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Im Leben nicht

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Die Straße machte eine sanfte Rechtskurve und führte auf den Wald zu, dessen erste vereinzelte Bäume lange Schatten über die Fahrbahn warfen. Die drei Radfahrer traten unwillkürlich fester in die Pedale, denn an diesem heißen Nachmittag versprach das Laubdach eine gewisse Erfrischung nach der langen Strecke durch die Sonne.

Hügelig war die Gegend im Alpenvorland, mit weitläufigen Weidewiesen voller schwarzweißer Rinder, die völlig antriebslos vor sich hin standen und nur ab und zu den Kopf nach den Zweibeinern auf ihren Zweirädern drehten. Die waren streckenweise in flottem Tempo unterwegs – bis wieder eine der zahllosen Steigungen kam, die ihnen den Atem nahm und die Pulszahl in die Höhe trieb. Jetzt waren sie weit genug zwischen die schattenspendenden Bäume gefahren, um sich eine Pause zu gönnen.

Angefangen hatten sie ihre Fahrt am frühen Morgen in einem kleinen Hotel mit dem klangvollen Namen »Chalet Monrepos« am Rande der Hügelkette. Da hatten Sonja, Markus und Joschi beim Frühstück gesessen – »Sportsmen’s Breakfast« nannte die Speisekarte eine Variante, die aus einem großen proteinreichen Müsli, einem Ei und einem Fruchtcocktail bestand. Dieses Frühstück hatten sie gleich zu Beginn ihrer gemeinsamen Fahrradwoche gewählt, weil die unter dem ehrgeizigen Motto stand: »Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Sattel.« Dafür brauchten sie natürlich Energie. Nach den ersten beiden Tagen mit vielen Höhenmetern und beachtlichen Durchschnittsgeschwindigkeiten – digital gemessen – hatten sie es eigentlich heute etwas gemütlicher angehen lassen wollen. Aber wohin sollten sie heute fahren?

»Ich finde, wir sollten uns mal vornehmen, völlig ohne Zeitdruck und ohne Pflichten draufloszufahren«, hatte Markus vorgeschlagen. »Das muss doch herrlich sein, sich ganz dem Augenblick und der Bewegung hinzugeben. Ohne Fremdbestimmung durch Navigationsgeräte und ohne Gängelei durch Zielvorgaben und Straßenkarten.« Seine Augen hatten geleuchtet.

Die beiden anderen hatten sich denken können, warum. Alle drei kannten einander von der Schule her und wussten so ziemlich alles voneinander. Markus hatte eigentlich Rechtsanwalt werden wollen – sein angeborener Gerechtigkeitssinn und seine Formulierungsgabe hatten das nahegelegt – und hatte sein Jurastudium vielversprechend mit guten Noten begonnen. Irgendwann waren die Noten schlechter geworden, und er hatte einige seiner Klausuren auch zum wiederholten Mal nicht geschafft. Als dann zwei seiner besten Freunde aus demselben Grund ihr Studium beendeten, hatte auch er kurz entschlossen seine Zelte an der Universität abgebrochen und seinen Lebensunterhalt zuerst als Sortierer und dann als Kassierer in verschiedenen Einzelhandelsgeschäften verdient. Sein jetziger Job als Berater in einem Fahrradladen hatte mit seinen Karriereträumen nichts mehr zu tun. Er wollte gerade so viel Geld verdienen wie nötig und dachte kaum noch über die Ungerechtigkeit in der Welt nach, die ihn früher umgetrieben hatte.

»Ja, irgendwie ist das ganze Leben eine einzige Fremdbestimmung.« Spontan hatte Sonja ihm zugestimmt. »Kaum ist man auf der Welt, wird man schon in Richtung Kindertagesstätte geschubst. Dann in Richtung Schule. Und dort legen sie einen ziemlich bald auf ein Berufsziel fest. Immer bekommt man Worte wie ›Zielorientierung‹ und ›Zielstrebigkeit‹ um die Ohren gehauen.«

Sonja war Prokuristin in einem großen Betrieb der Verpackungsindustrie. Tag für Tag und Woche für Woche starrte sie in Auftragsbücher und Exportlisten und verglich die Summen mit den vom Aufsichtsrat vorgegebenen Quartalszielen. Der Druck, den sie dabei verspürte, wuchs von Tag zu Tag, bis sie am Ende von drei ängstlich beobachteten Monaten kaum noch schlafen konnte. Sie hätte ihren Job und ihr ganzes Leben sehr viel erträglicher gefunden, wenn es diese verwünschten Ertragsmarken nicht gegeben hätte. Und im Lauf der Zeit sträubten sich ihre inneren Nackenhaare sofort, wenn die Rede auf Ziele kam. Deshalb war sie heute Morgen bei dem Gedanken an eine Radtour ohne Destination Feuer und Flamme gewesen.

