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Elternhaus und Kindheit

Haben alte Häuser wirklich eine Seele?

Zwar kann ich voll und ganz die Beweggründe des mittelschwäbischen Mundartdichters Poldl Schuhwerk nachvollziehen, der in seinem Gedicht Alta Häuser hand a Seal den ganz besonderen Geist beschrieb, dem man in alten Häusern begegnen kann, wenn man sich respektvoll der früheren Bewohner erinnert und die elementaren Begebenheiten bedenkt, die sich in diesen Häusern ereignet haben, vom Wochenbett bis zum Sterbebett.

Einen solch emotionalen Bezug zum Haus meiner Kindheit und Jugend kann ich für mich jedoch nicht erkennen. In meiner Erinnerung tauchen auch nicht annähernd solche Heimathäuser auf, wie sie in romantischen Volksliedern besungen werden, die irgendwo im schönsten Wiesengrunde oder zwischen blauen Bergen und grünen Tälern stehen, in denen man sich einst geborgen fühlte und zu denen man sich zurücksehnt. Und es stand auch nie eine Linde vor meinem Vaterhaus. Denn wesentlich nüchterner und zwiespältiger sind meine Erinnerungen an mein Geburtshaus.

Es bestand aus einem Koloss von Wohnhaus mit Gastwirtschaft mitten im damals noch recht verschlafenen Dorf. Hausnummer 10 genügte als Anschrift, denn Straßennamen gab es noch nicht. Für eine spärliche nächtliche Beleuchtung in der Ortsmitte sorgten einzig zwei einfache Straßenlampen, deren Schalter täglich in unserem Haus zu betätigen war. Ausgestattet war das Gebäude mit drei Gasträumen im Hochparterre und einem großen Saal im Obergeschoss. Der Kirche direkt gegenüber gelegen, bildete dieses Wirtshaus das gesellschaftliche Zentrum der weit verzweigten Gemeinde, denn hier fanden fast alle wichtigen Ereignisse statt. Da trafen sich am Sonntag nach dem Amt die Männer und nur wenige Frauen aus der ganzen Pfarrgemeinde. Und weil die alten Männer fast alle billige Stumpen oder Virginia rauchten, stand die Gaststube dann immer voller dichtem Rauch. Mir tränten deshalb regelmäßig die Augen, wenn ich als Buâ hinter der Theke beim Einschenken helfen musste. In diesem Haus wurden auch Hochzeiten gefeiert, und man traf sich hier nach einer Liich (Beerdigung) zum Opfêr, wie man bei uns den meist bescheidenen Leichenschmaus nannte. Auch die verschiedenen Vereine veranstalteten hier ihre Fasnachtsbälle, wobei man auf einen ziemlich ausgetretenen Tanzboden angewiesen war. Beim alljährlichen Kafé-Kränzlê galt immer bis 22.00 Uhr Damenwahl. Dies bot einmal meiner Cousine die Gelegenheit, mich als noch deutlich Minderjährigen zum Tanz aufzufordern, was dann bei mir eine langjährige Leidenschaft ausgelöst hat.

In diesem Saal traten vor Wahlen auch Landräte und Abgeordnete (fast nur CSU-ler) auf und erläuterten sehr braven Zuhörern ihre politischen Ziele. Einzig der Dorf-Philosoph Rudi Bach aus dem Filialdorf Hopfen brachte regelmäßig eine gewisse Würze in die anschließenden Diskussionen, wobei er nie mit Zitaten von Goethe, Schiller und Nietzsche geizte, die allerdings nur selten den Zusammenhang erkennen ließen mit den zuvor abgegebenen politischen Statements. Ich erinnere mich auch, dass ein Staatsminister, der als Münchner gleichzeitig mehrere Legislaturperioden als Direktkandidat den Kreis Lindau im Landtag vertrat, bei jedem Auftritt stets dankbare Lacher auf seiner Seite hatte, wenn er den Spruch zitierte, den seine Frau angeblich über sein Bett gehängt hatte: Hier ruhte mein Mann, bevor er in die Politik ging.

Und an dieses große und hohe Gasthaus zum Rössle, das damals schon innen wie außen eine Auffrischung ertragen hätte, war noch ein ausgesprochen hässlicher landwirtschaftlicher Gebäudeteil angebaut, ein riesiger, mit einem buckligen Blechdach gedeckter Flachbau, den man einfach Stadel nannte. Und so unansehnlich dieser Stadel auch war, so sah man es doch in meiner Familie kollektiv als ganz wichtige Verpflichtung an, streng darauf zu achten, dass darin ja nicht eines Tages ein Brand ausbrechen dürfe, was wegen des riesigen Blechdaches unabsehbare Folgen für das ganze Dorf gehabt hätte. Meine Großmama war deshalb auch immer auf der Hut, dass am späten Abend, wenn ein letzter Kontrollgang im Stall erledigt war, der elektrische Hauptschalter für diesen Stadel abgeschaltet wurde.

