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Lord Pearson, Archäologe

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchten sowohl Archäologen als auch Grabräuber mit großem Eifer im Wüstensand nach den Hinterlassenschaften der alten Ägypter. Es ist nicht sicher, welche der beiden Gruppen mehr Schaden anrichtete. Die Archäologen jener Zeit waren noch nicht die pingeligen Sandkornzähler, wie sie später auf den Ausgrabungsfeldern erschienen. Im Gegenteil! Denn ein Archäologe, der viel fand, wurde berühmt. Und ein Grabräuber, der viel fand, wurde reich – indem er seine Funde an erfolglose Archäologen verkaufte.

Lord Pearson, ein hagerer Engländer, gehörte nicht zu denen, die wegen des Reichtums im Land der Pharaonen unterwegs waren. Reich war er von Geburt und Ruhm bedeutete ihm nichts. Trotzdem kampierte er seit Wochen in der Wüste.

Wonach er suchte, wussten nicht einmal seine beiden Landsleute, die er zur Unterstützung angeheuert hatte. Ägyptischen Arbeitern, die wesentlich billiger zu haben gewesen wären, misstraute der Lord. Die Ägypter hatten zu viel Erfahrung im Grabungsgeschäft und wussten, was wertvoll war und was nicht. Sie hätten gemerkt, dass ihr Arbeitgeber abseits der aussichtsreichen Grabungsplätze suchte und mehr an Kleinigkeiten interessiert schien, als an großen Funden. Und auf Kleinigkeiten hatte es der Lord tatsächlich abgesehen. Die Entdeckung eines Pharaonengrabes wäre eine Enttäuschung für ihn gewesen. Sein Sinn stand nach anderen Dingen.

Leider blieb seine Suche erfolglos. Auch an diesem Abend warf Lord Pearson nach langer, vergeblicher Mühe enttäuscht seine Schaufel in die Sandgrube. Wieder ein Tag vertan. „Schluss für heute!“, rief er den beiden Arbeitern zu.

Die verschwitzten Männer kletterten aus der Grube und gingen zu den Zelten, die neben einem Lagerfeuer aufgebaut waren. Sehnsüchtig sahen sie hinüber zu den Palmenhainen des fruchtbaren El-Faijum-Gebietes im Süden. Dort gab es Wasser im Überfluss und bequeme Unterkünfte. Hier dagegen nur Sand und Steine.

Doch Lord Pearson sah in die andere Richtung, hinaus in die Libysche Wüste. „Die Anlage ist hier in der Nähe“, sagte er mit trotziger Stimme. „Ich fühle es. Wir werden sie finden. Morgen.“

Nach einem einfachen Abendessen am Lagerfeuer ging jeder in sein Zelt. Die beiden erschöpften Arbeiter schliefen sofort ein, während der Lord noch im Licht einer Petroleumlampe uralte Lagepläne studierte. Dann legte auch er sich schlafen.

Es war eine ruhige Nacht. Der Wind wehte schwach über den Sand, der sich als leichter Schleier über alles legte.

Am Rand einer Düne, nicht weit entfernt von der Ausgrabungsstelle des englischen Lords, begann der Sand stärker zu rieseln. Ein Skorpion rannte nervös auf seinen dürren Beinen davon, während sich ein kleiner Wirbelsturm bildete, der genau an dieser Stelle stehenblieb. Eine Mulde entstand, die sich zu einem Trichter erweiterte, gut zwei Meter durchmessend und einen Meter tief. Auf seinem Boden wurde eine Falltür sichtbar, die sich gleich darauf öffnete.

Jeremiah, Yblah und Wynfried zwängten sich heraus. Sie schlossen die Falltür wieder, stellten sich um sie herum, machten mit den Händen einige magische Gesten und murmelten mit gesenkten Köpfen unverständliche Worte. Während die Jungs davon gingen, häufte sich nach und nach, wie von Geisterhand bewegt, wieder der Sand auf die Falltür. Nach wenigen Minuten unterschied sich die Stelle in nichts mehr von ihrer Umgebung.

„Nach Nordosten“, sagte Jeremiah leise, und sie gingen durch die mondhelle Nacht in die Richtung, die er vorgab. Jeder von ihnen trug einen alten, schäbigen Burnus, sowohl zur Tarnung als auch zum Schutz gegen die schneidende Kälte der Wüstennacht. Ein Beobachter hätte sie aus der Ferne für ein paar junge Fellachen halten können, die auf der Suche nach einer entlaufenen Ziege waren.

Der harte Schatten des Mondlichts verwandelte die Wüste in ein Labyrinth aus grauen Sandflächen und dunklen Felsblöcken. Die Palmenhaine des El-Faijum standen wie eine schwarze Wand im Hintergrund, während Jeremiah und seine Freunde schweigend durch die Nacht marschierten.

