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Kapitel 1

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Eine Seefahrt die ist lustig, eine Seefahrt die ist schön..., dieses Lied ist sehr bekannt. Die junge Gabriele Reichenbach und ihr Freund Hans-Jürgen Gühnand würden gerne eine größere Reise unternehmen. Dass so etwas eine Stange Geld kostet, ist den beiden bekannt. Gabi, so wird Gabriele von ihrem Liebsten genannt, stammt aus keiner wohlhabenden Familie. Deswegen hat sie öfters Zweifel, ob ihr „Traum“ überhaupt verwirklicht werden kann. Trotzdem wurden bereits lange vorher Pläne für ein solches Unternehmen geschmiedet. Sie hat bis heute gespart, was sie zum Geburtstag, an Weihnachten und manchmal auch nur so als Geldgeschenk bekam. Hans-Jürgen stammt dagegen aus einer reichen Familie und ist das einzige Kind. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass er jede Woche neue Klamotten bekommt. Dadurch wurde er ein etwas verwöhnter Bursche. Das lästige Wort Sparen ist für ihn fremd, denn es wird ihm jeder Wunsch von den Augen abgelesen. Alles hat sich geändert, seit er seine liebe Gabi kennengelernt hat. Die beiden netten Leute verstehen sich seit Anfang an sehr gut, haben die selben Interessen und möchten später auch heiraten. Aber wohin können sie jetzt in so einer kurzen Zeit der Planung und Vorbereitung reisen. Ihre Entscheidung ist eine Last Minute Mittelmeerkreuzfahrt und beginnt bereits nächste Woche. Nun heißt es, noch alles Notwendige besorgen, organisieren und packen. Es bleibt den beiden nicht mehr viel Zeit. Aufgeregt und voller Erwartung laufen sie gleich am Montag ins Passamt, um ihre Reisedokumente abzuholen. Gott sei Dank haben sie sie rechtzeitig beantragt. Dort meinte es das Schicksal gut mit ihnen, denn erst am Vormittag sind sie fertig geworden. Die Zeit vergeht im Fluge und nun ist es endlich so weit, die Reise beginnt morgen. Am letzten Tag der Abreise werden die letzten Vorbereitungen getroffen. „Hast du auch wirklich an alles gedacht, morgen ist es zu spät“, äußert sich Gabrieles Mutter fürsorglich.

„Hast du auch deinen Ausweis, das Geld und deinen Teddy als Talisman nicht vergessen?“

„Ja Mama, mach dir bitte keine Sorgen, ich habe wirklich alles.“

In der letzten Nacht denkt Gabi noch über vieles nach. Ihr fällt nichts mehr ein, was sie trotz gründlicher Vorbereitungen vergessen hat. Irgendwie kann sie heute gar nicht richtig schlafen, erstens grübelt sie sehr viel und dann kommt noch die Aufregung dazu. Deshalb dauert es nicht lange und der nächste Tag bricht an.

Es sind nur noch vier knappe Stunden und auf dem Kreuzfahrtschiff kommt das Kommando: „Leinen los“. Gabi und ihr Freund genießen jeden Tag und jeden Augenblick. Sie könnten sich vorstellen, dass es ihre Hochzeitsreise wäre. Sie finden keine Worte, wie gut sie sich fühlen.

