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Das Schmusekätzchen

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In der fünften Klasse der Volksschule saßen Jungen und Mädchen gemischt in ihren Bänken. Ein Mädchen mit schwarzem Haar und langen Zöpfen beobachtete Franz und er dachte, ob die mal was für ihn wäre. Sie war eine reiche Bauerntochter und der Junge ein armes Arbeiterkind. Er war so realistisch, dass er sich keine Hoffnungen machte, denn die reichen Bauernmädchen beachteten so einen armen Jungen nicht, ja sie lachten höchstens über so einen Knaben. Also vergaß der Junge das Mädchen, es hatte ja keinen Sinn.

Die beiden wurden älter, das Mädchen ließ seine Zöpfe abschneiden und wurde eine recht hübsche junge Dame. Franz meinte gelegentlich zu bemerken, dass die Schöne ein Auge auf ihn habe, aber das bildete er sich sicher nur ein. Schließlich hatte sich an dem Standesunterschied nichts geändert. Man sah sich auch nur noch sehr selten. Franz war inzwischen Lehrling bei einem Schreiner geworden und wenn er an sie dachte, verdrängte er den Gedanken gleich wieder. Das Mädchen war zu Hause auf seinem Bauernhof geblieben und wartete wahrscheinlich darauf, dass ein reicher Bauernsohn käme und sie heiraten würde. So dachte jedenfalls unser Franz. Inzwischen hatte er ausgelernt und seine Gesellenprüfung mit guten Noten bestanden. Er war der Meinung, dass er hier, wo jeder wusste, dass er aus ganz einfachen Verhältnissen kam, doch kein Glück haben würde und hatte sich, auch weil er das sehr interessant und abenteuerlich fand, freiwillig zur Marine gemeldet.

Der Zufall wollte es, dass er kurz vor seinem Antritt bei der Marine einen Faschingsball in seinem Heimatort besuchte, wo auch die schöne Rita anwesend war. Franz war weder ein guter, noch ein begeisterter Tänzer, aber er sah als einzige Möglichkeit mit Rita zu sprechen, sie zum Tanz zu holen. Sollte sie ihm aber einen „Korb“ geben, so war das ja auch egal, er hatte nichts zu verlieren.

Wider Erwarten schien sich Rita aber zu freuen, als er sie aufforderte und ging bereitwillig mit ihm auf die Tanzfläche. Schon nach ein paar Umdrehungen schmiegte sie ihr Gesicht an seine Wange und schien glücklich zu sein. Franz, darüber selig, wusste nicht, was er sagen sollte und schwieg. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Die lange still Verehrte freute sich offenbar, mit ihm zu tanzen. Und das, obwohl er wie gesagt wirklich kein guter Tänzer war. Bei der nächsten Tanzrunde wurde er ein wenig gesprächiger und erzählte ihr schließlich, dass er sich zur Marine gemeldet habe und schon in ein paar Wochen dort einrücken müsse.

Rita sagte nichts dazu, aber Franz fühlte, dass sie darüber enttäuscht zu sein schien. Sie drückte ihre Wange noch mehr an sein Gesicht, beide sprachen nur noch wenig und hatten eine seltsam melancholische Stimmung. Das eben empfundene Glück schien schon wieder zu enden und war doch so nahe. Nach dem Tanz nahmen beide wieder getrennt von einander ihre alten Plätze ein und nur eine fast ständige Blickverbindung ließ erkennen, dass sie sich verliebt hatten. Am Ende der Veranstaltung nahm Franz noch einmal seinen ganzen Mut zusammen, wartete am Ausgang auf das Mädchen und ging mit ihr nach draußen. Mit einem schüchternen Kuss und einer nicht enden wollenden Umarmung verabschiedeten sich die beiden, ohne sich zu einem neuen Treffen zu verabreden.

Dass Franz nur noch an „seine“ Rita denken konnte, brachte ihn bei der Arbeit ganz durcheinander und sein Meister fragte ihn des öfteren, ob er träume und mahnte, dass es so nicht weiter gehen könne. Er wäre doch sonst ein so fleißiger junger Mann gewesen. Auch Franz dachte, dass es so nicht weiter gehe und dass er unbedingt zu seinem Mädchen gehen müsse. Er nahm also seinen ganzen Mut zusammen und ging zu ihrem Haus. Dort hoffte er, dass Rita schon einmal heraus kommen würde, denn er traute sich nicht hineinzugehen. Nach beinahe einer Stunde, in der er vor dem Haus hin und her ging, kam die Erlösung. Rita erschien, winkte ihm in den Hof zu kommen und zog ihn mit sich in eine dunkle Ecke des Hofes. Ein schneller Kuss und dann der leise Vorwurf, dass sie glaubte, er habe sie schon wieder vergessen. Warum er denn nicht ein Treffen mit ihr verabredet habe, sie habe solche Sehnsucht und sie dachte, dass alles schon wieder vorbei sei. Er sei doch ein recht dummer Kerl. Natürlich versuchte er ihr zu erklären, dass er den Mut zu einem Treffen nicht fand und auch nicht zu hoffen wagte, dass sie ihn wirklich wieder sehen wollte. Er sagte ihr, dass er bereue, dass er jetzt fort müsse und dann ja doch alles aus sei. Er habe sich für drei Jahre verpflichtet und das sei auch nicht mehr rückgängig zu machen. Und dass sie drei Jahre auf ihn warten würde, sei ja schließlich ganz unmöglich; er wisse ja, dass das nicht ginge. Sie sagte ihm, dass sie auch noch länger auf ihn warten würde und dass sie sich schon als kleines Mädchen in der Schule in ihn verliebt habe, und dass es für sie keinen anderen geben würde. Nun müsse sie aber wieder ins Haus, denn ihre Eltern würden sich sicher schon darüber wundern, wo sie so lange bleibe. Ein stürmischer Kuss und das Versprechen einander treu zu bleiben beendete das Treffen.

