Читать книгу Das Geheimnis des Flaschenschiffs - Manfred Ludwig - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеNach der täglich wiederkehrenden Arbeit im Stall- und im Hofbereich liest Frau Bremer auf dem Kalender, Donnerstag, 11:20 Uhr Massage. Maika möchte nicht, dass ihr Sohn diesen wichtigen Termin versäumt. Deshalb fährt sie ihn gleich in die Stadt zur Krankengymnastik. Die Therapeutin behandelt verstärkt die Sehnen und Muskeln, damit Philipp bald wieder richtig laufen kann. Frau Bremer kennt die hübsche Physiotherapeutin namens Alexandra. Diese hat rotbraune lange Haare und versteht ihr Handwerk exzellent. Sie hat schon so vielen Menschen geholfen, die in einer noch schlechteren Lage waren als Philipp. Alexandra hat ihren Beruf erlernt und war sogar zur Weiterbildung auch in Holland tätig. Seitdem sie Philipp behandelt, geht es mit ihm langsam wieder aufwärts. Dass es noch ein paar Wochen dauern wird, das hat sie ihm schon beigebracht. Außerdem muss Philipp zu Hause und auch wenn er unterwegs ist, verschiedene Übungen machen, damit der Heilungsverlauf beschleunigt wird. Spät nachmittags besucht Maika mit Philipp noch ein öffentliches Freibad. Das ist auch gut für die Gelenke und für die Muskeln. Philipp würde viel zu gerne schwimmen als nur herumzuplantschen. Neidvoll sieht er seinen Mitschülern zu, wie sie im Wasser eine Bahn nach der anderen ziehen.
„Morgen, wenn du aufstehst, werde ich nicht da sein, denn ich werde zum Friseur fahren, da habe ich einen Termin. Aber um zehn Uhr bin ich wieder zurück. Es ist möglich, dass in der Zwischenzeit Frau Beck kommt und ihre Eier abholt. Du kannst sie ihr geben, ich stelle sie auf den Tisch“, spricht Maika während der Heimfahrt.
Unterwegs nehmen sich die beiden aus einer Bäckerei noch ein Stück Sahnetorte und eine Schaumrolle mit nach Hause. Dazu gibt es einen aromatischen Bohnenkaffee und für Philipp eine Tasse Pfefferminztee. Frau Bremer darf heute auf keinen Fall vergessen eine Kanne Ziegenmilch bereitzustellen, denn diese wird in vierzehntägigem Abstand auch von der Familie Pucheé benötigt.
„Die Zeit vergeht so schnell“, denkt sich Maika, die auch heute etwas früher ins Bett geht und lässt alles noch einmal Revue passieren.
Leicht schlaftrunken schaut sie sich noch den klaren Vollmond an. Heute erscheint er ihr besonders groß zu sein. Täuscht sie sich, träumt sie schon, oder was bewegt sich dort vor dieser ballrunden Kugel? So ein Schatten kommt ihr nicht bekannt vor, der verschwindet und im nächsten Moment wieder in Erscheinung tritt. Es sieht aus, als würde sich der Schatten bewegen und Hände und Beine besitzen. Je länger sie ihn beobachtet, desto schwerer werden ihre Augen, bis sie eingeschlafen ist. Unruhig wälzt sich Maika in ihrem Nachtlager hin und her, bis zum frühen Morgen.
Nicht ganz ausgeschlafen steht sie heute früher auf, damit der Termin rechtzeitig wahrgenommen werden kann. Alles geht ungewohnt schnell und reibungslos von der Hand. Einige Zeit später steht auch Philipp auf, aber seine Mutter ist schon weg. Er zieht sich an und isst das Frühstück, das ihm schon hergerichtet wurde. Auch heute meint es der Wettergott wieder gut und lässt die Sonne vom wolkenlosen Himmel strahlen.
Frau Bremer kommt etwas später nach Hause als geplant. „Na, was sagst du zu meiner neuen Frisur?“, möchte sie von ihrem Sohn wissen.
„Ich sehe keinen Unterschied“, meint dieser und grinst nur.