Langsam neigt sich die Reise dem Ende zu. Es sind nur noch zwei Nächte auf hoher See, bis sich ihr Schiff dem Heimathafen wieder nähert. Doch in dieser Nacht geschieht etwas Unvorhergesehenes. Hans-Jürgen hat sich an Bord des Luxusliners ein riesiges Buddelschiff als Souvenir gekauft. Er möchte es seiner Gabi zeigen, die schon in ihrem Bett liegt und ein Buch liest. Vorher will er noch unbedingt zur Reling gehen und ins Meer schauen. Es ist eine klare Nacht und es weht ein leichter Südwind. Während der junge Mann zu den Sternen aufblickt, stolpert er über eine Liege. Durch den Ruck kann er sein Buddelschiff nicht festhalten, deswegen fliegt es über Bord. Hans-Jürgen greift noch hinterher, aber er erwischt es nicht mehr. Wutentbrannt ärgert er sich sehr über sein Missgeschick und sieht das soeben Gekaufte in den Wellen verschwinden. Wenn er sich sofort in die Kabine begeben hätte, dann wäre alles nicht passiert. Hans-Jürgen geht noch einmal zurück zum Souvenirladen, aber er muss leider feststellen, dass es das Einzige in dieser Größe war. Ein kleineres Andenken will er sich auch nicht gönnen. Als die unvergessliche Reise der beiden Verliebten zu Ende geht, kommen sie aus dem Schwärmen nicht heraus und haben viel zu erzählen. Mittlerweile hat Hans-Jürgen das Souvenir vom Meer ziemlich vergessen, das immer noch in den Wellen des Meeres hin- und herschaukelt. Beide sind ein wenig gestresst, das sieht man ihnen an, als sie das Kreuzfahrtschiff verlassen. An der Kaimauer werden sie von ihren Eltern erwartet. Gabi und ihr Freund werden in nächster Zeit viel zu erzählen haben.

Doch was ist mit dem Buddelschiff passiert? Alles hat einmal ein Ende und so ist es auch hier. Nach ungewissen vielen Seemeilen strandet die Flasche mit dem Schiff in einer kleinen Bucht, in der Nähe von Marseille. Zwei Wochen vergehen, bis dieses Strandgut, zwischen Steinen eingeklemmt, von einer Frau gefunden wird. Diese Person wirkt sehr gepflegt, vielleicht etwas gestresst, macht aber einen selbstsicheren Eindruck. Beinahe hätte sie die Flasche gar nicht gesehen, wenn sich nicht die Sonne auf dem Glas gespiegelt hätte. Hat hier vielleicht jemand was versteckt? Jedenfalls kann es sich die Frau nicht vorstellen. Die Finderin hat einen kranken Jungen zu Hause, der seit ein paar Wochen an den Rollstuhl gefesselt ist. Durch einen Fahrradunfall kann der Knabe seine Beine nicht mehr richtig bewegen, deshalb ist er oft auf fremde Hilfe angewiesen. Eigentlich wollte die Mutter heute gar nicht an den Strand gehen, um etwas auszuspannen. Aber ihre innere Stimme hat sie irgendwie dazu gedrängt. Eine besondere Abwechslung ist es, dem Rauschen der Wellen zu lauschen, den Leuten beim Baden zuzusehen und die salzhaltige Luft einzuatmen. Wenn nur ihr Sohn dabei wäre, könnte er sich ebenfalls im Wasser austoben. Bis dies möglich ist, wird noch eine Weile vergehen. Um wenigstens ihrem Sohn eine Freude zu machen, nimmt die Frau die Flasche mit nach Hause. Sie schaut sich immer wieder diese Flasche mit dem nicht alltäglichen Inhalt an. Zu Hause angekommen, sieht sie durch das geöffnete Fenster ihren Sohn, der vor dem Fernseher sitzt und sich einen Kinderfilm anschaut. Dieser Lausbub ist so ein toller Bursche, er wird bestimmt mal viel Erfolg bei den Frauen haben. Er hat jetzt schon die besonderen Vorzüge eines Gigolo, längeres schwarzes Haar, volle Lippen, ein makelloses Gesicht und einen kräftigen Körperbau. Von seinen hellblauen Augen schwärmen jetzt schon seine Mitschülerinnen. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ist für den jungen Mann kein Fremdwort. Einen Augenblick bleibt die Frau stehen und starrt einfach vor sich hin. Was wird sie wohl in diesem Moment denken? Sicherlich nichts Schönes, denn sie wird auf einmal ganz bleich.

Der Junge im Zimmer sieht seine Mutter draußen stehen und sagt zu ihr: „Warum kommst du nicht rein?“

„Ich komm ja schon“, antwortet diese und begibt sich ins Haus.

