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Jeremiahs Auftrag

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Jeremiah, Wynfried und Yblah zogen sich um und gingen in den Speisesaal, um nachzusehen, ob noch etwas für sie übriggeblieben war. Sie fanden den Saal leer bis auf einen Novizen, der Geschirr zusammenräumte. Jeremiah fragte ihn, was geschehen sei.

„Die Vorleser sagen zwar nichts, aber es heißt, der Meister sei verschwunden.“

„Verschwunden? Es weiß doch nie jemand, in welchem Land der Erde er gerade weilt.“

„Angeblich hat er aber seinen Besuch angekündigt“, erzählte der Junge, während er weiter schmutziges Geschirr einsammelte und auf einen Wagen stellte. „Heute hätte er hier eintreffen sollen.“

Gonther Virlan kam selten in die Akademie. Obwohl Jeremiah fast sein ganzes Leben hier verbracht hatte, war er Gonther Virlan nur wenige Male begegnet. Der Meister war so etwas wie ein König in alten Zeiten: Man weiß, dass er das Land regiert, aber man hat persönlich nichts mit ihm zu tun.

„Warum hat man uns nicht informiert?“, wunderte sich Wynfried. „Sonst wird doch ein Riesenaufwand getrieben, wenn der Meister erwartet wird. Alle Räume putzen und so weiter.“

„Weiß nicht. Ist ja auch nur ein Gerücht. Jedenfalls fiel der Unterricht heute aus, das ist doch immerhin etwas. So, ich bin fertig. Bis später.“ Der Junge schob seinen Wagen an ihnen vorbei zur Küchentür.

Jeremiah und seine Freunde folgten ihm und erbettelten von der Köchin, einer resoluten Russin, einige Fladenbrote und Obst. Damit kehrten sie in ihre Kammern zurück, wo sie über ihre Erlebnisse sprachen. Was bedeutete die merkwürdige magische Aura der Eisenbahn? Sollte sie etwas mit dem Verschwinden von Gonther Virlan zu tun haben?

Früh am folgenden Morgen hallte dreimaliger Gongschlag durch die Räume und rief alle Bewohner der unterirdischen Akademie in den großen Versammlungssaal. Sembla Walera, der aus dem Kongo stammende Leiter der Akademie, berichtete, was die Jungs schon wussten: dass man den Meister in der vergangenen Nacht erwartet hatte, er jedoch aus unbekannten Gründen nicht kam. Die Magier und Vorleser versuchten, mit vereinten magischen Kräften Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber das gelang nicht.

„Niemand braucht sich Sorgen zu machen“, fuhr Walera fort und erreichte mit diesem Satz natürlich genau das Gegenteil. „Die Novizen bitte ich, mit ihren Studien fortzufahren oder aber dem Personal bei den üblichen Arbeiten zu helfen. Einige von euch werde ich im Laufe der nächsten Stunden zu mir bitten, um ihnen besondere Aufgaben zuzuweisen. Das wäre für jetzt alles.“

„Sonderaufgaben?“, nörgelte Wynfried, während sie zurück zu ihren Kammern gingen. „Jetzt kommt doch wieder die übliche Putzerei vor einem Besuch des Meisters. Als Strafe für unseren Ausflug letzte Nacht wird man uns die besonders schmutzigen Ecken ausfegen lassen, wetten?“

„Wäre nicht das erste Mal. Aber vielleicht ist heute wirklich etwas Besonderes geplant. Bis später!“, sagte Jeremiah, bevor er die Tür seiner Kammer hinter sich schloss.

Warten war für Jeremiah kein Problem. Ein großer Teil seines Lebens hatte aus Warten bestanden, genauer gesagt, aus Versenkungs- und Konzentrationsübungen. Denn das Erlernen von Gesten und Sprüchen machte aus einem Menschen noch keinen Magier. Dazu war neben Talent auch ständiges geistiges Training erforderlich.

Jeremiah setzte sich auf die abgewetzte Meditationsdecke und konzentrierte sich auf die Strömungen der magischen Felder, die durch die unterirdische Akademie zogen. Eine Harmonie stellte sich ein zwischen ihm und dem starken magischen Potential dieses Ortes. Sein Geist wurde ruhig und leer.