Auch Joschi war fasziniert von dem Gedanken der Ziellosigkeit, und unbewusst hatte das sicher auch bei ihm mit dem Lebenslauf zu tun. Dass er ebenfalls die Nase voll hatte von Zielvorgaben, verstanden die beiden anderen nur zu gut. Wie die meisten Jungen hatte er während seiner frühen Teenagerjahre davon geträumt, Profifußballer zu werden. In seiner Schülermannschaft hatte er als der schnellste Flügelflitzer gegolten und war von den gegnerischen Mannschaften wegen seines atemberaubenden Antritts gefürchtet worden. Der Trainer hatte ihn entsprechend gelobt und war doch mit seiner Einstellung nicht richtig zufrieden gewesen. »Du hast zwar ein tolles Tempo drauf, aber bei Pässen spielst du meistens quer. Dir fehlt irgendwie der Zug zum Tor.« Diese Kommentare hatten ihn im Laufe der Zeit so genervt, dass er immer öfter das Training hatte ausfallen lassen und deswegen schließlich nicht mehr aufgestellt worden war. Und seit jener Zeit haderte Joschi mit allem, was nach »Zug zum Tor« roch. Nach einigen Jahren der Ausbildung zum Verwaltungsangestellten und einer für ihn unbefriedigenden Bürotätigkeit im Finanzamt hatte er sich an der Universität für das Fach Geowissenschaften eingeschrieben. Wenn ihn jemand nach seinem Beruf fragte, nannte er sich »Student im fortgeschrittenen Lebensalter.«

Deshalb hatte er heute Morgen auch Markus aus vollem Herzen unterstützt: »Wann hat man überhaupt mal das Gefühl, persönlich frei zu sein? Doch nur, wenn man von Augenblick zu Augenblick die Möglichkeit hat, sich umzuorientieren: beim Skifahren im Neuschnee, beim Schwimmen an einer unbewachten Meeresküste, beim Segelfliegen.«

Markus hatte sich über die Zustimmung gefreut. »Gut, dann machen wir das doch einfach mal. Für meine Begriffe lässt sich das nicht schöner ausdrücken als in dem Satz: ›Der Weg ist das Ziel.‹«

»Den Spruch kenn ich«, hatte Joschi gesagt. »Der ist, glaube ich, von Kungfuzius. Fernöstliche Weisheit.« Er war stolz, dass er nicht nur etwas von Geowissenschaften verstand.

Markus hatte laut gelacht. »Knapp daneben. Kung Fu ist eine asiatische Kampfsportart. Nein – der chinesische Philosoph, den du meinst, hieß Konfuzius. Sonja, wie findest du das Motto?«

»Wunderbar. Das spricht mir so aus dem Herzen. Der Weg ist das Ziel. Wir sollten das heute einfach mal beherzigen. Wir nehmen uns keinen Ort vor, an dem wir ankommen wollen, und verzichten auf alle Orientierungshilfen. Karten sind für Feiglinge und Navis sind für Warmduscher. Es wird nicht gemogelt. Versprochen?«

Damit hatte der Leitspruch des Tages festgestanden. Als sie die Rucksäcke mit ihren Wasserflaschen und Lunchpaketen vollgestopft hatten, musste aber natürlich irgendwie entschieden werden, in welche grobe Richtung die ziellose Reise gehen sollte: rechts oder links? Geradeaus? Sie hatten sich für das gute alte Streichholzziehen entschieden und sich dann nach rechts auf den Weg gemacht. Als von der schmalen Straße, an der das Hotel lag, ein Feldweg links in die Wiesen abbog, hatte Markus gerufen: »Ich schlage vor, dass wir den hier nehmen«, und von da an hatten sie sich mit den Richtungsansagen abgewechselt. Es war jedes Mal ein kleiner spannender Moment gewesen, wenn wieder eine Entscheidung anstand, aber die folgenden kurzen Diskussionen hatten ihnen bis jetzt einen Riesenspaß gemacht.