Bis in die frühen 50-er Jahre hinein gab es innerhalb des großen Gast- und Wohnhauses weder Toilette noch Bad. Zur gründlichen und ungestörten Ganzkörper-Reinigung bot sich ausschließlich die Waschküche im Keller an, wo man immer erst den Wasserkessel anheizen und das Fenster zur Straße mit einer Decke zuhängen musste. Von dieser ziemlich aufwändigen Bademöglichkeit wurde aber bei uns eher sparsam Gebrauch gemacht, die Zeitangabe wöchentlich wäre jedenfalls weit übertrieben. Für die alltäglichen Bedürfnisse ganz anderer Art waren die ganze Familie, einschließlich Magd und Knecht, ebenso die eingemieteten Flüchtlingsfamilien sowie alle Wirtshausgäste auf primitive Aborte angewiesen, die auf zwei Ebenen jeweils jenseits der Brandmauer in einem schmalen Verbindungsbau zum Stadel eingerichtet waren. Oben gab es zwei abschließbare Örtchen, in denen einfach ein rundes Loch in einem breiten Brett die Möglichkeit bot, sitzend sein Geschäft zu verrichten. Im unteren Bereich, im Schopf, befand sich jenes Loch genau zwischen den von oben herunter führenden Holzschächten. Die menschlichen Hinterlassenschaften landeten direkt darunter im inneren Lachêloo (Jauchegrube). Wie früher allgemein so üblich, hing auch hier an einem Nagel Zeitungspapier, das zu kleinen Blättern zugeschnitten war. Auf beiden Ebenen war an einer Wand jeweils noch eine stinkende, schwarz lackierte Blechrinne befestigt, an der die Männer stehend ihre einfache Notdurft verrichten konnten. Man kann nur halbwegs erahnen, wie viel in Männerkörpern umgesetztes Bier im Laufe der Jahre über diese Rinnen gelaufen sein mag.

Im Frühjahr 1954 wurden dann im Zuge eines größeren Umbaus wenigstens richtige Toiletten mit Wasserspülung innerhalb des Wohnhauses eingerichtet, auf ein Bad musste die Familie aber noch weitere Jahre warten. Zugunsten dieser Toiletten wurde die Speis geopfert und die Küche aus dem kåltê Loo in der Nordwestecke des Hauses in einen anderen Raum verlagert, der den großen Vorteil eines direkten Zugangs zur Schenk der großen Gaststube bot. Ein großes Fenster nach Westen gab den Blick frei auf den fast direkt darunter liegenden Misthaufen, weshalb im Sommerhalbjahr dichte Mückengitter unerlässlich waren. Von recht bescheidener Größe war diese neue Küche, in der ein neu eingebauter Gastronomieherd (Marke Wamsler) einen beträchtlichen Teil der Fläche einnahm. Diese Küche fungierte für die Familie und den Knecht zusätzlich als Wohnraum, wo wir nach dem Nachtessen oft Karten spielten, vornehmlich Schnauz oder Sechsundsechzig; das Spiel Geiggêlê hatte damals bereits seinen Reiz verloren. In dieser Küche musste aber bei Bedarf auch das Essen für die Gäste zubereitet werden, wobei nicht selten im Saal Hochzeitsgesellschaften von 100 und mehr Personen zu versorgen waren. Das Standardessen bestand dann aus einer kräftigen Suppe (Leber- und Brätknödel mit Bachspätzlê) und einem gemischten Braten von Schwein und Kalb. Ich staune im Nachhinein, wie meine Mutter zusammen mit der flinken und geschickten Kathi und nur wenigen weiteren Helferinnen diese Herausforderungen immer souverän bewältigt hat. Ich selbst hielt mich bei diesen Gelegenheiten auch immer sehr gerne in der Küche auf, half mit, so gut es ging, und beobachtete interessiert dieses geschäftige Treiben. Und dann und wann äußerte ich vorsichtig den Wunsch, auch so ein Schnitzel abzubekommen, und sei es auch nur ein ganz kleines. Meist wurde ich jedoch vertröstet mit dem Hinweis, dass ich erst abwarten müsse, was ma no i d’ Stubê brûûcht. Die Gäste waren immer wichtiger als die Familie.

Außer in der Küche fühlte ich mich auch im Kreis des ausschließlich weiblichen Bedienungspersonals besonders wohl. Ein echter Höhepunkt war für mich immer, wenn sich nach einer Großveranstaltung am nächsten Nachmittag die Kellarna wieder trafen, um die Gläser zu spülen und im Saal und in den anderen Gaststuben aufzuräumen. Was es dabei alles zu besprechen gab, war für mich keineswegs uninteressant. Zum krönenden Abschluss saß man danach immer noch zusammen bei dünnem Pfefferminz-Tee und Zopfbrot mit Butter und Marmelade. Eine von diesen Bedienungen, d' Mári, oder passender zu ihrer Körpergröße 's Márilê, hatte es mir besonders angetan. Sie bediente auch oft an Sonntagen nach dem Amt. Dann half ich immer besonders gerne hinter der Schenk. Was konnte es denn Schöneres geben, als diesem Márilê zuzuhören, wenn sie beispielsweise von einer Reise nach Italien erzählte, oder ihr einfach zuzuschauen, wie sie geschickt und immer fröhlich lachend die Gäste bediente? Ich himmelte sie geradezu an, und einmal soll ich mich gar zu der kindlichen Aussage verstiegen haben, dass ich, wenn ich einmal groß sei, dieses Márilê heiraten wolle. Noch so manches Mal wurde später dieses naiv-liebenswerte Angebot zitiert und mit Schmunzeln quittiert. Ledig wäre diese Perle von Mensch damals ja noch gewesen, und das war sie auch noch, als sie viele Jahre später von der heimtückischen Kinderlähmung infiziert wurde, die sie nicht überlebte.