„Hat Frau Beck überhaupt die Eier geholt?“, fragt die Hausfrau ihren Sohn.
„Nein, aber sie hat angerufen, dass sie sie heute Abend holt, wenn sie von der Arbeit kommt“, gibt Philipp zur Antwort.
„Diese Person ist beneidenswert, sie fährt täglich die fünfzehn Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit und das bei jedem Wetter“, fügt Maika hinzu.
„Ja ja, wenn ich das auch bald wieder könnte“, sagt Philipp und schaut mit getrübtem Blick zu Boden. „Wenn nur der blöde Hase nicht über den Weg gehoppelt wäre, dann bräuchte ich nicht in diesem doofen Rollstuhl sitzen.“
„Ich wollte dich erst abholen, bevor wir noch zum Schuster fahren, um meine Schuhe abzuholen“, spricht Frau Bremer. Mit dem Auto kommt man ja so schnell irgendwohin, denkt sie sich.
„Guten Tag Herr Doursy, ich möchte meine Schuhe abholen“, begrüßt Maika den älteren Herrn. „Sie wissen schon, die mit der neuen Sohle.“
„Ach ja, hier sind sie, der Preis steht drauf“, krächzt der Schuster, mit heiserer Stimme.
Frau Bremer holt das Geld aus ihrer Tasche und bezahlt den Preis. „Das stimmt schon so und auf Wiedersehen“, verabschiedet sich Maika.
Die sind ja wieder wie neu, denkt sie und freut sich über den günstigen Preis. Dieser arme Mann, hat auch schon genug mitgemacht in seinem Leben. Zuerst wurde er adoptiert und dann der Krieg. Seine erste Frau starb sehr früh an Brustkrebs, mit der zweiten hatte er auch kein Glück und sein einziger Sohn sitzt im Gefängnis, erinnert sie sich.
„Wir müssen noch tanken und dann fahren wir wieder nach Hause, du hast bestimmt schon Hunger, nicht wahr Philipp?“, meint dessen Mutter.
Endlich ist alles erledigt. Von weitem sehen sie schon Frau Beck, die ihnen entgegenwinkt. Aha, die holt sich jetzt ihre Eier ab, denkt sich Frau Bremer. Doch das ist ein Irrtum.
„Sie hätten mir doch nicht die Eier bringen müssen, ich hätte sie mir schon geholt“, erzählt Frau Beck.
„Wir haben Ihnen die Eier nicht gebracht“, klärt sie Maika auf.
„Doch, sehen Sie hier, ihre Schüssel, sie stand auf der Eingangstreppe vorm Haus und genau zehn Eier waren darin, wie immer“, schildert Frau Beck weiter.
„Trotzdem vielen Dank, ich muss wieder gehen, auf Wiedersehen Frau Bremer, tschau Philipp", verabschiedet sich die Nachbarin und läuft schnurstracks über die gemähte Wiese.
„Spielt uns jemand einen Streich, oder was soll das alles bedeuten? Erst gestern war das mit der Milch, heute die Eier“, plappert die Bäuerin vor sich hin.
Das hat Philipp gehört und fügt hinzu: „...und das mit meinem Buddelschiff.“
„Was ist mit deinem Schiff?“, möchte Maika wissen.
Philipp erzählt ihr alles, was er mit dem gebrochenen Mast erlebt hat.
„Das glaube ich nicht, das kann nicht sein. Wer ist es, der das alles macht?“, denkt sie sich.
Auch wird es Maika schon etwas mulmig in der Magengegend, denn so etwas ist bis heute noch nie vorgekommen. Nach dem Abendessen schiebt Frau Bremer ihren Sohn noch ein Stückchen den Feldweg auf und ab und genießt den lauen Sommerwind. Gesprochen wird fast gar nichts. Irgendwie ist jeder gedankenverloren, nur das wunderbare Singen eines Vogels durchdringt die abendliche Stille. Solange wie heute sind beide noch nie spazieren gegangen, ohne dass sie jemanden getroffen haben.