Markus mit seinem schwarzroten Fahrradhelm und seinem Tour-de-France-Trikot war gewöhnlich vorausgefahren, dann kamen Sonja, die einen neongrünen, und schließlich Joschi, der einen schlichten weißen Helm aufhatte. Wie das Summen eines Bienenschwarms auf dem Weg in den heimischen Stock klang das Fahrgeräusch der Reifen auf dem Asphalt. Aber sie wollten ja gar nicht wissen, wohin diese Route sie führte. Im Augenblick war tatsächlich der Weg das Ziel. Und wenn der irgendwo an einem Weidezaun endete, kehrten sie einfach um und probierten einen anderen. Auf diese Weise hatten sie inzwischen viele Kilometer zurückgelegt und eine Gegend erreicht, in der keiner der drei sich auskannte und in der sie noch nicht einmal markante Berggipfel zur Orientierung benutzen konnten. »Das ist der bisher mit Abstand schönste Tag in unserem Urlaub«, rief Markus den anderen zu und strahlte.

Nach der kurzen Pause unter den ersten Bäumen verstaute Sonja gerade den Beutel mit den Müsliriegeln wieder in ihrem Rucksack, als sie merkte, wie es zwischen den Baumwipfeln etwas dunkler wurde. Vor den blauen Himmel hatte sich eine hellgraue Wolke geschoben, der nach einiger Zeit eine weitere, dunkelgraue, folgte – eine regelrechte Wolkensäule, die sich aus den Wüstengeschichten der Bibel hierher verirrt zu haben schien, ihnen aber keinerlei Orientierung bot. Die Wettervorhersage hatte ja eigentlich für den ganzen Tag schönes Wetter versprochen – mit nur gelegentlichen Eintrübungen. Aber jetzt schien sich etwas zusammenzubrauen. Die schmale Straße, die sie hergebracht hatte, führte tiefer in den Wald, und Sonja schaute besorgt immer wieder nach oben. Nein – das war hoffentlich kein Donner, den sie jetzt in der Ferne hörte. Bestimmt startete da nur ein Düsenjäger von dem Fliegerhorst, an dem sie vorhin vorbeigefahren waren.

Auch Joschi hatte das grollende Geräusch gehört und beschleunigte unwillkürlich sein Tempo. Bis jetzt war die Fahrt im Großen und Ganzen gemächlich und ohne Hindernisse verlaufen – bis auf den platten Hinterreifen, den Markus nach einer Stunde zu reparieren hatte (das lose Ende eines Stacheldrahts, von einer Weideumzäunung auf den Weg geraten, war schuld daran gewesen). Aber das Gute war ja, dass sie unter keinerlei Zeitdruck standen und nicht irgendwann an einem ganz bestimmten Ort sein mussten.

Nach ein paar hundert Metern kamen sie auf eine Lichtung, von der vier Wege auf einmal abzweigten. Kein einziger Wegweiser war zu sehen – kein Hinweis auf Orte oder Entfernungen. Nur ein Marterl stand einsam vor dem Stamm einer uralten Eiche – ein kleiner, weiß verputzter Bildstock mit einem Kruzifix hinter einer Glasscheibe und einer Schrifttafel darunter. Als Joschi versuchte, den verblassten Spruch darauf vorzulesen, musste er sich tief hinunterbeugen:

O Wanderer, wenn du bedenkst,

wohin du hier die Schritte lenkst,

schau auf das Kreuz. Da findest du

den Weg zu Gottes Himmelsruh.

»Wer stellt denn eigentlich so was in die Gegend?«, fragte Sonja. »›Da findest du den Weg zu Gottes Himmelsruh.‹ Steiler Satz. Aber im Augenblick bräuchte ich viel eher einen Tipp, welchen dieser vier Wege wir jetzt nehmen sollen.«

»Diese Marterln stehen hier in der Gegend zu Hunderten«, sagte Joschi. »Die werden wohl meistens von Kirchen gebaut, aber auch von ganz privaten Menschen, die sich damit für irgendetwas bedanken wollen. Oder die eben anderen Leuten den Weg zum Himmel zu zeigen versuchen.«

Wenn es nach der Sonneneinstrahlung gegangen wäre, hätten sich der linke oder der halblinke Weg angeboten. Auf ihnen tanzten noch ein paar vereinzelte Lichtflecken durch die Grasbüschel. Aber der Weg geradeaus empfahl sich durch die tiefen Spurrinnen, die von jahrelangem regem Traktorverkehr zeugten.