Wynfried blieb plötzlich stehen. „Es riecht nach Rauch“, sagte er. „Der Wind kommt von dort drüben.“

„Gehen wir hin“, entschied Jeremiah.

Sie kamen zu den Zelten, in denen der Lord und seine beiden Begleiter schliefen.

„Ein Lagerfeuer. Heruntergebrannt, aber nicht richtig gelöscht“, stellte Yblah fest.

„Das sind englische Archäologen“, flüsterte Wynfried. „Die Vorleser hatten ziemliche Mühe, sie mit Hilfe der Magie bei ihrer Suche in die Irre zu führen. Sie waren der Akademie schon gefährlich nahe gekommen.“

„Uninteressant“, meinte Jeremiah. „Gehen wir weiter.“

Die Jungs schlichen vorsichtig davon, bis sie außer Sicht- und Hörweite der Zelte waren. Aber schon nach wenigen hundert Metern blieben sie gleichzeitig wie auf Kommando stehen, lauschten in die Nacht hinaus und hechteten dann in Deckung hinter ein paar Felsbrocken abseits des Weges.

Gerade noch rechtzeitig, um nicht von den Beduinen entdeckt zu werden, die von einer Düne herunterkamen. Beduinen waren gefürchtete Räuber aus der westlichen Wüste, die manchmal in das fruchtbare Gebiet entlang des Nils eindrangen. Die Männer bewegten sich vorsichtig, nach allen Seiten sichernd. Als sie am Versteck der Jungs vorbei gingen, sah Jeremiah, dass sie schwer bewaffnet waren. Zwar waren die Musketen, die sie über die Schultern geworfen trugen, so alt, dass sie nur noch als Schlagstöcke geeignet schienen. Doch die langen Säbel und Messer in den Händen der Männer waren gefährlich genug.

Sie suchen uns, war der erste Gedanke, der Jeremiah durch den Kopf schoss. Aber bisher hatten sich die Einheimischen nie mit Novizen der Akademie angelegt. Schon das Gerücht, dass sie mit Magie zu tun hatten, ließ jeden Fellachen vor Furcht zittern.

„Die wollen jemanden überfallen“, vermutete Wynfried, nachdem die Männer außer Hörweite waren.

„Ja, aber echte Beduinen sind das nicht“, sagte Jeremiah. „Eher eine Gruppe Fellachen, die sich als Beduinen verkleidet haben. Könnten sie es auf die englischen Ausgräber abgesehen haben?“

„Unwahrscheinlich. Wenn denen etwas geschieht, startet der englische Generalkonsul umgehend eine Strafexpedition.“

„Deshalb die Verkleidung. Der Generalkonsul wird irgendeinen schuldlosen Beduinenstamm für den Überfall verantwortlich machen und bestrafen.“

„Und was nun?“, fragte Wynfried.

„Ihnen nach!“, entschied Jeremiah.

Die Jungs folgten den Bewaffneten in sicherem Abstand und beobachteten, wie sich die Männer um die Zelte der Engländer verteilten. Auf ein Zeichen ihres Anführers erhoben die angeblichen Beduinen lautes Geschrei. Mit vorgehaltenen Waffen stürmten sie in die Zelte. Gleich darauf kamen die Europäer mit erhobenen Händen heraus. Sie wurden von den Räubern zwar nicht gefesselt, aber sie mussten sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf den Boden setzen.

Der Lord wurde ausgefragt, und als er keine zufriedenstellende Antwort gab, sogar mit Schlägen traktiert. Dann gingen die Räuber in die Zelte, um sie zu durchsuchen. Nur eine Wache blieb bei den Gefangenen.

„Sollen wir eingreifen?“, fragte Jeremiah seine beiden Freunde.

„Wir müssen. Sonst könnte es den Engländern an den Kragen gehen. Wie wäre es, wenn wir noch einmal den Wind beschwören?“, schlug Wynfried vor.

„Einverstanden. Jeder ein Zelt.“

Sie stellten sich im Halbkreis auf und zeichneten mit kleinen Handbewegungen magische Gesten in die Luft. Dabei murmelten sie die in der Akademie einstudierten Sprüche und Gesänge vor sich hin.

Die Planen der Zelte bewegten sich, als würde ein zunehmend stärker werdender Sturm sie schütteln. Die Plünderer kamen heraus und stellten bestürzt fest, dass im Freien kaum ein Windhauch ging. Hektisch begannen sie, untereinander das merkwürdige Phänomen zu diskutieren. Die Zeltplanen flatterten immer heftiger, die Zeltstangen bogen sich, die Verstrebungen ächzten unter dem Ansturm der Kräfte.