„Du kannst ja deine Beine schon wieder viel besser bewegen. Das macht also doch Sinn, wenn du immer zur Physiotherapeutin gehst und dich behandeln lässt. Natürlich spielen deine Übungen zu Hause auch eine große Rolle“, schildert Maika.
Als beide wieder zu Hause angekommen sind, sehen sie von weitem etwas kleines, grünes, unterm Scheunentor verschwinden.
„Was war das denn?“, schaut Philipp seine Mutter ängstlich an.
„Ich weiß es nicht, ich habe es auch nicht genau gesehen“, gibt sie zur Antwort. „Wir müssen aufpassen, vielleicht sehen wir es noch einmal.“
Es ist bereits sehr spät geworden, als plötzlich das Telefon klingelt. Erschrocken springt Maika von ihrem Fernsehsessel hoch, hebt den Hörer ab und meldet sich mit einem freundlichen: „Hallo Bremer.“
Eine Zeit lang steht sie stumm am Apparat und lauscht, was aus der Muschel klingt. Es ist Frank Bremer, ihr Mann, erleichtert nimmt sie den Anruf entgegen. Er ist schon in Genua und wird morgen bereits zu Hause sein. Ach, was für ein tolles Gefühl, wenn sie sich wieder geborgen fühlt. Nicht mehr alleine sein und ihren Frank umarmen können, darüber freut sich Maika. Vor lauter Freude hat sie den Hörer aufgelegt und vergessen zu fragen, um welche Zeit er hier sein wird. Das spielt nun keine Rolle mehr, Hauptsache er kommt. Sie zieht sich in ihr Nachtlager zurück und schläft in diesem Moment glücklich ein. Die Kirchturmuhr schlägt zwölfmal. Ausgerechnet jetzt wird Maika aus dem Schlaf gerissen. Neben dem Schlagen der Uhr vernimmt die Frau ein ungewohntes Kichern und Gelächter aus ihrem Stall. Sie steht langsam auf und schleicht auf Zehenspitzen zum Fenster. Wie selbstverständlich schaltet sie in diesem Moment kein Licht an, um nicht gesehen zu werden. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sehr vorsichtig zieht sie den dunkelblauen Baumwollvorhang zur Seite. Zeitgleich als der Mondschein ins Fenster fällt, hört Maika keinen Ton mehr. Stattdessen bewegt sich etwas auf dem Brunnenrand. Es scheint, als wären es irgendwelche Tanzbewegungen. Nach fünf Minuten ist der Spuk vorbei. Maika weiß noch immer nicht, was dort los war. Sie dreht ihren Kopf noch ein paarmal hin und her und legt sich wieder ins Bett. Nach einer Weile ist sie wieder eingeschlafen.
Der nächste Tag beginnt mit einem Lächeln der Sonne. Philipp steht schon auf und blickt zur Küchenuhr.
„Es ist ja schon neun, warum ist Mama noch nicht aufgestanden, oder ist sie schon wieder unterwegs?“, denkt er sich.
Behutsam öffnet er die Schlafzimmertür, die sowieso nur angelehnt ist und schaut hinein. „Mama, warst du schon im Stall?“, fragt er seine Mutter, die mehr geschlummert als geschlafen hat.
„Oh Gott, nein“, antwortet sie und springt aus dem warmen Bett. „Jetzt ist es egal, zuerst frühstücken wir und dann erledige ich meine Arbeit.“
„Fahren wir danach in die Massagepraxis?“, will Philipp wissen. „Alexandra hat gesagt, wenn ich es mir zutraue, dann kann ich mir Krücken bei ihr holen. Damit soll ich dann vorsichtig das Laufen wieder üben.“
„Wenn du willst, dann können wir sie ja holen, aber nur wenn du mir versicherst, dass du dich nicht überanstrengst“, antwortet Maika.
„Ja, ich verspreche es dir Mama, Ehrenwort.“
Nach dem Frühstück wollen endlich die Kühe und die anderen Tiere auf dem Hof versorgt werden. Deshalb zieht sich Maika die Gummistiefel an, während sie noch am letzten Bissen der Semmel kaut.