»Also, ich mache mich ja vielleicht unbeliebt, aber irgendeine Karte würde jetzt nicht schaden«, sagte Sonja und schaute durch die Baumwipfel nach oben. »Nicht, um ein Ziel anzusteuern, sondern einfach, um rauszufinden, wo wir sind. Und ob wir nun gradeaus oder rechts oder links oder halblinks fahren sollen – Hauptsache, wir kommen hier weg. Wenn gleich das Gewitter losgeht, möchte ich nicht vom Blitz getroffen werden.«

»Wo wir sind, weiß ich auch nicht«, gab Markus zu. »Aber ich würde sagen, wir fahren einfach nach rechts. Der Weg muss ja irgendwo hinführen. Am besten sollten wir nicht zu viel darüber nachdenken, wo es lang geht. ›Wohin du auch gehst, geh mit deinem ganzen Herzen.‹ Das hat auch der Konfuzius gesagt.«

»Klingt genauso gut wie sein anderer Spruch. Aber ›volle Kraft voraus‹ garantiert ja noch lange nicht, dass man sich in die richtige Richtung bewegt.« Joschi schien nicht ganz überzeugt. Er gefiel sich als der Intellektuelle unter den Dreien, und als Geograf hatte er seine Zweifel an gutgemeinten und wohlklingenden Ratschlägen, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhielten.

Es war schon ziemlich dunkel geworden, als sie ihre Räder auf den rechten Weg lenkten – was nicht so sehr an der Tageszeit lag als an den immer bedrohlicheren Wolken über ihnen. Ein unangenehmer Wind blies von links, der die Äste der Bäume unheilverheißend knarren ließ. »Sollten wir nicht langsam Richtung Hotel fahren?«, fragte Sonja. Ihre Stimme klang, als ob sie sich wegen dieses Gedankens ein bisschen schämte. Die beiden anderen schwiegen.

Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Ein riesiger Baum lag quer vor ihnen – vielleicht einer von den ungezählten, die in den Orkanen der vergangenen Jahre abgebrochen oder entwurzelt worden waren. Rechts von ihm reckte ein zersplitterter Stamm ein paar hölzerne Spitzen hilfesuchend nach oben. Dahinter hörte der Weg auf.

»Kommt – wir drehen um«, sagte Joschi. »Wie heißt es so schön? Wir sind wohl gerade auf dem Holzweg. Das ist nur eine Schneise, die man gehauen hat, damit man die gefällten Stämme abtransportieren kann. Davon wusste dein Konfusius wohl nichts, als er den Weg für wichtiger hielt als das Ziel.«

»Du hast wohl heute Morgen nicht zugehört: Der Mann heißt ›Konfuzius‹.« Markus musste wieder lachen. Er hob sein Rad hoch, drehte es um, und bald standen sie wieder auf ihrer Lichtung und entschieden sich diesmal für den Weg geradeaus, obwohl der nicht asphaltiert war und auch ziemlich genau in die Richtung des anrückenden Gewitters führte.

Inzwischen fielen die ersten fetten Regentropfen – hier und da wuchsen kleine Staubpilze auf dem Weg, fielen wieder in sich zusammen und machten Platz für wahre Wasserfluten, die die staubige Oberfläche im Handumdrehen in eine Schlammwüste verwandelten. Es war sehr schnell klar, dass dieses Gewitter nicht rasch vorübergehen würde. In kurzer Zeit würden die Trikots durchnässt sein, und das Wasser würde durch die Rippen der Fahrradhelme den Weg bis auf die Kopfhaut finden.

»Wartet ihr mal einen Augenblick?«, rief Sonja. Der Schlamm hatte sich an der Innenseite ihrer Schutzbleche so dick angesammelt, dass die braune Schicht die Reifen bremste. Mit einem Holzspan vom Wegrand kratzte sie die Bleche wieder frei und setzte sich wieder auf den nassen Sattel.

»Also, mir reicht es langsam«, sagte Joschi. »Meine Nase läuft schon schneller, als mir der Regen den Rücken runterläuft. Richtungsmäßig bin ich im Augenblick völlig konfus und seh uns schon total durchnässt stundenlang unter irgendeinem Baum stehen.« Er zog sich seinen kanariengelben Poncho über und setzte sich in Bewegung. Die beiden anderenfolgten ihm, weil sie selbst keinen anderen Plan hatten.

