Читать книгу Herbststimmung - Manfred Renn - Страница 7
ОглавлениеVorwort
Mit 73 Jahren stehe ich bereits tief im Herbst meines Lebens. Und so wie die Natur uns in der dritten Jahreszeit neben goldenen Sonnenstunden auch triste Tage im sich nicht mehr lichtenden Nebel beschert, so zeigt sich mein vergleichbarer Lebensabschnitt ebenfalls von zwei unterschiedlichen Seiten. Zwar kann ich mich berechtigt des Lebens freuen, weil in mir immer noch das Lämpchen glüht, bisweilen sogar recht kräftig. Dennoch sind für mich die wilden Jahre vorüber, und mehr und mehr machen sich die Beschwerden des Alters bemerkbar. Deshalb brauche ich auch die große Welt nicht mehr, um meinen inzwischen bescheidenen Erlebnishunger zu stillen, scheint es mir doch oft, als würde die Welt um mich herum zunehmend kleiner und enger. Zudem schränkt seit dem Sommer 2019 der Gesundheitszustand meines Lebenspartners unsere Möglichkeiten zur gemeinsamen Freizeitgestaltung ganz erheblich ein. Diese Einsichten sind für mich zwar kein Anlass, in Resignation zu verfallen oder mit dem Schicksal zu hadern. Allerdings bekommen jetzt auch in meinem engeren Bekanntenkreis die Themen Krankheit und Tod immer größere Bedeutung. Allein im Jahr 2020 verstarben zwei meiner Freunde vom Stammtisch. Vor gut zwei Jahren nahm ich in meinem Heimatort am Begräbnis einer Jugendfreundin teil. Ich hatte es früher immer besonders genossen, von ihr am Bankschalter in ihrer fröhlichen Art bedient zu werden und mich in ein Schwätzlê einzulassen. Ein Jahr zuvor schon hatte ich den überraschenden Tod meines Mentors aus der Jugendzeit erlebt. Seine Sinne hatten ihn gegen das Ende zu mehr und mehr im Stich gelassen. Dabei hätte er mit seinen mühsam gesammelten Fotografien aus alten Tagen und mit authentischen Texten zur guten alten Zeit seinen beachtlichen Publikationen noch weitere hinzufügen können. Auch eine ausführliche Lebensbeschreibung mit weit zurück reichenden Erinnerungen und mit Schilderungen seiner verdienstvollen Arbeit als Entwicklungshelfer in Sambia hat er als Manuskript zurücklassen müssen.
Sein Tod hat mir ein weiteres Mal unsere Vergänglichkeit und relative Bedeutungslosigkeit im großen Zeitenlauf bewusst gemacht und mich daran erinnert, dass es nun meiner Generation bestimmt ist, sich so nach und nach von diesem irdischen Getriebe zurückzuziehen und irgendwann der Welt Adieu zu sagen. Zudem hat mir dieser Tod vor Augen geführt, wie sinnlos doch oft unser Hang zum Sammeln und Anhäufen von vermeintlich wichtigen Gütern und Schätzen ist. Es stimmt mich deshalb nachdenklich, wenn ich etwa in meine übervollen Bücherregale schaue oder an die umfangreichen Sammlungen von Fotos, Videos und für wichtig erachteten Textdokumente denke, die ich auf unterschiedlichen Datenträgern gesichert oder in Ordnern und Alben verwahrt halte. Das alles wird nämlich in nicht allzu ferner Zeit vermutlich achtlos irgendwelchen Containern auf Wertstoffhöfen übergeben, oder es verbleibt nutzlos und für niemanden mehr erreichbar in irgendwelchen Clouds.
Diese Überlegungen und Erfahrungen haben mich nun bewogen, die bereits vor vielen Jahren begonnenen Aufzeichnungen meiner Lebensgeschichte zügig zu einem Abschluss zu bringen und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Mir war es immer sehr wichtig, meine Erinnerungen und Gedanken schonungslos offen, ehrlich und ohne Tabus niederzuschreiben. Damit erlaube ich den Leserinnen und Lesern ungewöhnlich tiefe Einblicke in meine Gefühlswelt und Intimsphäre. Dies darf jedoch nur für mich selbst, nicht für die anderen erwähnten Personen gelten, deren Namen ich deshalb auch meist etwas verfremdet wiedergebe.
Sprachlich lehne ich mich gerne an die stark regional oder lokal geprägten Themen an. Deshalb lasse ich auch vielfach mundartliche und umgangssprachliche Wörter und Wendungen – oft als Zitate – in die Texte einfließen. Sie sind jedoch im jeweiligen Zusammenhang sicherlich auch für anderswo beheimatete Menschen verständlich.
Der Inhalt basiert außer auf meinem guten Erinnerungsvermögen auch auf Aufzeichnungen, die ich in den letzten Jahrzehnten mit ganz unterschiedlicher Intention verfasst hatte. Sie versuche ich hier sinnvoll zusammenzufügen und in einen verbindenden Rahmen zu stellen. Dabei spreche ich möglichst alles an, was mich in der Vergangenheit wesentlich beschäftigt und geprägt hat, sowie alles, was mich derzeit berührt und umtreibt. Außer schönen Erlebnissen und Begebenheiten sind dies Probleme, Ängste und seelische Niederlagen, die mich oft belastet haben. Und neben privaten und intimen Angelegenheiten nehmen auch meine Beziehungen zum gesellschaftlichen Umfeld einen breiten Raum ein.
Die thematische Gliederung erlaubt mir, die einzelnen Aspekte meiner Lebensgeschichte jeweils aus zeitlich unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. In einer resümierenden Rückschau auf mein Leben aus heutiger Sicht gebe ich auch deutlich zu erkennen, wie ich die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen wahrnehme und bewerte.
Ich hoffe, mit diesem autobiografischen Mosaik ein wahrhaftiges Bild von meiner Person mit all ihren Konstanten und Widersprüchen zu vermitteln sowie nüchtern und realistisch meine Lebensumstände aufzuzeigen, von der frühen Kindheit, als die D-Mark gerade das Wirtschaftswunder angestoßen hatte, bis zum Jahresbeginn 2021, als sich die ganze Menschheit von der wieder aufgeflammten Corona-Pandemie vor große Herausforderungen gestellt sah.
Auch wenn diese Lebensgeschichte eines Allgäuers keine Sensationen enthält, sprengt sie vielleicht doch in mancherlei Hinsicht den Rahmen des ganz Gewöhnlichen.
Mein Geburtshaus, um 1920