In diesem Zustand der Versenkung spielten Minuten oder Stunden keine Rolle. Sie vergingen unbemerkt. Und manchmal konnte man auch nicht sicher sagen, ob man nicht doch dabei eingeschlafen war, wie es jedem Novizen ab und zu widerfuhr. Jeremiah schreckte hoch, als jemand an seine Tür klopfte. Einer der Vorleser stand draußen und bat ihn, mitzukommen.

„Doch nicht etwa wegen einer dieser Sonderaufgaben?“

„Warte ab. Du wirst überrascht sein“, antwortete der Vorleser, ein dürrer großer Mann aus Nordeuropa.

„Toll!“

„Ich habe nicht gesagt, dass es eine positive Überraschung sein wird.“

Mehr war aus dem Vorleser nicht herauszubekommen. Schweigend gingen sie nebeneinander her zu den Privaträumen des Leiters der magischen Akademie.

Sembla Walera hatte seinen privaten Bereich – völlig entgegen dem üblichen, spartanischen Stil seiner Untergebenen – sehr üppig ausgestattet. Die Wände waren mit Tierfellen und bunten Geweben behängt, in den Ecken standen kultische Gegenstände aus seiner Heimat im westlichen Afrika. Im Vorzimmer, in dem Jeremiah zunächst wartete, waren sogar einige der Lichtziegel abgedeckt, so dass ein ungewohntes Halbdunkel herrschte.

„Tritt ein“, forderte ihn eine leise Stimme auf.

Jeremiah ging zögernd durch den niedrigen Türbogen, der in die nächste Kammer führte.

Walera saß im Schneidersitz auf dem Boden. Er trug ein einfaches Leinengewand ohne jede Verzierung. Gerade deshalb wirkte er zwischen der üppigen Dekoration fehl am Platz. Mit einer einladenden Handbewegung bat er Jeremiah, sich zu ihm zu setzen. Jeremiah ließ sich auf den Boden nieder und wartete, bis Walera das Wort an ihn richtete. Doch Walera musterte ihn zunächst nur aufmerksam. Momente wurden zu Minuten, die schweigend vergingen. Jeremiah hütete sich, Ungeduld zu zeigen.

Schließlich begann Walera zu sprechen: „Ich habe lange über dich nachgedacht, Jeremiah Kendall. Du bist ein sehr unternehmungslustiger junger Mann. Aber das Befolgen von Vorschriften ist deine Sache nicht. Der Ausflug gestern war nicht deine erste Übertretung der Regeln. Wie ich höre, bringst du auch den Weisungen der Vorleser nicht immer die nötige Ehrfurcht entgegen.“

„Ich bin ...“, begann Jeremiah eine Rechtfertigung, doch Walera unterbrach ihn.

„Du wurdest als kleines Kind von Gonther Virlan aus einem Waisenhaus gerettet, wo er dein magisches Talent erspürte. Er war es, der dich zur Ausbildung hierher gebracht hat. Sonst hättest du deine ganze Kindheit und Jugend in einem Londoner Findlings-Hospital verbracht. Dort herrscht ein Elend, das unvorstellbar ist für dich, der du in der Geborgenheit unserer Akademie aufgewachsen bist.“

Walera schwieg einem Moment, aber er schien keine Antwort zu erwarten. Statt dessen fuhr der Schulleiter fort: „Die Vorleser und ich haben schon mehrfach darüber beraten, ob du von der Akademie verwiesen werden solltest. Nicht nur wegen deiner Streiche, sondern weil du andere Novizen mit deiner Abenteuerlust ansteckst. Du weißt, dass wir eine solche Maßnahme bisher noch nie in der Geschichte der Akademie ergreifen mussten.“

Jeremiah fuhr der Schreck in die Glieder. Er wäre beinahe aufgesprungen, was ein grober Verstoß gegen die Verhaltensregeln in der Akademie war. Gleichzeitig öffnete sich sein Mund, ohne dass er wusste, was er eigentlich sagen wollte. Eine Handbewegung Waleras bedeutete ihm, zu schweigen.