Es war wie ein Wunder: Nach einem halben Kilometer im mittlerweile peitschenden Regen tauchte am linken Rand des Weges eine offene Grillhütte auf – eigentlich mehr ein Unterstand mit zwei Sitzbänken an den Längsseiten. Als sie näherkamen, sahen sie in der Mitte eine ummauerte Feuerstelle, die so aussah, als sei sie in letzter Zeit noch benutzt worden. Ohne ein Wort zu verlieren, bog Joschi vom Weg ab, schob sein Rad unter das Dach und lehnte es an einen Pfosten. Sonja und Markus folgten ihm und legten die Räder auf den Boden, wo er noch trocken war.

Auch wenn es kaum möglich schien: Der Regen wurde noch stärker. Zwar schien das Gewitter nicht näher gekommen zu sein, aber der Donner war immer noch deutlich zu hören, und die Sicht durch das Blätterdach auf die tiefschwarzen Wolken verhieß nichts Gutes.

»Also, irgendwie müssen wir doch hier wegkommen. Ich brauche dringend einen heißen Tee«, sagte Sonja mit senkrechten Stirnfalten. »Ich spüre schon seit einiger Zeit ein Kratzen im Hals. Und auch wenn ich weiß, dass ihr jetzt sauer sein werdet: Lasst uns doch mal die Theorie beiseiteschieben und ganz praktisch schauen, wie wir von hier weg und ins Hotel kommen. Hier ist die Wanderkarte, die ich heute Morgen dann doch vorsorglich eingesteckt habe – nur für den Fall, dass wir uns verirren.« Es war ihr deutlich peinlich, das zuzugeben. Sie kramte in ihrem Rucksack und holte eine Plastikhülle heraus.

Joschi und Markus sahen einen Augenblick lang zu, wie Sonja die Karte entfaltete. Dann sagten beide fast gleichzeitig: »Sag bloß, du hast dich nicht an unsere Verabredung gehalten.«

»›Der Weg ist das Ziel‹ klingt ja schön und gut«, sagte sie. »Aber wenn der Weg an einem Ort namens Halsweh endet, steige ich aus. Ich schaue jetzt mal, wo unser Chalet Monrepos ist. Wartet – hier hab ich es. Die Frage ist nur: Wie kommen wir dahin? Oder erst mal: Wo ist Norden – damit ich die Karte überhaupt richtig halte? Ich hab mal gehört, dass einem die Flechten an den Bäumen das anzeigen können.«

»Ja und Nein«, sagte Joschi. Er hatte in einem Seminar gelernt, dass sich allein wachsende Bäume meist zu der windabgewandten Seite neigen. Und dass Flechten und Moose vor allem an der windzugewandten von frei stehenden Bäumen zu finden sind. »Ich suche die ganze Zeit schon nach Flechten an den Bäumen, aber anscheinend stehen die hier zu dicht, um das Wetter an sich ranzulassen.«

Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und fuhr fort: »Also, ich finde das natürlich nicht O.K., dass du dich nicht an unser Motto gehalten hast, Sonja. Aber ich kann jetzt schlecht den Beleidigten spielen. Ich hab ja selbst heute Früh meinen Kompass mitgenommen – also rein sicherheitshalber.« Mit schuldbewusster Miene holte Joschi einen kleinen schwarzen Beutel aus seiner Jackentasche. Der silberne Kompass darin war noch trocken geblieben.

»Gute Idee«, sagte Sonja. »Mit Karte und Kompass kriegen wir das Problem in den Griff.« Sie schien kein ganz so schlechtes Gewissen mehr zu haben, als sie ihre aufgeklappte Karte mit dem Kompass nach Norden ausrichtete. Aber dann runzelte sie wieder die Stirn.

»Um auf der Karte den Weg zu unserem Ziel zu finden, müssten wir natürlich erst wissen, wo wir uns grade befinden. Unser jetziger Standort ist ja leider nicht eingetragen. Wir könnten hier sein, oder hier, oder hier. Hat denn rein zufällig« – hier schaute sie fragend ihre beiden Mitradler an – »jemand von uns dann doch vergessen, sein Smartphone mit der GPS-Funktion im Hotel zu lassen?«

An dieser Stelle bekam Markus einen roten Kopf. »Ich glaube, ich schaue jetzt doch mal auf meine Karten-App«, sagte er und griff in seine linke hintere Hosentasche.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Joschi war aufgebracht. »Wir hatten uns verabredet, alle Navigationshilfen im Hotel zu lassen – du warst doch der, der das am lautesten gefordert hat. Und dabei fällst du uns die ganze Zeit heimlich in den Rücken und schleppst dein Telefon mit dir rum. Ich bin total enttäuscht von dir.«

