dem Schrei, der das Tier verscheucht hatte. Die Angst in ihren Augen konnte er kaum ertragen, aber die Angst würde von nun an in allen Augen sein. Er musste sich daran gewöhnen und er glaubte, er konnte es, denn es würde bei niemandem mehr weh tun als bei ihr.
Er trat beiseite, um den Vogt und den Schmied vorbeizulassen.
Als Brokk neben ihm war, hielt er ihn am Arm fest.
„Ihr werdet Euch nicht immer hinter einem Vogt verstecken können, Zauberer”, sagte er leise.
Der Schmied deutete eine Verbeugung an und grinste, aber er sagte kein einziges Wort und verschwand hinter dem Vogt in der Nacht.
Folkes Mutter holte Brot, Käse und Bier, stellte alles auf den Tisch, ging hierhin und dorthin, putzte, wischte, ordnete. Er setzte sich und aß, hörte, wie sie hin und herging, aber schaute nicht hin. Er begriff, dass sie nicht reden konnte. Die Worte zwischen ihnen waren verloren gegangen.
Ein Steinchen mit einer Nase und Moos obendrauf.
Verloren.
Er hatte an einem Tag eine alte Frau aus ihr gemacht, eine einsame alte Frau ohne Mann und Sohn. Ohne Worte. Mit Angst in den Augen und nichts dahinter. Kein Zuhause mehr. Sie war eine Stimme im Nebel geworden, und es war seine Schuld. Er empfand sie wie eine Wunde, die niemals heilen würde.
Als er fertig gegessen hatte, stand er auf.
„Es tut mir leid”, sagte er und strich sich mit den Fingern durch die Haare.
Sie ging hin und her, putzte, wischte, ordnete. Alle Worte steckten in den Wunden fest, die sich über ihnen schließen würden.
„Wie kann es eine solche Leere geben zwischen uns?”, dachte Folke. Er hätte es sich niemals vorstellen können. Alles fiel in diese Leere hinein und verschwand für immer.
Wie betäubt kletterte er die Leiter zum Schlafboden hoch und legte sich hin, das Schwert neben sich. Es würde seine letzte Nacht im Haus seines Vaters sein. Das Tier in ihm fraß die Erinnerungen von fünfzehn Sommern und wurde nicht satt.