„Schau mal, was ich dir mitgebracht habe“, sagt sie, „ich habe es am Strand gefunden, gleich da unten“ und zeigt mit dem Zeigefinger in die Richtung, woher sie gerade kam. Das Wohnhaus steht in einer sehr schönen Gegend und zur Bucht hinunter sind es nur wenige Gehminuten.

Philipp, so heißt nämlich der kranke Junge, nimmt die große Flasche mit dem Segelschiff in seine Hände und strahlt über sein rundliches Gesicht. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagt er zur seiner Mutter.

„Es ist schön, wenn es dir gefällt“, erwidert sie.

„Ach, wenn ich doch nur einmal auf einem echten Segelboot mitfahren könnte“, denkt sich der Junge. Dabei streicht er mit der Hand über das Glas, während er sich noch das Ende des Films anschaut. „Wie kommt denn eigentlich das Schiff in die Flasche?“, fragt der kleine Philipp seine Mutter.

„Das hat bestimmt jemand in mühevoller Kleinarbeit darin aufgebaut“, erklärt sie ihm.

Mit dieser Antwort gibt er sich zufrieden und bestaunt jede Kleinigkeit, die sich daran befindet. Es ist ein Dreimaster mit großen Segeln. So ein ähnliches Schiff hat er selbst schon einmal auf dem Meer gesehen, erinnert sich Philipp. Leider war es sehr weit draußen und er konnte es sich nicht richtig anschauen. Aber jetzt hält er eines selbst in der Hand und kann es immer betrachten, sobald er Lust drauf hat.

Voller Freude gibt er seiner Mutter einen Kuss auf die Backe und sagt: „Danke Mama.“

„Ist schon gut“, schmunzelt sie.

Der Tag vergeht und weit hinten am Horizont verschwindet die Sonne, die mit ihren Strahlen die weißen Wolken berührt. Diese wiederum färben sich in ein glühendes Rot und es sieht aus, als würde der Himmel brennen. Ein wunderbares Naturschauspiel, das sich Philipp und seine Mutter gerne anschauen. Aber heute wird Philipp schnell müde und deshalb bringt ihn seine Mutter früh zu Bett. Zuvor aber stellt er noch sein Buddelschiff vorsichtig auf seinen Rollstuhl, der neben seinem Nachtlager steht.

Später, so etwa gegen 22:30 Uhr, telefoniert Maika, so heißt die Mutter des kranken Jungen, noch mit Frank, ihrem Mann. Sie erzählt ihm genau, was heute alles passiert ist. Dass sich sein Sohn über das Segelschiff in der Flasche gefreut hat, macht ihn sehr glücklich. Dieser kräftige Mann ist leidenschaftlicher Fernfahrer und befindet sich zur Zeit in Griechenland, wo er für seine Firma Maschinenteile liefern muss. Gerne hätte er heute das Gesicht von Philipp gesehen und sich mit ihm gefreut, als dieser das Geschenk bekam. Jedenfalls kann er es sich genau vorstellen, wenn dieser lächelt. Dabei bildet sich auf der rechten Wange ein winziges Grübchen.

„Wenn alles gut geht, dann komme ich in fünf bis sechs Tagen wieder nach Hause“, erklärt Frank seiner lieben Frau.

„Pass auf dich auf und komm gut heim“, flüstert Maika noch ins Telefon und legt auf.

Es ist für die Frau nicht leicht, sich alleine um ihren kranken Sohn zu kümmern, während der langen Zeit ohne ihren Ehemann. Oft wünscht sie sich, wenigstens am Nachmittag jemanden zu haben, der sie bei all ihren Arbeiten unterstützt. Es ist nicht verwunderlich, dass ihr die kleine Landwirtschaft zu viel wird. Sie besitzt zwei Kühe, die Sakura, (heißt auf japanisch Kirschblüte) und Lara, (beide sind eine Limousin-Rasse, in der Regel sehr widerstandsfähig und verkraften extreme Witterungseinflüsse wie Hitze oder Kälte, ohne Schaden zu nehmen), sechs Hühner, einen Hahn, eine Ziege, fünf Stallhasen, sowie eine Katze namens Mucki. All diese Tiere müssen jeden Tag versorgt werden. Die Milch und die Eier, die Maika für ihren Haushalt nicht selber braucht, werden an ihre Nachbarn verkauft. Somit wird die Haushaltskasse ein wenig aufgebessert.