„Nun hat das Schicksal uns diese Entscheidung aus der Hand genommen. Der Meister ist nicht wie erwartet eingetroffen. Wir wissen, dass draußen in der Welt etwas vorgefallen sein muss, das er mit uns besprechen wollte. Etwas so Schwerwiegendes, dass es die weitere Existenz der Akademie bedroht.“

„Die Gedanken des Meisters sind unergründlich“, murmelte Jeremiah einen Spruch, der in der Akademie ein geflügeltes Wort war. Nicht, weil es in dieser Situation Sinn gemacht hätte, sondern weil er irgendetwas sagen musste, um seiner inneren Anspannung Herr zu werden.

„Das ist wohl wahr“, bestätigte Walera mit einem bitteren Unterton in der Stimme, der Jeremiah überraschte. „Jedenfalls können wir auch zur Residenz des Meisters in Paris auf magischem Wege keinen Kontakt aufnehmen. Deshalb haben wir beschlossen, einen Boten nach Paris zu schicken.“

Die Residenzen des Meisters, das wusste Jeremiah aus dem Unterricht, waren so etwas wie die weltlichen Zentren der Magie. Sie wurden jeweils von einem mächtigen Magier geleitet, der dem Meister direkt unterstand. Gonther Virlan reiste von Residenz zu Residenz, um nach dem Rechten zu sehen, seine Vertreter zu unterstützen und die Eroberung der Welt durch die Magie weiter voranzutreiben. Noch nie hatte einer dieser Magier die unterirdische Schule besucht, nicht einmal ihre Namen waren bekannt. Denn die Sache der Magie stand nicht gut, draußen in der Welt des Fortschritts und der Technik. Geheimhaltung nahm man deshalb sehr ernst.

„Du wirst unser Bote sein“, fuhr Walera fort. „Du wirst die Akademie verlassen, unsere Botschaft nach Paris bringen und dich gemeinsam mit dem dortigen Vertreter des Meisters auf die Suche nach ihm machen. Deine Ausbildung zum Magier wird abgebrochen, denn wir bezweifeln, ob sie überhaupt zu dem gewünschten Ergebnis führen würde.“

„Die Akademie verlassen?“, rief Jeremiah erschrocken. „Aber ich bin der Beste unter den älteren Novizen. Ich will Magier werden!“

„Wir hatten große Hoffnungen in dich gesetzt. Aber du wirst mit jedem Lebensjahr eigensinniger und unbelehrbarer. Deshalb ist diese Aufgabe auch ein Angebot an dich: Finde den Meister, beweise deinen inneren Wert. Gelingt es dir, werden wir erneut beraten und dich vielleicht trotz deiner Fehler zum Magier berufen.“

Nie wäre Jeremiah auf die Idee gekommen, dass seine Eskapaden solche Folgen haben könnten. Schon deshalb nicht, weil auch andere Novizen immer mal wieder Streiche spielten oder die Akademie heimlich verließen, um die Welt an der Oberfläche zu erkunden. Doch der Schreck, den ihm Walera eingejagt hatte, hinderte ihn nicht daran, frech nach den Hintergründen zu fragen: „Wird mir mit der Entlassung aus der Akademie gedroht, weil sich unter den Magiern und Vorlesern kein Freiwilliger gefunden hat, der sich auf die Suche nach dem Meister begeben möchte?“

„Schweig!“, donnerte Walera. Er stand mit einer einzigen, fließenden Bewegung auf und sah mit finsterer Miene auf Jeremiah herab. „Meine Entscheidung ist getroffen. Ich frage nur einmal, und ich stelle die Frage jetzt: Bist du bereit, diese Aufgabe zu übernehmen?“

Angst und Zorn kämpften in Jeremiah um die Oberhand, und heraus kam eine Antwort, die gar nicht so trotzig gemeint war, wie sie klang: „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“

„So ist es! Aber ich hätte mir gewünscht, dass du mit Freude diese Chance ergreifst. Wie dem auch sei, du wirst nicht alleine gehen. Deine beiden Freunde Yblah und Wynfried werden dich begleiten, denn sie waren auch an den meisten deiner Streiche beteiligt. Wir werden euch, so gut es geht, vorbereiten auf die Aufgabe, für die ihr ausersehen seid.“ Walera klatschte in die Hände, und einer der Vorleser betrat die Kammer. „Es ist wichtig, dass euer Auftrag den Gegnern der Magie in der Welt nicht bekannt wird. Ihr werdet euch daher unterwegs als Assistenten eines Antiquitätenhändlers ausgeben, die in Ägypten nach Altertümern gesucht haben und nun auf der Heimreise sind.“

Jeremiah stand auf. Er hatte seine Gefühle wieder unter Kontrolle und fragte sachlich: „Wann werden wir reisen?“

„In zehn Tagen“, sagte Walera. „So lange benötigen wir, um euch das notwendigste Wissen über die moderne Welt zu vermitteln.“

Mit einer Handbewegung beendete er das Gespräch. Jeremiah verbeugte sich und ging.