„Was war denn das bloß heute Nacht?“, spekuliert die Bäuerin noch auf dem Weg zum Stall.
Sie greift zur Sense und geht ein paar Schritte auf die Wiese, um dort frisches Gras zu mähen. Ihren Kühen und der Ziege wird es dann zum Fressen vorgeworfen. Nachdem diese Arbeit erledigt ist, holt die Bäuerin die zwei Metalleimer, die sie zum Melken braucht. Zuerst kommt heute Lara dran und anschließend Sakura. Na, das geht doch, gesteht sich Maika ein, da habe ich wohl beim letzten Mal einfach nicht richtig aufgepasst. Nachdem sie ihre Hühner versorgt und deren Eier eingesammelt hat, schüttet sie ein wenig Milch in einen kleinen Napf. Somit hat die Katze auch etwas zum Schlürfen. Frau Bremer traut ihren Augen nicht, als sie den Hasenstall öffnet. Darin liegt kein altes, nein, da liegt schon frisches Gras. Die Hasen fressen bereits einen Halm nach dem anderen.
„Das kann nicht sein, da muss jemand hier sein, der das hineingelegt hat“, überlegt Maika. „Aber wer kann das bloß sein, will mir jemand einen Streich spielen, oder in den Wahnsinn treiben?“ Sie kann sich einfach keinen Reim darauf machen. Aber unheimlich kommt ihr das Ganze mittlerweile schon vor. „Ist bloß gut, dass Frank heute nach Hause kommt“, tröstet sie sich.
Philipp wartet bereits in der Küche, als seine Mutter hereinkommt. „Fahren wir jetzt in die Stadt?“, will er wissen.
„Nun lass mich erst einmal die Hände waschen und umziehen, ich bin ja noch ganz dreckig“, lautet die Antwort. „Was macht überhaupt dein Buddelschiff?“, möchte Sie von Philipp wissen.
„Ich habe es unters Bett geschoben. Es dauert mir einfach schon zu lange, dass ich nicht laufen kann“, meint der Junge ärgerlich.
Unterdessen sind beide bereit für die Stadtfahrt. Sie steigen ins Auto und los geht es. „Hoffentlich ist die Praxis nicht schon geschlossen, bis wir hinkommen, es ist ja bald zwölf. Wenn ich wieder richtig gehen kann, dann bin ich auch öfters da unten, wo die anderen sind“, bemerkt Philipp beiläufig.
Dabei deutet er auf die drei Kinder, die am Strand mit einer Luftmatratze herumtollen. Das Meer zeigt sich von seiner besten Seite, blaues klares Wasser. Das Glitzern der rauschenden Wellen, beeindruckt den Jungen sehr.
Maika kann gar nicht so recht ihrem Sohn zuhören. Zu stark ist der Verkehr, auf den sie sich konzentrieren muss.
Tüt, Tüüüt, schallt es plötzlich aus einer Hupe hinter ihr.
„Was ist los?“, will Philipp wissen, dreht sich um und schaut aus dem Heckfenster.
Gedankenverloren hat sie nicht bemerkt, dass die rote Ampel bereits wieder auf grün umgeschaltet hat. Wie soll Maika auch richtig aufpassen können, wenn sich immer wiederkehrende Gedanken einschleichen. Nachdem, was alles in letzter Zeit geschah, ist dies nicht verwunderlich. Sie möchte sich alles von der Seele sprechen, aber mit ihrem Sohn ist das auch nicht befriedigend. Zum Glück kommt ja heute ihr Mann zurück, wenn nichts dazwischenkommt.
Nur noch an der Ecke rechts abbiegen, dann sind beide bei der Massagepraxis. „Das hat aber heute lange gedauert, der ewige Verkehr“, stöhnt Frau Bremer und parkt ihren Wagen ein. „Bleib du sitzen, ich laufe schnell hinein und hole deine Krücken, ich bin gleich wieder da“, erklärt sie Philipp.