Die beiden trafen sich noch ein paar Mal, und dann kam der Abschied und die Trennung. Natürlich versprach man sich, häufig zu schreiben und schließlich habe der junge Seesoldat ja auch Urlaub und würde so oft wie möglich nach Hause kommen. Ein tränenreicher Abschied beendete das kurze Glück.

*

Franz kam zur Grundausbildung in das Städtchen Glückstadt an der Elbe und schrieb seiner Rita regelmäßig. Noch öfter erhielt er einen Brief von Rita und jedesmal schrieb sie, dass er doch hoffentlich bald in Urlaub käme. Am ersten April wurde er eingezogen und schon zu Pfingsten bekam er eine Woche Urlaub. Klar, dass er sofort in die Heimat zu seiner Rita fuhr. Es gab schon ein wenig Aufsehen im Dorf, als er in seiner Matrosenuniform mit Rita durch die Straßen ging. Schlimmer aber war, dass Ritas Eltern darüber gar nicht sehr erfreut waren, denn sie hielten nichts von einem der weit weg zur See fuhr und ihrer Tochter den Kopf verdrehte. Auch wenn es bis zur Seefahrt noch dauern sollte, aber das konnten die ja nicht wissen. Der kurze Urlaub war bald vorüber und der Alltag kehrte wieder ein.

Die Zeit verging. Franz kam auf die Marineschule und schließlich an Bord eines Zerstörers. Der Briefwechsel ging nach wie vor weiter, auch wenn Rita weniger Post erhielt als sie schrieb. Sie dachte, dass Franz einen anstrengenden Dienst und nicht so viel Zeit zum Schreiben habe, was ja auch der Fall war. Er beschrieb ihr aber seine Erlebnisse an Bord und Tage mit stürmischer See und was er so alles erlebte. Der nächste Urlaubsbesuch fand erst zu Neujahr statt, dauerte diesmal vier Wochen und die Seligkeit kannte keine Grenzen. Doch auch vier Wochen gehen für Liebende viel zu schnell vorbei und so kam wieder ein schwerer Abschied. Franz meinte, dass sie ihn ja auch in Flensburg, wo sein Schiff regelmäßig lag, besuchen könne. Viele Mädchen würden das machen. Und er würde ihr dann alles zeigen; sie würde sich sicher wundern, wie es auf einem Schiff zuginge, denn das ließe sich nicht wirklich beschreiben. Beide wussten, dass dies ein Traum war, denn Ritas Eltern würden eine solche Reise ihrer Tochter nie und nimmer genehmigen.

Wieder gingen ungezählte Liebesbriefe von Süd nach Nord und von Nord nach Süd. Doch plötzlich verhängte die Marine eine Nachrichtensperre, denn es war die Kubakrise ausgebrochen. Der kalte Krieg zwischen West und Ost drohte in eine heiße Phase zu gehen und die gesamte Bundeswehr und damit auch die Marine war in Alarmzustand versetzt. Rita schrieb weiterhin Briefe, doch zum Teil kamen sie zurück und auf ein Lebenszeichen ihres Franz wartete sie vergeblich. Sie wusste aber aus den Nachrichten, dass der Zerstörer häufig in Flensburg lag und war entschlossen, dorthin zu fahren. Ihre Eltern durften davon, wie schon gesagt, natürlich nichts wissen und so reiste sie ohne sich jemandem anzuvertrauen, in den hohen Norden.

In Flensburg angekommen, versuchte das unerfahrene Mädchen den Zerstörer zu finden, der aber nicht da war. Ein Uniformierter, den sie hartnäckig fragte, sagte ihr, dass „Z5“ wahrscheinlich in Hamburg liege, sie solle dort nach ihm suchen. Vermutlich sagte er ihr das nur, um sie loszuwerden, denn es war unwahrscheinlich, dass ein Zerstörer in Hamburg lag, noch dazu in einer Krise. Doch Rita war zu allem entschlossen und fuhr in die große Hafenstadt um ihren Franz dort zu finden. Wen immer sie für zuständig hielt, fragte sie nach dem Schiff. Doch keiner konnte ihr eine positive Auskunft erteilen. Ein Passant meinte, dass Matrosen am ehesten auf der Reeperbahn und der „Großen Freiheit“ zu finden seien. Er wäre früher auch bei der Marine gewesen und ein Gang dorthin sei für jeden Seemann ungeschriebenes Gesetz. Dadurch ermuntert, ging sie zur Hamburger Vergnügungsmeile und landete auf der großen Freiheit. Auch dort fragte sie unentwegt nach dem Zerstörer, bis ihr ein Mann sagte, sie solle mit ihm kommen, er würde sie am nächsten Tag dorthin bringen. Zweifelnd aber voller Hoffnung vertraute sie sich diesem Mann an, in der Erwartung, am nächsten Tag ihren Franz in die Arme schließen zu können oder ihn wenigstens gesund zu sehen. Das alles erzählte sie diesem Mann, der zwar nicht sehr vertrauenswürdig aussah, aber doch ihre Rettung sein konnte.