Hinter der langen Anrichte trennte ein bis zur Decke reichender Einbauschrank die neue Küche vom Schlafzimmer der Eltern, und dieser Schrank wurde von beiden Räumen anteilig genutzt. In diesem Schlafzimmer war ich im Februar 1948 zur Welt gekommen, und dort starb im Juni 1958 auch mein Vater. Ich erinnere mich noch, dass ich damals am frühen Vormittag aus der Schule abgeholt wurde. Auf diese Weise habe ich noch der letzten halben Stunde im Leben meines Vaters beigewohnt. Dann hat man das Schlafzimmer ausgeräumt, weil man den Verstorbenen in der Ecke im offenen Sarg aufbahren musste. Obwohl ich die Situation am Sterbebett ziemlich gefasst ertragen hatte, traute ich mich danach nicht mehr allein in das Zimmer mit dem Toten. Ich erinnere mich auch, dass mir damals nicht so recht einleuchten wollte, warum man den Leichnam noch waschen musste, was der hilfreiche Nachbar Josef M. erledigte, und warum so auffällig viel über dieses d’ Liich wäschê geredet wurde. Drei Tage später hat man dann, begleitet von der Musikkapelle, von allerlei Fahnenabordnungen und von einem großen Trauerzug, den Sarg in den nahe gelegenen Friedhof getragen und ins Grab abgelassen. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich dabei nicht geweint habe. Bei dieser Gelegenheit musste ich auch erkennen, dass mein eigenes Bild von meinem alkoholkranken Vater damals ganz und gar nicht mit dem übereinstimmte, was ich in jenen Tagen in Nachrufen und privaten Äußerungen an ernst gemeinter positiver Wertschätzung über ihn zu hören bekam.

Gut fünf Jahre später habe ich in diesem Haus auch den Tod meiner Großmama erlebt. Ich schlief zu der Zeit noch in einem mit ihrem Schlafzimmer verbundenen Raum. Sie hatte mich um halb fünf Uhr in der Frühe noch zur Stallarbeit geweckt, und als ich danach wieder zu ihr ins Zimmer kam, fand ich sie in ihrem Bett, bereits nicht mehr ansprechbar und ganz unregelmäßig atmend. Man holte noch die zwei im Dorf lebenden Töchter der Großmutter und den Herrn Dekan zum Vêrsäâ mit der Letzten Ölung, dann schlief sie ziemlich friedlich ein. Als besonders peinlich empfanden manche der Anwesenden die Tatsache, dass meine Schwester bei diesem Ereignis schon nicht mehr verbergen konnte, a ledigs Kind zu erwarten. So a Schand, meinte meine Mutter mehrfach.

Zweifellos habe ich als Kind in diesem Häuserkomplex auch richtig glückliche Momente erlebt. In besonders angenehmer Erinnerung blieb bei mir das Bregenzer Stüble, denn in diesem Raum kam jedes Jahr das Christkindle, ein Ereignis, das damals bei uns zwar nie mit großen Geschenken verbunden war, wohl aber mit dem Singen von Liedern, was ich sehr genossen habe. Dieser Brauch wurde dann allerdings nach Vaters Tod zu meinem Bedauern aufgegeben.

Daneben boten sich mir in diesem Haus auch sehr interessante und lehrreiche Stunden, wenn ich als kluinar Buâ oft in der Gaststube an einem Nebentisch sitzen durfte und mir interessiert anhörte, was sich die Männer am Stammtisch alles zu erzählen hatten. Es ging dabei in den 50-er Jahren noch sehr oft um die Erlebnisse im Krieg und in der Gefangenschaft – schließlich fehlte mindestens dreien der Stammgäste als böse Erinnerung daran ein Arm. Zwei von diesen Einarmigen fielen auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer noch dadurch auf, dass sie beim Kartenspielen auf eine hohe Virginia-Schachtel angewiesen waren, die mit einem Stück Eisen beschwert wurde. Sie steckten die Karten in einen Öffnungsschlitz der Schachtel und bedienten sich dann davon. Gesprächsstoff bot in dieser Wirtshausstube aber auch oft der Umsturz von 1945 mit dem Iruckê der in französischen Diensten stehenden Marokkaner, was ich anfangs immer mit Amerikaner verwechselt hatte. Als nämlich diese sich von der südwestlichen Anhöhe dem Dorf genähert hätten, soll gerade ein Bauer beerdigt worden sein. Die Trauergemeinde auf dem Friedhof habe deshalb befürchtet, dass sich diese fremden Soldaten über das von meiner Mutter für das anschließende Opfêr vorbereitete Essen her machen würden, wofür sicher eine Sau schwarz geschlachtet worden war. Möglicherweise hätte sich die Befürchtung auch bewahrheitet, wenn da eine christliche Einheit einmarschiert wäre. Viel geredet wurde in der Gaststube auch immer über das anschließende Errichten der amerikanisch-französischen Zonengrenze mitten durch die Pfarr- und Schulgemeinde. Und meine Mutter verwies häufig auf die schlechten Nachkriegsjahre, auf d’ R-Mark-Zit, als man sich kaum mehr was kaufen konnte und sich weitgehend auf das Tauschen verlegt hatte, was ihr als Wirtin das Auskommen besonders schwer gemacht hat. Und welch eine Erlösung die Einführung der D-Mark gewesen sei, kam auch oft zur Sprache.