Gesagt, getan. Nach fünf Minuten kommt Maika mit einem Lächeln aus dem Haus und zeigt ihrem Sohn mit erhobenem Arm seine neue Gehhilfe. „Einen schönen Gruß von Alexandra soll ich dir ausrichten“, sagt die Frau zu ihrem Sohn. „Du sollst es sehr vorsichtig probieren und sie will dich nächste Woche wiedersehen.“
Bevor sie den Motor wieder startet, schrillt ihr Handy aus der Handtasche. Maika kramt zwischen den Utensilien das Telefon hervor und erkennt sofort, dass es Frank ist. Es wird doch nichts passiert sein? „Hallo Frank“, meldet sie sich und horcht, was er ihr zu sagen hat. „Ja, ja, in einer halben Stunde, okay“, hört Philipp seine Mutter nur sagen. Jubelnd und sichtlich erleichtert nach dem Gespräch, verstaut sie ihr Handy wieder.
„Stell dir vor, Papi ist schon hier. Wir sollen ihn gleich in der Firma abholen“, quasselt Maika hektisch vor Freude. Ihr Sohn kann sie kaum verstehen.
„Ich bin ja so erleichtert, dass Frank wieder hier ist. Er wird sich bestimmt erst einmal richtig ausschlafen, so wie er es immer macht“, denkt sie sich. Die Fahrt durch die riesige Stadt, ist ihr immer ein Dorn im Auge. Doch für ihren Frank nimmt sie es gern in Kauf. Philipp ist auf dem Rücksitz eingenickt und bekommt so von dem Getümmel auf der Straße nichts mit.
„Ach nein, auch das noch“, stammelt Maika vor sich hin, „diese verdammte Umleitung.“
Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als der Beschilderung zu folgen. Kaum dreihundert Meter gefahren, sieht sie nur noch rot. Nein, keine Ampel, nur viele Lichter, der vorausfahrenden Fahrzeuge. Nun heißt es STOPP, sie steht im Stau. Das Maika leicht nervös wird, sieht man ihr an. Sie rutscht auf dem Fahrersitz hin und her und schaut immer wieder in den Rückspiegel.
Philipp ist wieder aufgewacht und schaut aus dem Seitenfenster. „Sind wir schon da?“, fragt er seine Mutter.
„Das wäre schön“, gibt sie ihm zur Antwort.
Weiter vorne beginnt sich die Fahrzeugschlange wieder in Bewegung zu setzen. Allmählich zuckelt Maika wieder los, sehr langsam, aber sie fährt. Nun dauert es nicht mehr lange und sie ist wieder mit normaler Geschwindigkeit unterwegs.
„Schau mal da vorne, siehst du den Spielplatz?“, äußert sich die Mutter so nebenbei.
Philipp schaut zwar, aber irgendwie ist es ihm egal, er kann ja doch nicht hin. Kurze Zeit darauf passieren beide die Hofeinfahrt eines riesigen Geländes. Es stehen viele Lastwagen, größtenteils mit Anhänger auf dem Firmengelände. Alle wurden schön in einer Reihe eingeparkt. Maika stellt ihr Fahrzeug in der Nähe der Büros ab und steigt aus. Nach ein paar Dehnungs- und Streckübungen sieht sie ihren Mann aus der Spedition kommen. Frank hält eine große Tasche in der Hand.
Philipp, der noch im Auto sitzt, erspäht seinen Vater ebenfalls und schreit: „Papi, Papi!“
„Wenn ich doch nur laufen könnte, dann würde ich zu Papi in seine Arme rennen“, denkt er sich.
Die Frau hetzt ihrem Mann ein Stück entgegen. Beide fallen sich gleichzeitig um den Hals und küssen sich vor Freude. „Ich liebe dich“, flüstert Frank seiner Frau ins Ohr.
„Ich habe dich auch lieb", erwidert sie.
Beide drehen sich um und gehen zum Auto zurück, wo Philipp bereits sehnsüchtig auf seinen Papa wartet. „Hallo Papi“, empfängt Philipp seinen Vater, als er die Autotür öffnet.