Die folgenden Tage waren die härtesten in Jeremiahs bisherigem Leben. Nach dem Gespräch mit Walera brachte man ihn in einen abgelegenen Teil der Akademie zu den Einsiedlerzellen. Dorthin zogen sich die Vorleser zurück, wenn sie für einige Tage oder Wochen alleine sein wollten, um ihre magischen Fähigkeiten zu vervollkommnen.

Hier traf Jeremiah auf Yblah und Wynfried. Er und seine Freunde wurden nun rund um die Uhr von mehreren Vorlesern auf das Verlassen der Akademie vorbereitet. Man vervollständigte ihr Wissen von der Welt draußen und verbesserte ihre geringen Französischkenntnisse durch Trancesitzungen. Sie mussten auch vieles über die Verhaltensweisen der Menschen in der modernen Gegenwart lernen. Lustige Dinge, wie zum Beispiel die Mode der Damen in Europa. Aber auch ernste, wie etwa, wann man wegen einer vielleicht gar nicht herabsetzend gemeinten Bemerkung zum Duell gefordert zu werden konnte.

Dann kam der Tag ihrer Abreise. Man erlaubte ihnen nicht, private Gegenstände mitzunehmen, und sie durften sich auch nicht von ihren Freunden verabschieden. Alles, was mit ihrer geplanten Reise zu tun hatte, ging in größter Heimlichkeit vor sich.

Erst an einem der versteckten Ausgänge aus der Akademie übergab man den Jungs ihr Gepäck. Man hatte an alles gedacht, auch an das nötige Geld für die Reise. Gonther Virlans Akademie verfügte über fast unbegrenzte finanzielle Mittel. Denn der Meister hatte bei seinen Studien nicht nur Hinweise auf Jahrtausende alte Bibliotheken und magische Stätten gefunden, sondern auch Schätze aus diesen längst vergangenen Zeiten. Gold war für die Vorleser und Novizen ein so alltägliches Material wie für einen Mitteleuropäer gewöhnliches Eisen. Banknoten allerdings kannten die Jungs bisher nur vom Hörensagen. Auch englische Pässe lagen bereit, denn für Franzosen konnten sie sich trotz des Intensivkurses nicht ausgeben.

Ausgestattet mit Bargeld sowie Wechseln für die wichtigsten europäischen Banken und – erstmals in ihrem Leben – europäisch gekleidet, verabschiedete Walera sie persönlich.

Oben, in der hellen Wüstennacht, wartete Sungear, der Vorleser, auf sie. Warum ausgerechnet er ausgewählt worden war, um sie zum Bahnhof in Medinet zu bringen, wussten die Jungs nicht. Um Sungear war immer etwas Geheimnisvolles gewesen, das ihn von den anderen Vorlesern unterschied. Vielleicht würden sie auf der Reise mehr von ihm erfahren.

Sungear trug einen Kaftan, in dem er aussah wie ein riesiger Luftballon, der in einen Teppich gehüllt worden war. Und so schwerelos bewegte er sich zur Überraschung der Jungs auch. Leichtfüßig, als würde er über den Sand schweben, eilte er ihnen voraus zu einer nahe gelegenen Gruppe Palmen, unter der ein paar Esel warteten.

„Reitet, Kinder, der Weg ist weit“, sagte er zuckersüß lächelnd. „Ich gehe zu Fuß.“

Sein Tonfall erschreckte die Jungs mehr, als es jeder seiner früheren Zornesausbrüche getan hatte. Schweigend luden sie das Gepäck auf und setzten sich dann auf ihre Reittiere. Sungear griff sich den Zügel des vordersten Tieres und führte es den Weg entlang zur Stadt.