So manchen Gesprächsstoff boten natürlich auch die nach 1945 in der Gemeinde untergebrachten Flichtling, die man nie Vertriebene nannte, was ja ihr Schicksal zutreffender beschrieben hätte. Was ich in den 50-er Jahren noch über diese bereits integrierten Mitbürger in der Gastube vernehmen konnte, klang keineswegs immer schmeichelhaft. Des Öfteren erinnerte man sich aber auch an jenen Mai-Abend bei Kriegsende, als eine Gruppe von Vertriebenen, darunter eine danach bei uns einquartierte Familie aus dem Egerland, auf einem Lastfahrzeug antransportiert wurde, was bei den Einheimischen nicht nur Mitleid und spontane Hilfsbereitschaft ausgelöst habe. Eine ältere Frau, die gerade auf dem Weg zur Mai-Andacht gewesen sei, habe sich bei diesem Anblick sogar deutlich vernehmbar zu einer bösen Vermutung hinreißen lassen, welche ich später von meiner Mutter mehrfach folgendermaßen zitiert vernahm: Mein Gott, was werêt doch âû des fiâr Litt si, wo alls als it schaffê megêt.

Vermutlich nur im kleineren Gästekreis und eher zurückhaltend kam manchmal die Rede auf eine eher heikle Geschichte, auf das Zusammenleben und den Umgang mit den G’fangênê, hauptsächlich Polen, die in den Kriegsjahren bei verschiedenen Bauern zwangsverpflichtet arbeiteten. Manche Bauernfamilien seien, so konnte ich vernehmen, mit ihren Polen sehr gut gefahren, hätten diese aber auch anständig behandelt. Von meiner Mutter hörte ich in diesem Zusammenhang einige Male, sie sei von einem der zwei Ortsgruppenleiter mehrmals eindringlich verwarnt worden, weil sie diesen Männern erlaubt habe, sich am Sonntag nach dem Amt in unserem Schopf zu treffen und weil sie ihnen dann und wann sogar Bier ausgeschenkt habe. Nicht unerwähnt blieb am Stammtisch auch, dass dieser Ortsgruppenleiter – ich erlebte ihn in den späten 50-er Jahren als ziemlich unauffälligen Mitbürger – nach dem Umsturz von einigen Fremdarbeitern aufgesucht worden sei, nicht nur zu einem klärenden Gespräch. Zur Sprache kam aber auch, dass es einigen weniger eifrigen Parteimitgliedern später zum Vorteil gereicht habe, wenn sie vor der Entnazifizierungskommission eine anständige Behandlung ihrer Gefangenen nachweisen konnten. Ich meine, dass ich damals bereits eine gewisse Genugtuung empfand, wenn ich aus den Erzählungen heraus hören konnte, dass die in der NS-Zeit von oben angeordneten Gegensätze zwischen Freund und Feind, zwischen Volksgenossen und (slawischen) Untermenschen, sich im Kriegsalltag auf dem Land doch ziemlich verwischten. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass ich während meiner Kindheit und Jugendzeit weder in der Gaststätte noch sonst wo in der Gemeinde je auch nur andeutungsweise etwas über die Geschichte des jüdischen Mädchens Leni erfahren habe, deren Schicksal erst Jahrzehnte später publik und sogar verfilmt wurde. Dabei habe ich die Familie, bei der diese Leni bis zu ihrem Abtransport in ein Vernichtungslager gelebt hatte, ziemlich gut gekannt.

All diese Informationen, welche ich in dieser Gaststube aufschnappte und irgendwie speicherte, bedeuteten für mich natürlich auch einen deutlichen Wissensvorsprung gegenüber meinen Altersgenossen. Aber nicht alles, was ich da zu hören bekam, konnte ich wirklich ganz verarbeiten. So erinnere ich mich heute noch gut an ein menschliches Unikum namens Ulrich, den die russische Gefangenschaft vermutlich besonders stark mitgenommen und geprägt hatte. Er war Doolê-Gräbar, war also tagsüber damit beschäftigt, in nassen Wiesen Gräben auszuheben und Sickerrohre zu verlegen. Gegen Abend kam er dann oft mit am dreckêtê Häß und mit Lehm verschmierten Lederstiefeln in die Gaststube, wo er regelmäßig auf ausgebreitetem Zeitungspapier an einem separaten Tisch saß. Von dort redete er meist deutlich hörbar mit sich selbst, manchmal auch überlaut wirres Zeug in Richtung Stammtisch, ohne jedoch von dort wirklich eine Reaktion zu erwarten. Von ihm fielen immer wieder zwei Ausdrücke: Iwan und Nixbollomai. Ersteres deutete ich wohl damals schon als Umschreibung für Russe, letzteres konnte ich jedoch erst Jahrzehnte später mit der russischen Verbform ne ponumaju in Verbindung bringen, was ja schlicht und einfach bedeutet ich verstehe nicht.