„Du glaubst nicht, wie sehr ich dich vermisst habe“, gesteht er.
Frank setzt sich ans Steuer, denn er weiß, dass seine Frau nicht gerne durch die Stadt fährt.
„Es war eine lange Zeit ohne dich, wie war es bei dir?“, will Maika von Frank wissen, der etwas gestresst aussieht.
„Es war diesmal nicht so schön, überall ging irgendetwas schief, oder hatte lange gedauert - ungewöhnlich lang.“ Man merkt, dass er im Moment nicht gerne redet.
Die Ehefrau schaut zu ihrem Mann hinüber, während er durch die Stadt braust. Der ist ja richtig schön braun im Gesicht und an den Armen geworden. Es ist ja kein Wunder, wenn er weit weg war, denkt sie sich.
„Schau mal Papi, mit diesen Stöcken werde ich bald wieder richtig laufen können“, unterbricht Philipp die Ruhe im Fahrzeug.
„Das wird ja auch langsam wieder Zeit“, äußert sich Frank lächelnd. „Wenn wir zu Hause sind, dann werde ich mich erst einmal richtig schön duschen und etwas hinlegen. Die Straße könnten sie auch mal wieder herrichten“, meint er weiter. „Im Ausland muss ich selten über eine Fahrbahn mit so tiefen Schlaglöchern fahren.“
Nach weiteren fünf Minuten Fahrt, sieht Frank sein Zuhause und denkt: „Gott sei Dank, endlich da.“
Während alle drei aussteigen bemerkt Maika, dass die Haustüre offen steht. „Warum ist denn die Tür auf?“, fragt sie sich.
„Du hast bestimmt nicht richtig zugezogen. Du weißt ja, dass sie ein bisschen klemmt, pass das nächste Mal besser auf“, meint Frank.
Die ungewöhnlichen, ja ängstlichen Ereignisse der letzten Tage, belagern wieder Maikas Kopf. „Ich muss es Frank auf alle Fälle erzählen, aber erst später, spätestens morgen. Ob er mir das überhaupt glauben wird? Wie wird er reagieren, wenn ich ihm eine solche Story erzähle“, grübelt die Frau.
Frank trägt zuerst Philipp, dann seine schwere Tasche ins Haus. Philipp hat auf einmal große Lust bekommen, die neue Gehhilfe auszuprobieren. Er nimmt die Krücken und stellt sich damit erst mal gerade hin. Irgendwie ist er noch sehr ängstlich und wacklig.
„Das wird schon“, ermuntert ihn Frank und verschwindet im Badezimmer.
Maika nimmt die Tasche und wirft die dreckige Wäsche von Frank gleich in die Waschmaschine. Ein, zwei Schritte ist Philipp zur Eckbank gehumpelt und schaut aus dem Fenster. Das, was er nun sieht, verschlägt ihm die Sprache. Da hüpft doch tatsächlich ein kleines grünes Männchen auf dem Hasenstall herum! Es besitzt riesige, spitze Ohren und einen großen Hut. Anschließend springt es wie vom Blitz getroffen herunter und rennt mit seinem langen Schwanz zu einem der Apfelbäume, um sich dahinter zu verstecken.
„Was schaust du so?“, fragt Maika, die gerade mit der Wäsche fertig geworden ist.
„Da, da hinter dem Baum hat sich etwas versteckt“, lautet die Antwort. Der Junge deutet mit dem Finger in die Richtung, wo er das Männchen gesehen hat. „Geh mal raus und schau was es ist“, fordert Philipp seine Mutter auf.
„Ach was, wer weiß, was du wieder gesehen hast, aber ich kann ja mal nachsehen.“
Nicht ganz wohl ist ihr doch, als sie zum gemeinten Ort geht, um nachzuschauen. Dort angekommen schaut sie zuerst hinter den Baum, dann auf die Äste. Nun dreht sie sich langsam zweimal im Kreis, kann jedoch nichts Auffälliges erkennen und geht wieder ins Haus.
„Na, was hast du gesehen?“, will Philipp sofort wissen.