Es ist mittlerweile schon sehr spät geworden und Maika ist sehr müde. Doch bevor sie ins Bett geht, schaut sie noch einmal in Philipps Zimmer, ob alles in Ordnung ist. Das Schiff ist zwar nicht mehr zu sehen, aber alles scheint in Ordnung zu sein und so kann Frau Bremer auch schlafen gehen. Am nächsten Morgen, der Hahn hat schon längst den Tag verkündet, verrichtet sie ihre tägliche Arbeit im Stall. Dort muss sie ihren Kühen frisches Gras geben, melken und ausmisten. Sie streut den Hühnern die alten Semmeln vom Vortag hin und sammelt die Eier ein, bevor sie wieder ins Haus geht. So vergehen immerhin zwei Stunden, bis alles erledigt ist.

Beim gemeinsamen Frühstück fragt die Mutter ihren Jungen: „Sag mal Philipp, wo hast du denn dein Schiff heute Nacht gehabt?“

„Warum, es stand doch auf dem Rollstuhl, wo ich es hingestellt hatte“, antwortete er.

„Das ist aber komisch, dass ich es nicht gesehen habe, als ich in dein Zimmer geschaut habe“, spricht Maika weiter.

„Vielleicht war es einfach zu dunkel im Zimmer“, meint Philipp mit hochgezogener Stirn.

„Das kann schon sein, es war ja auch schon spät“, sagt Philipps Mutter, die ihre vollen Lippen zu einer Spitze formt.

Es dauert nicht lange und das Buddelschiff steht auf dem Tisch. Philipp hat den Verschluss aus der Flasche gezogen. Es war keine größere Kraftanwendung nötig, denn der Stöpsel besteht aus Kork und ist nicht ganz eingeschoben. Leicht erschrocken hat sich Philipp allerdings schon, denn als er am Korken zog, gab es einen heftigen Blubb. Aber egal, nun ist die Flasche offen und man kann endlich auch das Innere erforschen. Philipp ist seit jeher schon neugierig. Ja, er geht sogar soweit, dass er das Innenleben mit einem Kochlöffelstiel untersucht. Er drückt damit ans Schiff, stochert an deren Außenwänden und bohrt unter den Rettungsringen herum. Zuerst etwas zaghaft, aber mit der Zeit wird schon nicht mehr so zimperlich damit umgegangen. Philipp drückt gegen den ersten Segelmast, dann an den zweiten und prüft somit deren Festigkeit. So ist es nicht verwunderlich, dass es auf einmal einen hörbaren Knacks gibt und der höchste Mast ist abgebrochen. Erschrocken und sich gleichzeitig ärgernd, fängt der Junge an zu weinen.

Maika sitzt gemütlich auf der Hausbank, die ihr Vater noch selbst gezimmert hatte. „Was ist los, warum weinst du?“, fragt sie ihren Sohn, der sie mit geröteten und feuchten Augen ansieht.

Er braucht gar keine Antwort zu geben, denn sofort erkennt seine Mutter, was passiert ist. Tröstend streichelt sie mit der flachen Hand zwei-, dreimal über seinen Kopf, um ihn zu beruhigen. „Das ist doch nicht so schlimm, vielleicht kann es Papi wieder richten, wenn er nach Hause kommt“, flüstert sie Philipp ins Ohr. „Stell das Schiff jetzt zur Seite, damit nicht noch mehr passiert“, rät sie ihm noch.