Die häufige Anwesenheit in den Gasträumen und das aufmerksame Beobachten der Wirtshausgäste waren für mich, den kleinen Bub, nicht nur lehrreich, sondern boten mir auch schon sehr früh tiefe Einblicke in die unschönen, ja abstoßenden Seiten der ländlichen Gastronomie und in manche mit dem Alkoholkonsum verbundenen menschlichen Abgründe. So bekam ich schon sehr früh mit, welche von den Männern, die im Alltag durchaus als rechtschaffen galten, unter stärkerem Alkoholeinfluss ihre negativen Seiten nach außen kehrten. Manche wollten beispielsweise beim Bezahlen nicht zu der von ihnen konsumierten Menge stehen und ließen es dann gegenüber dem Bedienungspersonal arg an Anstand missen. Andere machte der Alkohol gelegentlich streit- und raufsüchtig, wobei sie dann oft problemlos ein kampfbereites Gegenüber fanden. Es gehört wohl zu den unangenehmsten Pflichten von Wirtsleuten, in solchen Fällen besonnen aber klar durchzugreifen. Manchmal musste ich aber auch erleben, dass der Alkohol durchaus gestandene und allseits geachtete Mannsbilder zu erbärmlich hilflosen Wesen mutieren ließ. Und einmal wurde ich sogar Augenzeuge, als der voll betrunkene ledige Bäcker aus der Nachbarschaft nach einer Veranstaltung von einigen jungen Männern heim geschleppt und dann vor seinem Haus einfach achtlos auf einem Haufen Daas abgelegt wurde. Später hat man den hilflosen Kerl dann doch noch in sein Bett gebracht, von dem er aber nie mehr aufstand.

Für die späteren Jahre verbinde ich mein riesiges Elternhaus eher mit Angst und Gruseln. Zunächst war da immer die Furcht präsent, dass sich in den vielen Kellern und in den oberen Räumen jemand in böser Absicht versteckt haben könnte. Deshalb empfand ich es auch immer als besonders schlimm, wenn ich abends noch geschickt wurde, um aus den Bierkellern Getränke zu holen. Da konnte ich, eine Kiste vor mir am Bauch tragend, gar nicht schnell genug die ausgetretene und meist ein wenig feuchte Steintreppe hoch rennen, immer in dem Gefühl, es verfolge mich jemand. Nicht wesentlich wohler fühlte ich mich im zweiten Stock, wo eine früher von einer Flüchtlingsfamilie aus Schlesien bewohnte Wohnung leer stand und die übrigen Kammern gefüllt waren mit alten Möbeln, mit Pferdegeschirr, mit Kuhglocken und -schellen sowie mit weiteren Gegenständen, deren Gebrauchswert ich gar nicht mehr richtig erkannte, beispielsweise von alten Schmalztöpfen und Steinkrügen mit eingravierten unbekannten Namen. Ein Raum war immer abgesperrt und für mich tabu; dort hingen nämlich die ziemlich wertvollen Fahnen der örtlichen Vereine. Und noch ein Stockwerk höher, im riesigen Dachboden, lagerten die alten Bühnenkulissen der nicht mehr aktiven Theatergemeinde. All das hatte etwas Unheimliches, fast Gespenstisches an sich. Daran fühlte ich mich sehr viel später bei der Lektüre von Fontanes Roman Effi Briest wieder erinnert, in dem geheimnisvoll beschrieben ist, wie im Obergeschoss des Landratshauses in Hinterpommern die vom Wind bewegten Vorhänge Effi zur Warnung unheimliche Geräusche verursachten.

Ursachen für schwere und immer wiederkehrende Angstzustände boten sich mir auch im landwirtschaftlichen Gebäudeteil, etwa bei Arbeiten am offenen Lachêloo, weil mir die dabei lauernden Gefahrenmomente genau bewusst waren. Ähnlich schlimme Situationen erlebte ich auch immer während der zwei Erntezeiten, im Hêibat und Åmädat, wenn man im Tennê zum Abladen und Verstauen von Heu in der Hêischindê ein Heugebläse in Gang setzte, ein brandgefährliches Ding. Denn dabei war es nötig, das Heu dosiert vom Fuder herunter direkt in einen Blech-Trichter zu werfen, von wo es ein Ungetüm von Propeller ansaugte und dann über Blechrohre in die Höhe und weiter in die Schindê blies. Ich hatte als Bub immer die Aufgabe, auf einem Balken stehend den Verteiler am Rohrausgang so zu betätigen, dass das Heu möglichst gleichmäßig die Schindê füllte. Wesentlich mehr als dieser Auftrag beschäftigte mich aber immer die tief sitzende Befürchtung, es könnte da unten eine Person vom Fuder in den Trichter fallen und dann vom Propeller unweigerlich zerstückelt werden. Wie solch ein Super-Gau abgelaufen wäre, ließ sich erahnen, als einmal unversehens eine Heugabel diesen Weg genommen hat, was einen ohrenbetäubenden Lärm verursachte. Die arg zerkleinerten Eisen- und Holzteile dieses Werkzeuges tauchten erst im Laufe des folgenden Winters nach und nach beim Herrichten des Futters wieder auf.

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Ja, und dann geschah es eines Abends, dass meine Großmutter, als sie ins Bett gehen wollte, im Obergeschoss einen penetranten Brandgeruch wahrnahm und sofort uns übrige Hausbewohner in höchsten Aufruhr versetzte. Wir konnten aber zunächst die Ursache und den Ausgangspunkt für dieses Bränggêlê nicht ausfindig machen, bis wir schließlich fündig wurden in der Knecht-Kammer, welche sich jenseits der Brandmauer gleich neben dem Strêibê-Stock befand. Dort hatte unser Knecht eine brennende Zigarette vergessen, die dann auf seine Stallhose gefallen war und diese vorerst nur zum Glimmen gebracht hatte. Das große Unglück konnte also noch abgewendet werden, welches Trauma dieser Vorfall aber bei mir ausgelöst hat, habe ich schon vor vielen Jahren in einem Text festgehalten:

Die Sache war noch gut abgegangen und war auch – so vermute ich – für die anderen in unserem Haus bald vergessen. Nicht jedoch für mich. In mir hat sie tiefe Spuren hinterlassen. Für bestimmt mehr als ein Jahr lebte ich in ständiger Angst vor dem Brennê. Permanent befand ich mich in Erwartung der großen Katastrophe. Allabendlich vor dem Ins-Bett-Gehen musste ich noch einen Blick in den Stadel werfen, um mich zu vergewissern, dass – zumindest noch – alles in Ordnung sei. Und auch noch im Bett – ich schlief damals bei Großmama im Zimmer –, wenn die Vaterunser für alle denkbaren Anliegen gebetet waren, ließ es mir oft noch keine Ruhe, so dass ich nochmals aufstand und ein weiteres Mal durch das Fenster den Stadel beobachten musste, um einigermaßen sicher zu sein, dass keine verdächtige Hillê wahrnehmbar sei.

Was man über Brandverhütung oder Brandbekämpfung in Erfahrung bringen konnte, eignete ich mir damals an: die richtige Beschaffenheit von Brandmauern und deren Türen, die Widerstandsfähigkeit verschiedenartiger Stalldecken gegen Brände, die tatsächliche und die ideale Ausrüstung unserer Feuerwehren, die voraussichtliche Dauer der Verfügbarkeit von Löschwasser aus unserem Weiher.

Und noch eine Wirkung hatte dieses Trauma: ich wollte auf keinen Fall weit von zu Hause weggehen, denn ich musste ja zur Stelle sein, wenn es soweit wäre, wenn man möglichst schnell die Kühe und Schweine aus dem Stall bringen müsste, wenn die ohnehin unzulänglichen Brandmauertüren zu verschließen wären und ich den anrückenden Feuerwehren die schlimmsten Schwachstellen in unserer Brandmauer zeigen sollte; ich musste auch immer da sein, um darauf zu achten, dass nicht etwa die anderen Buben den Weiher leer laufen lassen würden, denn unser Bach würde im Ernstfall niemals genügend Löschwasser führen.

Noch lange verursachte der Klang einer Sirene einen Schock und ein Erschaudern, selbst dann noch, als ich viele Jahre später schon aktiver Feuerwehrmann war und in dieser Funktion auch einige Ernstfälle erlebte. Das Brand-Trauma verlor sich erst dann, als ich mit fast 21 Jahren zunächst die räumliche und danach auch die geistige Bindung an Haus und Hof lösen konnte und meine Mutter das riesige Gebäude in der Dorfmitte verkaufte, um sich dafür ein normales Haus aus Ziegelstein am Dorfrand bauen zu lassen und es zu beziehen.


Das Gasthaus zum Rössle mit Stadel, um 1968

Mutters Haus

Ich habe Grund zu der Annahme, dass sich Mama in ihrem neuen und überschaubaren Zuhause sowie in ihrer neuen Nachbarschaft lange Zeit ziemlich wohl gefühlt hat. Die ersten Jahre arbeitete sie noch in einem Hotel an der Theke und als Zimmermädchen, wo ihr der Umgang mit den Gästen offensichtlich immer viel Freude und Abwechslung bereitete, zumal sie ja auch immer wieder durch Trinkgelder Wertschätzung erfuhr. Und auch nachdem sie in Rente gegangen war, bewahrte sie sich noch für viele Jahre ihre Selbständigkeit und Aktivität. So unternahm sie oft erstaunlich weite Ausflüge mit dem Fahrrad, buchte aber auch, ohne zuvor meinen Rat einzuholen, so manche Reise, sogar mit dem Flugzeug in ferne Länder. Sie blieb aber auch gesellschaftlich gut eingebunden, etwa in einem rührigen Wiibêr-Kegel-Club und im Katholischen Frauenbund, wo sie sich vor allem als Theaterspielerin hervor tat. Und außerdem half sie oft in der Gaststätte meiner Schwester aus, vornehmlich in der Küche und an der Bügelmaschine. Beim Autofahren aber, das sie wegen ihrer eingeschränkten Sicht – schon in jungen Jahren hatte ihr eine Kuh ein Auge ausgestochen – nie meisterlich beherrscht hatte, musste sie schon bald die aufkommenden Schwächen des Alters erkennen. Und nachdem sie einmal bei Dunkelheit einen Auffahrunfall verursacht hatte, überließ sie ihr Auto ganz mir. Deshalb sah ich es danach auch immer als meine Aufgabe an, an Wochenenden mit ihr häufig zum Mittagessen irgendwohin zu fahren, sehr oft in ihren Herkunftsort Scheidegg, wo dann nach dem Essen immer noch ein Gang auf den Friedhof anstand, in dem ihre Eltern und ein Bruder ruhten. Sie genoss es auch, wenn ich auf dem Rückweg mit ihr noch ein Fährtle machte, etwa einen Abstecher durch den vorderen Bregenzerwald.