„Da war etwas, aber es war nicht grün, hatte vier Pfoten und wie du schon gesagt hast einen Schwanz“, behauptet Maika.
„Siehst du, ich habe doch recht“, fährt Philipp weiter fort.
„Keine Angst, es war nur unsere Mucki, die vor einem Mausloch sitzt“, versichert Maika.
Inzwischen ist Frank mit dem Duschen fertig. „Komm, setzen wir uns. Ich hole den Kaffee, Kuchen habe ich noch vom Supermarkt“, erklärt Frau Bremer.
Sie kann es nicht mehr länger verschweigen, sie muss es einfach loswerden. Sie möchte ihre Belastung der letzten Tage abwerfen, aber noch weiß sie nicht, wie sie anfangen soll. Nichts kann leichter sein, als wenn sie von ganz vorne beginnt. Also erzählt sie Frank alles der Reihe nach. Zuerst kommt das mit dem Buddelschiff, das Maika nicht mehr gesehen hat, als Philipp schlief. Dann war der Mast abgebrochen und sofort wieder ganz. Bald darauf folgten die nicht gemolkene Kuh und die Eier, die niemand geliefert hat. Naja und auch noch das gewisse Etwas, was unter dem Scheunentor verschwand. Ganz zu schweigen vom Tanz am Brunnenrand und den Hasen, denen das frische Gras bereits verteilt wurde. Dass Philipp meint, ein grünes Männchen hinter dem Baum gesehen zu haben, wagt Frau Bremer ihrem Mann kaum noch mitzuteilen.
Zuerst wollte Frank lachen, aber dann, nach so vielen Zwischenfällen bringt er keinen Ton heraus. Das Schmunzeln ist ihm restlos vergangen. Maika ist es nun leichter ums Herz, nachdem sie alles erzählt hat.
„Ich kann mir so etwas nicht vorstellen, aber wenn es wahr sein sollte, was wird noch kommen und was ist es überhaupt?“, fragt Frank in den Raum. „Jetzt ist mir das Ausruhen vergangen. Was sollen wir machen?“, fragt er seine Frau.
Sie schaut ihn nur an und zuckt mit den Schultern. „Irgendwie habe ich jetzt Angst“, gesteht sie.
Sogar Philipp ist ganz ruhig geworden, er hat nun auch Dinge mitbekommen, die ihm seine Mutter bis jetzt noch nicht erzählt hat. „Also habe ich mir das grüne Männchen doch nicht eingebildet“, erklärt er stolz. „Vielleicht ist es ein Marsmännchen, oder es kommt vom Mond", fügt er hinzu.
Maika ist der Appetit vergangen und legt das abgeschnittene Stück Kuchen beiseite.
„Auf alle Fälle dürfen wir es niemandem sagen, sonst werden wir die Eier und die Milch nicht mehr los. Das können wir uns nicht leisten. Auslachen würden sie uns dann sowieso“, meint Frank.
„Ich beginne gleich mit der Stallarbeit, damit ich früher fertig werde. Außerdem holt die Nachbarin heute wieder ihre Milch ab“, schildert Maika.
Doch jetzt läuft alles wie am Schnürchen und vom grünen Männchen ist weit und breit nicht das Geringste zu sehen. Als alles erledigt ist, setzen sich alle im Wohnzimmer vor den Fernseher. Heute wird ein berauschender Heimat- und Gebirgsfilm ausgestrahlt. So etwas lassen sich die Bremers nicht entgehen. Bis zur ersten Werbung hat es Frank nicht ausgehalten. Er ist bereits auf dem Stuhl eingeschlafen und beginnt leise zu schnarchen. Maika holt ihm eine Decke und legt sie ihm über die Füße.
„Er hat es sich verdient nach der langen Fahrt mit seinem Brummi“, flüstert die Frau.
Es vergehen einige Minuten, bis aus dem leisen Schnarchen, ein lautes Sägen wird. Beide wundern sich, dass sich das Schnarchen als Echo in der Küche wiederholt. „Warum hallt es denn heute so?“, schaut Philipp Maika fragend an.