Der Bahnhof in Medinet glich einem Basar. Schwefeliger Gestank von verfeuerter Kohle schlechter Qualität und der schwere Duft exotischer Gewürze erfüllten die Luft. Das Geschrei der Händler auf dem Vorplatz übertönte jeden Versuch einer Unterhaltung. Hier wurde alles angeboten, was Einheimische und Ausländer brauchen konnten: Früchte und Süßigkeiten, Tee und Wasser, Fladenbrote und Fleischspieße, Teppiche und Kunsthandwerk. Vor allem aber angeblich echte Altertümer als Mitbringsel für den gebildeten Europäer.

Die Einheimischen deckten sich mit billigem Reiseproviant ein und bestiegen die für sie bestimmten einfachen Holzwaggons, wo sie eng zusammengedrängt auf die Abfahrt des Zuges warteten. Die Europäer mieden dagegen die Esswaren, interessierten sich jedoch um so mehr für die angebotenen Souvenirs.

Sungear drängelte sich durch das dickste Gewühl zum Fahrkartenschalter, wo er mit der Miene eines Paschas vier Fahrkarten kaufte.

„Warum vier?“, fragte Jeremiah, als sie eine ruhigere Ecke im den Europäern vorbehaltenen Teil des Bahnhofs erreichten.

„Ich begleite euch nach Alexandria.“

„Ob das Sembla Walera recht ist?“, wagte Yblah einzuwerfen.

Sungear sah sich um und entdeckte einen Händler, der süße Feigen und Türkischen Honig feilbot. „Und wenn nicht, was wäre dann?“, fragte er. „Wartet hier auf mich.“ Er ging zu dem Händler und begann, um eine Riesenportion der Süßigkeiten zu feilschen.

Die Jungs sahen sich auf dem Bahnhof um. So viele Menschen hatten sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Besonders die herausgeputzten Europäerinnen in ihren weiten, unbequem aussehenden Reisekleidern konnten sie gar nicht genug bestaunen.

„Warum kommen die hier her?“, wandte sich Jeremiah an Yblah und Wynfried. „Das können doch nicht alles Archäologen und ihre Familien sein.“

„Die fahren zur Kur“, sagte Sungear, der von seinem Einkauf zurückkam und einen großen Leinenbeutel voller in Wachspapier gewickelter Süßigkeiten mitbrachte. Er schob sich ein Stück Türkischen Honig in den Mund und schmatzte genussvoll, während er fast unverständlich fortfuhr: „In England gilt die Wüstenluft als gesund für Leute, denen die stickige Luft in London zusetzt. Als Heilklima für Asthmatiker, um genau zu sein.“

„Waren Sie schon einmal in London?“, fragte Yblah erstaunt.

„Habe lange dort gewohnt“, grunzte Sungear. „Will aber nie wieder zurück. Schon allein wegen der hysterischen Weiber.“

Die Jungs grinsten sich an. Welche Frau würde wohl einen Fettwanst wie Sungear an sich heranlassen? Kein Wunder, dass er Frauen für hysterisch hielt. Andererseits, so viel Erfahrung im Umgang mit dem anderen Geschlecht hatten die Jungs auch nicht. In der Akademie gab es zwar auch weibliche Novizen, aber die Jungs betrachteten sie als ihre Schwestern, so wie sie sich untereinander als Brüder verstanden. Dies hier war die erste Gelegenheit für Jeremiah und seine Freunde, junge Europäerinnen zu sehen.

Ein Mädchen ungefähr in seinem Alter fiel Jeremiah besonders auf. Sie war sehr elegant gekleidet, soweit er das überhaupt beurteilen konnte. Und sie verhielt sich wie eine Prinzessin, die sich herablässt, mit gewöhnlichen Sterblichen Umgang zu pflegen. Überraschend war, dass sie von einigen der Europäer tatsächlich sehr zuvorkommend behandelt wurde. Zu gerne hätte Jeremiah sie angesprochen, sie gefragt, wer sie ist und ob sie ebenfalls die Reise mit dem Zug antreten würde. Aber er wagte es nicht, diesen Schritt zu tun; schon um sich vor seinen beiden Freunden nicht lächerlich zu machen, denen das Mädchen ebenfalls aufgefallen war.