Philipp ist ein anständiger Junge und gehorcht seiner Mutter. Das Unglücksschiff bekommt einen Ehrenplatz auf der Fensterbank, gleich neben der blühenden Orchidee. Um ihren Sohn auf andere Gedanken zu bringen, entschließt sich Frau Bremer in die Stadt zu fahren und einen Schaufensterbummel zu machen. Auch wenn es bis dorthin nur wenige Kilometer sind, kommen sie nicht so oft in die Innenstadt. Maika fährt nicht so gerne bis in die City der Stadt. Ihr ist einfach der Verkehr zu viel. Das überlässt sie lieber Frank, der ist den Rummel gewohnt. Mit Philipp kutschiert sie nur bis an den Stadtrand, dort sind die meisten Geschäfte sehr nah beieinander. Bei dieser Gelegenheit steht ein Abstecher zum Supermarkt auf dem Programm. Auf dem Weg in die City führt die Straße knapp an diesem Bereich vorbei, wo die Mutter das Buddelschiff gefunden hatte.

„Dort drüben, links neben dem großen flachen Stein, da lag die Flasche“, erklärt Maika ihrem Sohn.

Er schaut vom Rücksitz aus dem Fenster und sucht die Stelle, wo die Flasche angespült wurde. Es ist ein schöner ziemlich warmer, man kann schon sagen ein heißer Tag. Auf dem Thermometer werden 34 Grad angezeigt. Beide gondeln mit dem Rollstuhl durch die Fußgängerzone. Plötzlich kommen sie an einem neu eröffneten Geschäft vorbei. Philipp sieht ein ähnliches Schiff in der Auslage, wie seines zu Hause, nur viel kleiner. Stumm und nachdenklich betrachtet er dieses Ausstellungsstück. Es ist ja nur ein normales Segelboot mit einem Mast. Irgendwie hat es auch einen gewissen Charme. Sie trotten weiter und bleiben nach kurzer Zeit wieder stehen. Ein Modegeschäft, natürlich nichts für Philipp, aber für seine Mutter. Sie hätte gerne die hier ausgestellte Bluse. Anprobieren ist leider nicht möglich, da Maika im Moment schwitzt. Wenigstens zurücklegen überlegt sie, betritt den Laden und bittet die Verkäuferin, ihr den Wunsch zu erfüllen.

„Guten Tag Frau Bremer, hallo Philipp“, grüßt die beiden eine hastig vorbei laufende junge Frau.

„Wer war denn das?“, fragt Philipp seine Mutter.

„Das war Frau Kawuzki aus dem Blumengeschäft da vorne. Sie kam vor ein paar Jahren aus Polen und hat hier geheiratet“, erzählt sie weiter. „Sie hat ebenfalls einen Sohn, den Safrin, der ist ungefähr so alt wie du, ein netter Kerl.“

Alles haben die beiden nach und nach erledigt, was sie sich vorgenommen haben. „Weißt du was?“, fragt Maika, „Wir kaufen uns jetzt ein großes Eis mit Sahne. Dazu setzen wir uns ein bisschen auf die rote Bank, dort unter dem Kastanienbaum.“

Philipp ist für diese Köstlichkeit immer zu haben. Kaum ausgesprochen halten beide ihren Eisbecher in der Hand und schaufeln genüsslich die geschmackvollen Kugeln in ihren Mund. Maika hebt sich die Krokantkugel bis zum Schluss auf, denn die mag sie am liebsten. Nun wird es aber wieder langsam Zeit, dass sich die beiden auf den Heimweg machen, denn zu Hause gibt es noch einiges tun. Außerdem kommt heute noch der Nachhilfelehrer Herr Norisch, der für den Französischunterricht zuständig ist. In der Schule bereitet dieses Lehrfach, Philipp einige Schwierigkeiten. Herr Norisch ist ein sehr freundlicher und verständnisvoller Lehrer.