»Ja – ich entschuldige mich ja auch«, stotterte Markus. »Aber irgendwie sind wir doch quitt; wir haben uns alle drei nicht an die Verabredung gehalten. Und wenn wir das nicht getan hätten, säßen wir doch noch bis morgen ohne Peilung im Regen.«

Mit den drei Hilfsmitteln klappten die Ortung und die Routenplanung sehr schnell. Die Koordinaten der Grillhütte lieferte Markus, Joschi konnte sagen, wo Norden war, und Sonja fand auf ihrer Karte einen Weg zum Hotel. Allen stockte etwas der Atem, als sie die Entfernung sahen, die sie noch radeln mussten, aber auf der anderen Seite waren sie auch stolz, auf dem Hinweg eine so weite Strecke zurückgelegt zu haben – wobei sie ja zusätzlich noch zahllose Sackgassen und Umwege geschafft hatten. Sie empfanden es fast als Bestätigung ihrer Schummelei, dass der Regen gerade etwas schwächer wurde, als sie sich wieder auf die Räder setzten.

Es dauerte eine Weile, bis sie den Waldrand erreichten und von dort aus auf einer breiteren asphaltierten Straße der bald wieder sichtbaren Sonne entgegenfuhren. Die hatte sich durch die letzten Wolken hindurchgekämpft und legte einen goldenen Schimmer auf die Viehweiden, die noch vor Nässe glänzten. Weit hinter ihnen war ab und zu noch das Grummeln des nach Osten abgezogenen Gewitters zu hören, und vor ihnen dampfte der Asphalt. Eine von drei Kühen hinter dem Zaun auf der linken Seite drehte ihren Kopf nur kurz nach oben, als wieder ein Düsenjäger im Landeanflug auf den Fliegerhorst vorbeidröhnte.

Die Trikots und Hosen waren im warmen Fahrtwind bald wieder trocken, und der Blutkreislauf in den schweren Beinen kam langsam in Schwung. Auch der Kopf fühlte sich leichter an. Lag es an der Erleichterung, endlich Sicherheit über den Weg zu haben? Ohne dass es im Augenblick spürbar gewesen war, hatten die zahllosen Richtungsentscheidungen sie müde gemacht: Rechts oder links? Geradeaus? Jetzt beflügelte sie die Vorfreude auf das Ausruhen nach der Anstrengung.

Nach gut drei Stunden – es war längst dunkel geworden – sahen sie die Lichter des Hotels vor sich, und als sie die Räder neben dem Eingang abgestellt hatten, beglückwünschten sie sich gegenseitig. Die anschließenden heißen Duschen genossen sie deutlich länger als gewöhnlich, und ein Genuss war auch das ausgedehnte Abendessen. Das isotonische Bier an der Hotelbar hinterher schmeckte so gut wie lange nicht mehr.

»Toll, was wir heute geschafft haben!«, sagte Sonja nach dem ersten Glas und atmete tief durch. »Bloß das Kratzen im Hals und die verstopfte Nase und die Kopfschmerzen, die ich langsam spüre, hätte ich mir gern erspart. Das alles haben uns die vielen Umwege und Sackgassen eingebracht, durch die wir zur falschen Zeit am falschen Ort im Gewitter gelandet sind. Vielleicht ist es doch nicht so dumm, sich vorher ein Ziel zu überlegen. Oder?«

»Jetzt sag bloß, es hat dir überhaupt keinen Spaß gemacht.« Markus hob die Augenbrauen. »Allein die Bewegung hat uns gutgetan. Bewegung ist doch immer ratsam. Beugt dem Herzinfarkt vor und hilft einem, das Gewicht im Zaum zu halten.« Fast trotzig beharrte er auf seinem liebsten Glaubenssatz: »Ich schlage vor, wir machen das morgen noch mal: Der Weg ist das Ziel.«

»Im Leben nicht«, sagte Joschi. Er hatte bisher geschwiegen. Zwar hatte er in seinem Poncho den Regen ganz gut überstanden, aber seine euphorische Stimmung vom Morgen hatte sich trotzdem dauerhaft verabschiedet. Er hatte das Unternehmen von einer Abbiegung zur anderen zunehmend als eine Art wissenschaftliches Experiment betrachtet und war vom Ergebnis alles andere als überzeugt. »›Der Weg ist das Ziel.‹ So schön das auch klingt und so sehr es einem auch ein gutes Gefühl gibt – wir haben doch gesehen, was dabei herauskommen kann. Im Kopf funktioniert diese Theorie vielleicht. Im Leben nicht.«

Pitti lächelt

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