Auf dem Bahnhofsgelände trieben auch einige europäisch gekleidete Ägypter Handel. Sie verkauften besonders teure Andenken. Sarkophage und Mumien zum Beispiel, von denen sie Fotografien bei sich hatten. Diese Souvenirs wurden den Reisenden nach Hause nachgeschickt, so dass sie sich nicht mit dem sperrigen Gepäck abgeben mussten.

Auch Wahrsager und Verkäufer von Glücksbringern gab es. Die standen düster in den Ecken und erwarteten, dass gerade ihre schweigsame Unnahbarkeit Kunden anlockte. Zu einem dieser Männer, einem alten Araber von asketischem Aussehen, ging das Mädchen nun hin. Es ließ sich von ihm Ringe und Anhänger zeigen. Das interessierte auch Jeremiah, er schlenderte neugierig näher. Yblah und Wynfried waren beeindruckt von seinem Mut, während Sungear es gar nicht bemerkte, so sehr war er mit dem Versuch beschäftigt, seine klebrigen Hände zu säubern.

Der Händler trug seine Ware in einem kleinen Bauchladen vor sich. Das Mädchen wählte einen hübschen Ring aus, der durch helles Glänzen und einen bunten, eingefassten Edelstein von den anderen abstach. Sie schien erfahren im Umgang mit Orientalen, denn als der Händler einen Preis nannte, lachte sie und bot weniger als die Hälfte des genannten Betrags. Nach kurzem Feilschen wurden sie sich einig. Bevor sie jedoch zahlen konnte, mischte sich Jeremiah ein: „Entschuldige, aber dieser Ring ist nichts wert.“

Überrascht drehte sich das Mädchen zu ihm um und musterte ihn. „Was geht dich das an?“, fragte sie von oben herab.

„Es ist eine billige Imitation. Ein einfacher Goldring mit einem farbigen Glassplitter.“

„Und das erkennst du, ohne ihn auch nur in die Hand zu nehmen?“

Jeremiah machte eine Handbewegung über den Bauchladen des Händlers, sein Gesichtsausdruck wurde für einen Moment abwesend, dann griff er zielsicher einen unansehnlichen kleinen Anhänger heraus.

„Dritte Dynastie“, sagte er mit absoluter Gewissheit in der Stimme. „Und zwar keine Grabbeigabe sondern ein Schmuckstück, das wirklich getragen wurde. Seine magische Aura ist schwach, aber glückverheißend. Besonders für Menschen, die über keine eigenen magischen Fähigkeiten verfügen.“

Das Mädchen sah ihn erstaunt an. Dann nahm sie Jeremiah den Anhänger aus der Hand und betrachtete ihn eingehend, bevor sie seinen Tonfall imitierte: „Dritte Dynastie. Ja, das hätte ich auch gedacht. Keine Grabbeigabe, aber eine schwache magische Aura.“ Dann lachte sie laut auf: „Du hast das wirklich gut drauf. Ich werde diesen Anhänger auch noch kaufen.“

Sie verhandelte noch einmal mit dem Ägypter, bekam umsonst noch eine hübsche Goldkette dazu und ging dann langsam weiter, während sie den Anhänger genauer betrachtete: „Ich werde ihn Daddy nicht zeigen. Er ärgert sich über magischen Firlefanz.“

„Fährst du auch mit dem Zug nach Alexandria?“

„Das ist keine sehr schlaue Frage: Es gibt nur diese eine Zugverbindung.“

„Dann müssen wir uns beeilen“, sagte Jeremiah und zeigte zum Zug, wo die Europäer inzwischen einstiegen. „Sonst fährt er ohne uns.“

„Nein, das wird er ganz gewiss nicht. Aber du hast recht, es ist Zeit zum Einsteigen.“ Ohne sich zu verabschieden, ging das Mädchen davon.

„Wie heißt du?“, rief Jeremiah ihr nach.

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Angelica. Wir sehen uns im Zug.“ Dann ging sie weiter und verschwand in einer Gruppe von Reisenden.

Jeremiah kehrte zurück zu Yblah und Wynfried, die spöttische Bemerkungen machten.

„Ihr seid ja nur neidisch, weil ich mit ihr gesprochen habe“, wehrte sich Jeremiah.