Zu Hause angekommen, schiebt Frau Bremer den Rollstuhl mit ihrem Sohn ins Wohnzimmer. Danach zieht sie sich um und stiefelt in den Stall, um ihre Tiere zu versorgen. Philipp rollt mit seinem fahrbaren Stuhl zum Fenster und betrachtet sein Buddelschiff. Er schaut sich den Dreimaster öfters an und kann nicht glauben, was er da sieht. Nein, das kann nicht sein, denkt er sich. Was ist geschehen? Philipp weiß genau, als er das Schiff aufs Fensterbrett gestellt hatte, war ein Segelmast abgebrochen und jetzt ist er wieder ganz. Hatte er es nur geträumt, nein, er ist sich sicher, es ist Realität. Wer sollte ihn repariert haben? Wann? Es war ja niemand im Haus, als beide in der Stadt waren. Doch bevor sich Philipp weitere Gedanken darüber machen kann, ist Herr Norisch bereits mit seinem Mercedes angekommen und ausgestiegen.

„Na, dann wollen wir mal heute ein Diktat schreiben“, meint Herr Norisch und setzt sich auf die Eckbank, die neben dem wuchtigen Kachelofen steht. „Was gibt es Neues, seitdem ich das letzte Mal hier war?“, fragt der Lehrer.

Philipp zeigt mit dem Finger auf das Bootsmodell und erzählt alles genau wie er es bekam und natürlich auch das, was damit passiert ist. Herr Norisch schaut sich den Mast fragwürdig an, aber er kann keine Bruchstelle finden. Der Lehrer kann es nicht glauben, denn so etwas ist unvorstellbar. Noch nie hat er eine ähnliche Geschichte gehört. Irgendwie kommt ihm Philipp merkwürdig vor. Sollte er sich über Herrn Norisch lustig machen? Aber so wird Philipp niemals eingeschätzt. Warum sollte sich Philipp so etwas ausdenken? Der Nachhilfelehrer wundert sich zwar über das, was er gerade gehört hat, lässt sich aber von seiner Aufgabe nicht ablenken. Er diktiert den Text, den er sich vorgenommen hat und nimmt ihn zur Korrektur mit nach Hause. Beim nächsten Besuch bringt der Lehrer ihn wieder mit und alles wird mit Philipp besprochen.

Mittlerweile ist auch Frau Bremer mit der Stallarbeit fertig. Maika kommt ins Haus, nachdem sie sich die Gummistiefel ausgezogen und sich draußen am Brunnen die Hände gewaschen hat. Übrigens, das ist schon ein sehr alter Brunnen, der stammt noch von Franks Urgroßvater. Sogar der Vermerk anno 1899 wurde eingemeißelt.

„Na, wie war es heute?“, möchte Maika von ihrem Sohn wissen.

„Wir haben heute ein Diktat geschrieben, das war vielleicht schwer“, antwortet dieser.

„Hoffentlich hast du dir wenigstens Mühe gegeben“, fügt Maika hinzu. „Du glaubst mir bestimmt nicht, wenn ich dir erzähle, was mir vorhin im Stall passiert ist“, spricht sie weiter. „Stell dir mal vor, ich habe vorhin die Sakura gemolken und ging dann zur Lara. Da war doch der zweite Eimer bereits voll. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob ich die Lara schon vorher gemolken habe. Bin ich jetzt schon blöd, oder was?“, schaut die Mutter ihren Sohn verwundert an. Aber der weiß auch keine Antwort darauf und schmunzelt nur.

Als Philipp bereits im Bett ist, sitzt seine Mutter noch vor dem Fernseher und schaut sich einen prächtigen Gebirgsfilm an. Obwohl sie ihn schon oft gesehen hat, gefällt er ihr jedes Mal aufs Neue. Immer wieder denkt sie über die Situation mit der Milch nach. Sie kann sich einfach nicht genau daran erinnern. Aber wer sollte es dann gewesen sein? War sie gedanklich etwa so vertieft, dass es ihr Bewusstsein nicht wahrgenommen hat? Bei der Vorstellung, sie könnte eine beginnende Amnesie haben, läuft es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Bevor weiterhin solche Gedanken auftauchen, geht sie lieber gleich nach dem Film schlafen. Morgen sieht alles wieder anders aus.

Das Geheimnis des Flaschenschiffs

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