Ich verbrachte ja damals an Wochenenden und in den Ferien auch noch viel Zeit in ihrem Haus, zu dem ich aber nie ein wirklich emotionales Verhältnis entwickelte. Und für die späteren Jahre verbinde ich auch mit diesem Haus eher unangenehme Erinnerungen. Denn je älter meine Mutter wurde, umso schwieriger wurde das Zusammenleben mit ihr in diesem Haus. Der in der Zeit nach Vaters Tod (1958) objektiv gegebene Zwang zur Sparsamkeit kam bei ihr im Alter wieder in einer für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbaren Zwanghaftigkeit durch und nahm schließlich immer krankhaftere Züge an. Dieser Sparzwang war zunächst vor allem auf den Wasserverbrauch gerichtet. Unglücklicherweise waren beim Bau des Hauses die Wasserrohre so verlegt worden, dass man jede Betätigung eines Wasserhahns fast im ganzen Haus wahrnehmen konnte. Und wie es nun einmal so ist, sobald man für ein bestimmtes Geräusch sensibilisiert ist, nimmt man es umso deutlicher wahr. So empfand meine Mutter mit der Zeit einen ganz gewöhnlichen Duschvorgang von wenigen Minuten wie a stundalangs Wassêr-lâûfê-lång, was sie zu überaus peinlichen Ausrastern gegenüber den Mietern veranlasste. Und sie scheute sich beispielsweise auch nicht, den seltenen Übernachtungsgästen in den zwei Fremdenzimmern das Duschen zu verwehren und sie zudem dazu anzuhalten, den Abfall selbst im Wertstoffhof zu entsorgen. So reihte sich mit der Zeit eine Peinlichkeit an die andere, und es steigerte sich noch, als sie immer misstrauischer wurde und zu behaupten begann, die Mitbewohner im Haus würden aus ihrer Wohnung immer wieder Dinge entwenden, darunter so wertvolle Sachen wie Klopapier. Wenn sie von meiner Schwester die Wäsche besorgt bekam, war sie immer ängstlich darauf bedacht, ja alle zuvor abgezählten Sackdiâchlê wieder sauber zurück zu bekommen. Und diese Sorge um ihre Habseligkeiten hatte zur Folge, dass sie immer auf der Suche nach Dingen war, von denen sie nicht mehr wusste, wo sie sie in Sicherheit gebracht hatte. Diese kuriose Sucherei habe ich früher schon mal ausführlich beschrieben:

Gesucht wird bei uns immer und überall und nach allem, vor allem aber nach Schlüsseln, meist nach den zwei Hausschlüsseln, manchmal aber auch nach Zimmerschlüsseln. Und nach diesem für meine Mutter wohl wichtigsten Utensil sucht man oft stundenlang, auch an ganz unwahrscheinlichen Orten, etwa in den Übertöpfen von Pflanzen, im Nähkäschtlê, unter dem Bett, zwischen den Matratzen, im Kompostabfall, unter den Teppichen und nicht zuletzt in den unzähligen Schubladen in allen Räumen, auch in dem immer abgesperrten und vollkommen unbenutzten Wohnzimmer. Und diese Suche geschieht unter permanentem Jammern: Jå, wo hå-n-i bloß mii Schlissltäschlê? oder Jå, um Gott’s Willê, was tuâ-n-i bloß, wenn i des Täschlê numma find? Aber bisher wurden die Schlüssel stets wieder gefunden, nur nicht immer rechtzeitig. So musste man schon mehrfach das auf Rädern angelieferte Essen durch das Fenster meines Zimmers hereinreichen, weil die Haustüre ohne Schlüssel nicht zu öffnen war. Und aus dem gleichen Grund konnte einmal unsere Nachbarin Mama erst verspätet zu einem Theaterabend des Frauenbundes hinführen. Den schon hundertfach erteilten Ratschlag, die Schlüssel doch einfach immer neben dem Telefonapparat abzulegen, wo sie dann immer zur Hand wären, übergeht sie schweigend, oder sie weist ihn weit von sich mit dem Argument, dass dann ja jeder, der dort vorbeigehe, sie mitnehmen könnte. Den Einwand, dass innerhalb dieser immer verschlossenen Wohnung doch gar niemand vorbeigehen könne, entgegnet sie mit der Leier, dass zu ihr allbot (laufend) ein Bettler oder ein Hausierer komme.

Weniger dramatisch gestaltet sich im Allgemeinen die Suche nach dem Gebiss, das – zu Hause selten im Mund – sehr oft zusammen mit den Schlüsseln innerhalb der Wohnung hin- und hergetragen wird. Es sollte ja immer parat sein für den Fall, dass jemand an der Haustüre klingelt; denn ohne Zähne kann man doch einem Menschen nicht gegenübertreten. Wenn Mama dann verzweifelt fragt, ob man ihre Zähne irgendwo gesehen habe, sollte man als erstes auf dem Sims des WC-Fensters und als zweites unter den Kissen auf der Eckbank suchen, aber natürlich kommt auch jeder andere Ort als vorübergehende Ablage in Frage.

Die Nagelfeile spielt bei meiner Mutter schon seit Jahren eine ganz außergewöhnliche Rolle, glaubt sie doch immer, an einem Finger einen Nagel eingerissen zu haben, an dem sie sich ein Loch in die Strümpfe reißen könnte. Wenn diese Nagelfeile fehlt, glaubt Mama immer ganz genau zu wissen, hinter welches Möbelstück ihr diese am Abend zuvor hinuntergefallen sei; und weil man ihr das schon längst nicht mehr glaubt, sagt sie immer zur Bekräftigung, sie habe sogar noch den Fall gehört (i håå 's no heerê fallê).

Wenn wieder einmal Klopapier fehlen sollte, heißt das noch lange nicht, dass zu Hause keines mehr vorhanden wäre, es ist nur nicht mehr an seinem vorgesehenen Ort in der Speisekammer, weil Mama es irgendwo, meist unter ihrem Bett, in Sicherheit gebracht hat.