Sie machten sich auf die Suche nach ihrem Waggon. Der Schaffner und ein Vertreter der Eisenbahngesellschaft begrüßten jeden Fahrgast persönlich, denn eine Erste-Klasse-Fahrkarte kostete für ägyptische Verhältnisse ein Vermögen. Wer sich das leistete, erwartete auch besondere Behandlung.

Sungear zog die Billetts aus den Tiefen seines Kaftans und zeigte sie dem Kontrolleur, der erst in einer Liste nachsah, bevor er seine Mütze zog und sagte: „Mister Sungear und Begleitung. Willkommen. Sie haben Abteil vier. Wo ist Ihr Gepäck, wenn ich fragen darf?“

Jeremiah drehte sich suchend um und zeigte dann auf einen einheimischen Gepäckträger, der am Rande der Menge neben mehreren Reisetaschen stand und wartete.

„Sehr gut“, sagte der Schaffner. „Sie können das Abteil gleich beziehen. Wir werden in einer Stunde abfahren.“

„Eine Stunde?“, grunzte Sungear. „Wir sollten eigentlich längst unterwegs sein. Wir müssen in Alexandria auf den Dampfer nach Nordfrankreich umsteigen und haben vorher noch etwas zu erledigen.“

„Der Dampfer wird nicht vor der Ankunft des Zuges auslaufen“, versicherte der Kontrolleur.

„Warum sind Sie da so sicher?“, wollte Jeremiah wissen.

„Der Besitzer der Eisenbahnlinie, Mister Cyros, fährt heute mit uns. Und da er auch Besitzer der Schifffahrtsgesellschaft ist, wird der Dampfer warten, egal wie lange es dauert“, antwortete der Kontrolleur. „Außerdem hat auch Mister Cyros in Alexandria noch Geschäftstermine, wie er uns hat mitteilen lassen. Sie brauchen sich also keine Sorgen wegen Ihrer Schiffsverbindung zu machen, im Gegenteil. Sie werden vor Ihrer Weiterreise einen halben Tag Aufenthalt in Alexandria haben.“

Bei der Erwähnung des Namens Cyros bekam Sungear ganz schmale Augen. Er sah sich um, als würde er gleich das schlimmste Unglück erwarten. „Folgt mir!“, sagte er dann zu den Jungs und schwang sich in den Waggon, als ginge es in eine Schlacht.

Jeremiah erinnerte sich an das, was er in den Schulungen der letzten Tage über europäische Umgangsformen erlernt hatte. Er steckte dem Kontrolleur ein Trinkgeld zu. Der nahm es dankend an und verstand es als Aufforderung, ein wenig zu plaudern, während sie zusahen, wie der Gepäckträger die Reisetaschen in den Wagen brachte: „Tja, Mister Cyros wird heute wieder einmal mit seiner eigenen Zuglinie reisen. Er war in Kairo, um mit dem Khediven und dem englischen Generalkonsul den weiteren Ausbau des Eisenbahnnetzes zu besprechen. Anschließend ist er in diese abgelegene Gegend hier gekommen, um die Möglichkeiten für den Bau eines Kraftwerks zu erkunden. Er will hier Dampf und elektrische Energie erzeugen.“

„Ein Kraftwerk am Rand der Wüste?“, wunderte sich Jeremiah.

„Verrückt, nicht wahr? Aber hier in Ägypten spinnen alle in Bisschen, wenn Sie mich fragen“, fügte der Kontrolleur vertraulich hinzu. „Vor allem die Touristen. Könnten sich Reisen in die schönsten Weltgegenden erlauben, und wofür geben sie ihr Geld aus? Um unter allerlei Strapazen in die Wüste zu fahren und ein paar Steine zu besichtigen, die vor vielen tausend Jahren vielleicht Teil einer öffentlichen Bedürfnisanstalt waren.“ Er lachte, hörte aber abrupt auf, als er sah, dass er Jeremiahs Art von Humor nicht getroffen hatte.

Jeremiah bedankte sich für die Informationen und stieg in den Waggon. Wynfried und Yblah folgten, wobei Yblah als Schwarzer einen misstrauischen Blick des Kontrolleurs abbekam. Als Diener war man Schwarze gewohnt, aber als gleichberechtigte Reisebegleiter eines Europäers noch nicht.

Sannall der Erneuerer

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