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2. Covid-Pandemie und Shutdown verursachen ein "Übermaß an Realität": Der "Baudrillard-Moment"

Das Gewisse der Maske, ihre Deutlichkeit, ist von Ungewissem geladen“

(Elias Canetti, Die Befristeten)

Ein Opfer wie die Realität stirbt nicht von einem Tag auf den anderen.

Schon in den 1970er Jahren hat der französische Philosoph, Soziologe und radikale Denker Jean Baudrillard den "Todeskampf des Realen" beschrieben und warnend das Dämmern der Epoche der "Simulation" beschworen, den Eintritt in eine Hyperrealität, in der sich virtuelle und reale Wirklichkeit untrennbar miteinander vermischen, von Adrian Lobe vor dem Hintergrund der Covid-Pandemie wie folgt beschrieben:

"Auch heute erreichen uns die Ereignisse des Pandemiegeschehens über Computermodelle und Simulationen, wobei man gar nicht weiß, was sich in einer globalen Gesellschaft schneller verbreitet: das Virus oder die (Des-)Information darüber. Alles rast, und doch steht alles still – das ist das Gefühl, das einen dieser Tage beschlich. Die Paradoxie, auf die Baudrillard hinweist, ist jene, dass gerade die moderne Gesellschaft wegen der Mobilität und Beschleunigung "in ihrem Innersten, in ihren Zielbestimmungen immobil geworden (ist)"– sie dreht sich immer schneller um die eigene Achse, verliert aber in einem Anfall von kollektivem Schwindel die eigenen Ziele aus den Augen. "7

Es bedurfte erst einer beispiellosen Pandemie, um das wahre Ausmaß des Verbrechens, der "Ermordung" der Realität, vollends deutlich werden zu lassen. Mit dem Shutdown erfolgt die Ablösung der bisherigen Realität ("Realität so far") durch eine für uns alle völlig neue Realität ("Realität from now on").

Die Corona-Pandemie wird so zum "Baudrillard-Moment": Simulation und Wirklichkeit fallen zusammen. Wir erleben eine "Verwüstung des Realen", eine völlig irreal anmutende Wirklichkeit, in der mit einem Schlag nichts mehr so ist wie zuvor. Doch bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, dass wir in Wirklichkeit mit einem "Übermaß an Realität" konfrontiert sind, wie Baudrillard bereits vor Jahrzehnten hellseherisch diagnostiziert hat:

"Wir leben in der Illusion, das Reale sei es, was uns am meisten fehlt; doch im Gegenteil: die Realität hat ihren Gipfel erreicht. Vor lauter technischer Performanz haben wir einen solchen Grad an Realität erreicht, daß man sogar von einem Übermaß an Realität sprechen kann, das uns weitaus verängstigter und verwirrter zurückläßt als der Mangel an Realität, den wir wenigstens durch Utopie und Phantasiewelten kompensieren konnten. Zum Übermaß an Realität dagegen gibt es weder Kompensation noch Alternative. Negation, Überschreitung sind nicht mehr möglich, denn wir befinden uns schon jenseits. Keine negative Energie aus der Kluft zwischen dem Idealen und dem Realen mehr – nur eine Überreaktion aufgrund der Unterkühlung des Idealen und des Realen, aufgrund der totalen Positivität des Realen. "8

Ein Übermaß an technischer Performanz hat uns ein Übermaß an Realität beschert und so blieb als Antwort auf die zunehmende Steigerung der Realität durch die Covid-19-Pandemie letztlich nur die Überreaktion des Shutdowns als Ausweg übrig – die "Ermordung der Realität".

Im vorliegenden Band geht es um den Versuch einer "institutionellen Autopsie" am Leichnam der Realität so far. Wir sind der Auffassung, dass eine Autopsie im medizinischen Sinne den Kern unserer Intuition auf den Punkt bringen kann:

Eine situationsbedingte Analyse eines komplexen Systems unter Stress, um dessen innere Logik und seine strukturellen Schwächen deutlich werden zu lassen. Eine institutionelle Autopsie beruht auf der Überlegung, dass das hochdynamische und wechselseitige Zusammenspiel zwischen Institutionen und individuellen und kollektiven Handlungen in Zeiten der "Normalität" für eine rein analytische Vorgehensweise zu komplex erscheint. Insofern nutzen wir den Shutdown als Zusammenbruch eines Gesamtsystems bzw. seiner Subsysteme und sehen darin eine Möglichkeit, das komplexe Set an institutionellen Arrangements einer postmodernen techno-kapitalistischen Gesellschaft und dessen Verwundbarkeit/Anfälligkeit für außergewöhnliche Krisen (Katastrophen) zu sezieren und so sichtbar zu machen.

Unserer Untersuchung liegt die Vermutung zugrunde, dass es sich bei der Covid-19-Katastrophe um ein beispielloses Systemversagen, konkret: eine fundamentale Krise des Denkens und damit einhergehend um ein völlig unzureichendes Verständnis bezüglich komplexer Probleme handelt, was sich schon lange vor der Katastrophe andeutete, aber durch das aktuelle Geschehen nun vollends zum Vorschein kommt, ja regelrecht greifbar wird, wie die Ausführungen des Philosophen Markus Gabriel in einem Interview mit der NZZ zeigen:

"Bald laufen alle Menschen mit Masken herum, aber in Wahrheit erleben wir die grosse Demaskierung: Alle Behauptungen, Berechnungen, Manöver, Dynamiken, Abläufe sind in der Krise sichtbar geworden. Dafür brauchte es den sozusagen unsichtbaren Hauch eines Virus, das wie ein Gespenst herumspukt und uns im Wahn technokratischer Unverwundbarkeit unerwartet getroffen hat. "9

Der vorliegende Band gliedert sich in zwei Teile: einer Beschreibung der Autopsie und Pathologie des Denkens so far mit entsprechenden "Befunden" und einer hypothetischen Antizipation der Realität from now on mit entsprechenden "Thesen" (Therapieansätze).

Doch beginnen wollen wir mit dem "Shutdown", einem vorher nie dagewesenen abrupten und völligen Stillstand von Öffentlichkeit.

Die Covid-Prophezeihungen

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