Der Wächter ließ seine Gefangenen im Stich und rannte zu seinen Kumpanen. Als die drei Zelte in sich zusammenstürzten, ergriffen die Männer die Flucht.

Die verwunderten Engländer sahen ihren davon rennenden Feinden verständnislos nach. Dann inspizierten sie die Ruinen ihrer Zelte und begannen fluchend damit, Ordnung ins Chaos zu bringen.

„Ich war Erster“, sagte Jeremiah zufrieden.

„Aber nur um ein paar Sekunden“, entgegnete Yblah.

Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie die Engländer ihre Zelte wieder aufrichteten. Es war ein komischer Anblick, und die drei lachten in ihrem Versteck leise vor sich hin. Dabei entging ihnen, dass einer der Engländer nach einer Weile nicht mehr zu sehen war. Als die Jungs schließlich ihren Weg fortsetzen wollten, stand plötzlich ein Mann mit einem Gewehr hinter ihnen.

„Habe ich es mir doch gedacht“, sagte Lord Pearson, „dass ich ein paar von euch Spitzbuben noch erwische. Woher wusstet ihr, dass ich hier nach dem Amulett mit Sannalls Tränen suche?“ Er musterte die drei Jungs, die vor ihm standen, und fuhr fort: „Aber ihr gehört nicht zu dieser Räuberbande. Was treibt ihr euch mitten in der Nacht hier herum?“

„Wir sind sozusagen zufällig hier vorbei gekommen, Sir“, stotterte Wynfried.

„Zufällig. Mitten in der Wüste. Tolle Ausrede!“, sagte Pearson. Aber er senkte den Lauf seines Gewehrs. „Wer seid ihr?“

Jeremiah übernahm das Reden. „Wir sind mit einer Reisegruppe unterwegs“, behauptete er. „Wir haben einen Ausflug in der Abenddämmerung gemacht. Dabei haben wir die Räuberbande gesehen und sind ihr gefolgt.“

Yblah und Wynfried nickten eifrig.

„So, so“, sagte Pearson. „Die Wahrheit ist das nicht, aber immerhin eine akzeptable Lüge.“ Er hob den Lauf des Gewehres wieder und zeigte damit zu den Zelten. „Ihr kommt jetzt mit ins Camp. Da werden wir uns weiter unterhalten.“

Jeremiah sah seine beiden Freunde an. Ihre Blicke besagten, dass sie wussten, was er vorhatte. „Einen Moment noch, Sir“, sagte Jeremiah und hob beide Arme ein wenig an in eine bittende Konzentrationshaltung.

Verwundert kniff der Lord die Augen zusammen. Als er sah, dass die anderen Beiden die Geste nachahmten, warnte er: „Macht keinen Unsinn!“

Doch es war zu spät. Lord Pearson erstarrte mitten in der Bewegung. Die Jungs lockerten ihre Konzentrationshaltung wieder.

„Das sollte reichen“, sagte Jeremiah. „Nichts wie weg hier.“

Sie rannten davon. Erst in sicherem Abstand blieben sie stehen und verwischten mit Hilfe eines magisch herbeigerufenen Windes ihre Spuren im Sand.

Einige Minuten später kam Lord Pearson wieder zu sich. Fassungslos starrte er auf die Stelle, an der – seinem Eindruck nach – vor einem Augenblick noch die drei Jungs gestanden hatten. Er lauschte in die Nacht, hörte jedoch kein ungewöhnliches Geräusch. Dann ging er in die Hocke, um den Boden zu untersuchen. Er fand nicht einmal Fußspuren. „Magie“, sagte er, als er sich aufrichtete. „Habe ich es mir doch gedacht.“ Energisch schritt er hinüber zum Camp, um bei den Zelten nach dem Rechten zu sehen.

Kurz nach Mitternacht erreichten Jeremiah und seine Freunde ihr Ziel: Zwei Schienenstränge, gestützt auf quer liegende Holzbalken, durchquerten die karge Landschaft. Schienen, so wussten sie, verbanden die entferntesten Orte miteinander. Und doch war es schwer zu glauben, dass diese Eisenstränge ununterbrochen von hier bis nach Alexandria reichten. Sie gingen ein Stück weit die Bahnstrecke entlang, bis sie ein vertrocknetes Gebüsch fanden, in dem sie sich verstecken konnten.

„Wann ist es so weit?“, fragte Yblah.