Übrigens ist es generell durchaus sinnvoll, nicht immer sofort mit der Suche nach einem vermissten Gegenstand zu beginnen, denn sobald das Objekt gefunden ist, steht es in höchster Gefahr, kurz danach erneut als verloren beklagt zu werden.

Zum Ende ihres Lebens hin steigerte sich bei meiner Mutter die zwanghafte Sparsamkeit immer mehr. So wollte sie sich selbst auch nichts mehr gönnen und lehnte alles ab, was in ihren Augen zu teuer war oder gar als Luxus galt, etwa ein Ersatz für ihr nur noch schlecht funktionierendes TV-Gerät. Und beim sonntäglichen Besuch in Gaststätten konnte ich sie niemals zu einem echten Wienerschnitzel vom Kalb oder gar zu einem Spargelgericht überreden. Von den Nachrichten aus dem Fernseher nahm sie fast nur noch die lange angekündigte Währungsumstellung wahr, die sie als Bedrohung empfand. Seltsamerweise konnte ich sie aber immer wieder dadurch etwas beruhigen, dass ich ihr versicherte, dieser Euro bekomme mit dem Cent auch noch eine kleinere Einheit dazu, vergleichbar dem Pfennig.

Die Fahrten von Augsburg zu ihr und das Wohnen bei ihr wurden dann für mich immer mehr zu einer wenig erfreulichen Verpflichtung, was ich immer wieder den tagebuchartigen Aufzeichnungen anvertraut habe, die ich hauptsächlich in Mamas Haus führte, wohl auch um irgendwie die belastenden Stunden dort zu überbrücken. Hier ein Beispiel:

Morgen früh will ich von hier wegkommen. Wahrscheinlich gelingt es ihr noch, mir ein ganz schlechtes Gewissen anzuhängen. Und wahrscheinlich kommt morgen nochmals die Frage, warum ich denn schon fahre, wo doch erst Samstag sei und ich doch sicher nicht vor Montag zur Arbeit müsse. Sie versteht nicht, dass ich für mich auch noch Freizeit und Leben außerhalb ihres Gefängnisses beanspruchen will. Dass ich allat no allui bin und keine Frau und keine Kinder habe, fand sie schon immer wieder mal bedauernswert, dass ich aber in der Freizeit ganz frei für sie sei, fand sie auch immer selbstverständlich. Dabei ist das Für-sie-Dasein weitgehend darauf beschränkt, physisch in ihrer Nähe zu sein, damit sie nicht allein ist und sich nicht so sehr ängstigen muss. Eine wirklich tiefer gehende emotionale Bindung ist zwischen uns leider nicht vorhanden.

Nach Mamas Tod im September 2000 plädierte ich dafür, dieses Haus zu verkaufen, weil mich nichts dort zurückhielt und mich auch die Aussicht auf eine für mich lästige Vermietung abschreckte. Da war aber meine Schwester entschieden dagegen, wohl weil sie darin eine Respektlosigkeit gegenüber dem gemeinsamen Erbe gesehen hätte. So renovierte man von Grund auf Mutters Wohnung im 1. Stock, für die sich denn auch sofort ein Ehepaar aus dem Ruhrgebiet als Mieter interessierte und schließlich einzog. Das Dachgeschoss, in dem bis dahin nur in den zwei Giebeln je ein Fremdenzimmer vorhanden war, wurde ebenfalls so ausgebaut und erweitert, dass man eine vollwertige Wohnung hätte einrichten können, die – so die stillschweigende Vereinbarung mit meiner Schwester – ich in ferner Zukunft bewohnen sollte. Darauf ließ ich mich auch halbherzig ein, zur endgültigen Einrichtung meiner Wohnung hat mir dann aber immer der Impuls gefehlt, hatte ich doch schon in Augsburg und später auch in Füssen eine Unterkunft. Und deshalb störte ich mich bei meinen immer selteneren Aufenthalten dort auch nicht daran, dass da nichts wirklich fertig war und an der Decke immer noch die provisorisch aufgehängten Lampen aus Mamas Wohnung hingen.

Da traf es sich äußerst gut, dass die älteste Tochter meiner Schwester nach ihrer Scheidung ihr Häuschen aufgeben musste und dringend eine vernünftige Bleibe brauchte. Also wurde diese Dachwohnung wieder umgebaut und an die Wünsche und Bedürfnisse meiner Nichte mit ihrem heranwachsenden Sohn adaptiert. Somit war ich endlich befreit von der als ziemlich lästig empfundenen Wohnverpflichtung in diesem ererbten Elternhaus.

Seit einigen Jahren wohnt auch meine Schwester mit ihrem Partner in diesem Haus, und nun kehre ich sehr gerne als Besucher dorthin zurück und genieße das recht harmonische Verhältnis zu meiner Schwester und zu ihrem Anhang. Zum Jahresbeginn 2018 habe ich dann noch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, mit einem Abschichtungsvertrag auf relativ unkomplizierte Weise auf meine Hälfte an der Erbengemeinschaft mit meiner Schwester zu verzichten, was vor allem im Hinblick auf die irgendwann anstehende Weitervererbung von Haus und Grundstücken an ihre Kinder eine sinnvolle Lösung gewesen sein dürfte. Durch diesen finanziellen und materiellen Verzicht fühle ich mich aber in keiner Weise ärmer, eher bedeutet er für mich eine Befreiung.


Herbststimmung

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