„Ich weiß es nicht, interessiert mich auch nicht“, gibt sie schnippisch zur Antwort.
Beunruhigt hangelt sich Philipp von der Couch in seinen Rollstuhl und macht sich auf den Weg, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen. Er schaltet die Lampe neben der Dunstabzugshaube ein und erschrickt. Da steht doch tatsächlich das kleine grüne Etwas auf der Arbeitsplatte und mimt das Schnarchen von Frank als Echo nach. Der Junge kann es nicht glauben, was er gerade sieht. Fragwürdig, ängstlich und gleichzeitig belustigt starrt er förmlich dieses komische Wesen an.
„Was ist los, warum kommst du nicht wieder zurück?“, möchte Frau Bremer wissen.
„Mama, komm mal bitte schnell her und schau dir das an“, gibt Philipp zur Antwort.
„Ich hab’ jetzt keine Lust aufzustehen, der Film ist gerade so romantisch“, gesteht Maika.
Philipp möchte nach dem Unbekannten greifen, aber er erwischt es nicht. Das kommt daher, dass es immer blitzschnell zur Seite hüpft, bevor Philipp seine Hand schließen kann. Das komische Männchen ist sehr bunt gekleidet und trägt einen spitzen Hut. Aber dieses komische Aussehen, der lange Schwanz, die spitzen Ohren und die ungewöhnlich grüne Farbe, so etwas hat Philipp noch nirgends gesehen. Was ihm noch auffällt ist, obwohl es sehr ordentlich angezogen ist, dass es weder Schuhe noch Stiefel trägt. Jetzt erinnert sich Philipp genau, er hat sich nicht getäuscht. Es war dieses Männchen, das sich hinter dem Baum versteckt hatte. Warum springt es nun von einem Küchenkästchen zum anderen, schaukelt an der Hängelampe und öffnet alle Schranktüren? So schnell, wie es erschien, ist es auch wieder verschwunden.
Nun muss ich doch einmal nachschauen, was Philipp treibt, denkt sich die Mutter und geht in die Küche. „Ja bist du denn von allen guten Geistern verlassen! Was hast du denn da gemacht, hast du nichts Besseres zu tun?“, schimpft Maika.
„Das war ich nicht“, erwidert Philipp.
„Nein, nein, das warst du nicht, das ging wohl von allein, oder ein Geist hat sich ausgetobt“, wettert die Frau empört.
Wegen dem lauten Geschrei ist Frank vom Schlaf erwacht. „Geht es nicht noch lauter?“, brüllt er mit kräftiger Stimme. „Ich gehe jetzt ins Bett und hoffe, dass ich da meine Ruhe habe. Gute Nacht“, fügt er hinzu.
„Siehst du, was du angerichtet hast, jetzt ist Papa böse“, erwähnt Maika und schaut Philipp an.
„Mama, ich habe Angst. Das grüne Männchen hat das alles gemacht, Ehrenwort“, erklärt Philipp das Durcheinander.
„Hast du es denn gesehen?“, fragt sie ihn.
„Ja, erst ist es hier herumgehüpft und dann hat es alle Türen aufgemacht“, versichert Philipp.
„Ist schon gut, wir gehen jetzt auch ins Bett, morgen ist ein neuer Tag“, beruhigt Maika ihren Sohn.
Sie liegt noch stundenlang wach und macht sich die verschiedensten Phantasien. Was ist das für ein Männchen, ist es gefährlich, vielleicht ein Geist, etwas Böses oder gar der Teufel? Sie kann sich einfach keinen Reim darauf machen.
„Hoffentlich ist morgen der Spuk vorbei und es kehrt wieder Ruhe ein in diesem Haus. Aber wenn nicht, wie soll das weitergehen, was passiert noch alles?“, denkt sich die Frau und zieht sich die Bettdecke bis weit übers Kinn. Es vergehen noch einige Minuten, bis auch sie endlich eingeschlafen ist. In dieser Nacht schlummern alle ohne weitere Aktivitäten irgendwelcher Art.