„Den Nachtzug haben wir verpasst. Der nächste kommt erst gegen Mittag“, antwortete Jeremiah. Keiner von ihnen besaß eine Uhr. Ein Magier wusste immer, wie spät es ist, wenn auch nicht auf die Sekunde genau. Die Sprüche zur Bestimmung von Zeit und Ort gehörten zu den ersten, die ein Novize lernte. Außerdem erstreckte sich die tief sitzende Abneigung der Vorleser gegen jede Art von Maschinen auch auf kleine mechanische Geräte wie zum Beispiel Taschenuhren. Wynfried übernahm die erste Wache. Nach drei Stunden wechselten sie sich ab.

Am späten Vormittag schreckte sie ein pfeifendes Heulen auf, das in der Ferne erklang. Sie stellten sich auf die Schienen und sahen gespannt nach Norden. Eine große, weiße Wolke erschien am Horizont, die sich langsam auf die Jungs zu bewegte. Die Schienen vibrierten, ein stampfender Ton wurde hörbar, und dann sahen sie ein glänzendes Monstrum aus Metall auf sich zurollen.

„Fühlt ihr es auch?“, fragte Jeremiah überrascht. „Magie!“

„Eine magische Aura“, bestätigte Yblah. „Aber merkwürdig gedämpft.“

„Es heißt doch, dass diese Maschinen völlig ohne magische Hilfe funktionieren“, wunderte sich Wynfried. „Nur durch Technik und Dampfkraft.“

„Konzentriert euch!“, forderte Jeremiah sie auf, und so standen sie zu dritt mitten auf den Gleisen, die Köpfe gesenkt und die Hände leicht angehoben. Sie versuchten, hinter das magische Geheimnis der auf sie zu rasenden Eisenbahn zu kommen.

Erst kurz bevor die Maschine sie erreichte, sprangen sie in Sicherheit. Dampf und Rauch strömten aus der Zugmaschine und hüllten sie ein. Dann ratterten die Waggons an ihnen vorbei.

„Absolut gigantisch“, schrie Wynfried.

Kaum war der letzte Waggon vorbei, rannten sie hoch auf die Schienen und sahen der Eisenbahn hinterher.

„Sie lässt sich durch Magie weder aufhalten noch sonst irgendwie verändern“, stellte Jeremiah fest.

„Ja, und sie funktioniert wirklich nur durch Technik. Diese Technik ist stärker als unsere Magie“, sagte Wynfried.

„Unsinn!“, fuhren ihn Jeremiah und Yblah gleichzeitig an.

„Schon gut. Aber woher stammt diese seltsame Aura, die wir gespürt haben?“

„Wie von einem Magier, der weit, weit entfernt ist. Fast könnte man meinen, es sei ein Hilferuf gewesen.“

„Versuchen wir es noch einmal, auch wenn der Zug nun schon Meilen entfernt ist“, schlug Jeremiah vor. „Vielleicht haben wir uns geirrt.“

Sie konzentrierten sich wieder, doch sie konnten die magische Aura nicht mehr aufspüren. Nachdenklich machten sie sich auf den Heimweg.

Als sie im Laufe des Nachmittags am Lager des Archäologen vorbei kamen, schlichen sie sich an, um zu sehen, was geschehen war. Die Zelte standen wieder, und in ihrer Nähe lagerte ein Trupp bewaffneter Männer in schäbigen Uniformen.

„Die Engländer müssen in Medinet Soldaten zu ihrem Schutz angefordert haben“, mutmaßte Yblah.

„Angsthasen“, urteilte Wynfried.

„Aber offenbar politisch einflussreich“, sagte Jeremiah. „Ich möchte wissen, wer dieser Archäologe wirklich ist.“

Es war Abend, als die Jungs zur Akademie zurückkamen. Sie wussten, dass ihr Fehlen bereits bemerkt worden sein musste, also versuchten sie gar nicht erst, sich heimlich in ihre Kammern zu schleichen. Ein Verweis ließ sich nicht mehr vermeiden, und in den nächsten Tagen würden sie bei der morgendlichen Verteilung der Aufgaben wieder einmal die unbeliebtesten bekommen.

Ausgerechnet Sungear lief ihnen nach ihrer Rückkehr als Erster über den Weg. Doch zu ihrer Überraschung ignorierte er sie. Er murmelte Verwünschungen vor sich hin und eilte an ihnen vorbei. Verwünschungen aus dem Munde eines Vorlesers konnten unangenehme Konsequenzen für den Betroffenen haben, denn aufgrund ihrer Tätigkeit kannten sie die schlimmsten Flüche der letzten Jahrtausende in- und auswendig.

„Ein Glück, dass er nicht uns meint“, sagte Jeremiah deshalb. „Es muss etwas passiert sein, während wir weg waren. Hören wir uns mal um.“

Sannall der Erneuerer

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