Am nächsten Tag erwachte sie in einem etwas seltsamen Etablissement, aber sie dachte sich, in Hamburg muss das wohl so sein. Das Zimmer war in einem eigenartigen süßlichen Rot gehalten und die Möblierung bestand nur aus einem breiten Bett, einem Tischchen und zwei Stühlen. Ihre Kleider und ihr Köfferchen fehlten: Sie hatte nur, noch was sie am Leib trug. Und sie wusste nicht, wie sie dort hingekommen war. Eine ältere, etwas heruntergekommene Dame erklärte ihr, dass sie nun hier zu arbeiten habe und dass sie ja keine Zicken machen solle. Zu ihrem Franz würde man sie schon einmal bringen, der sei zur Zeit nicht in Hamburg. Sie fragte, welcher Art die Arbeit sei und dass sie bald wieder nach Hause müsse. Man erklärte ihr, dass sie bald sehen würde, welche Arbeit sie zu machen habe und dass an eine Heimfahrt für sie vorerst nicht zu denken sei. Bald stellte sie fest, dass man ihr auch alles Geld abgenommen hatte und dass das Zimmer, in dem sie geschlafen hatte abgesperrt war. Wütend und in einem Weinkrampf tobte sie herum. Die Tür öffnete sich und herein kam der Mann, der ihr gestern versprochen hatte, sie zu ihrem Franz zu führen. Sie fragte ihn, wann er sie zu Franz bringen würde und wo ihr Geld und ihr Koffer seien. Er meinte nur, dass sie das alles in nächster Zeit nicht brauchen würde, sie hätte jetzt hier zu arbeiten und sie werde jetzt sofort damit beginnen. Dabei riss er ihr die Kleider vom Leib und begann brutal sie zu vergewaltigen. Erst schrie sie laut um Hilfe, doch dann wurde sie ganz stumm und brach in einen Weinkrampf aus. Der Mann verließ sie mit den Worten, dass sie nun wisse, was ihre Arbeit in Zukunft sei. Und wenn sie schön tue, was man von ihr verlange, würde sie hier ein gutes Leben haben. Eine Flucht sei sinnlos, sie käme hier nicht heraus.

Nachdem sich Rita einigermaßen gefasst hatte, überlegte sie was sie nun tun könne. Sie wusste sich keinen Rat, nur, dass sie bei der ersten Gelegenheit fortlaufen würde, nahm sie sich fest vor. Die Zeit verging. Es kamen jeden Tag andere Freier und sie musste ihnen zu Willen sein. Sie bettelte jeden an, sie doch mitzunehmen und mancher versprach ihr auch, sie zu befreien. Doch keiner hielt sein Versprechen; sie war den Leuten hoffnungslos ausgeliefert. Da begann sie, sich zu wehren, kratzte und biss ihre „Kunden“, was ihr aber nur Prügel einbrachte. Der Mann, dem sie dies alles verdankte, erklärte ihr, dass aus ihr noch ein braves Schmusekätzchen würde, wenn sie erst begriffen habe, dass dieses Leben für sie nicht das schlechteste sei. Und wenn sie eingesehen habe, dass sie auf diese Weise viel Geld verdienen würde, dürfe sie auch mal in die Stadt gehen, vor ihr hätten das schon viele ihrer „Kolleginnen“ auch eingesehen. Rita hatte nur noch die Hoffnung, dass ihr Franz sie irgendwie finden würde, der würde sie dann schon befreien. Aber wollte der überhaupt noch etwas von ihr wissen, wenn er erfuhr, was mit ihr geschehen war? An ihre Eltern und das Dorf zu Hause wollte sie gar nicht mehr denken. Von Hoffnung und Zweifeln geplagt, lebte sie dahin.

*

Inzwischen war die Nachrichtensperre der Marine längst aufgehoben und Franz schrieb Brief um Brief an seine Rita. Die Antwort blieb aus und es kam auch keiner der Briefe zurück. Franz dachte, dass sie es nun doch aufgegeben habe, auf ihn zu warten und verfluchte die Marine und die Kubakrise. Aber sie hätte ihm doch wenigstens schreiben können, dass es aus sei und dass er nicht mehr auf sie warten solle. Auch er war voller Zweifel. Konnte es denn sein, dass sie ihn einfach vergessen hatte? Er schrieb an ihre Eltern, doch auch die gaben keine Antwort.

Franz, eigentlich ein fröhlicher und immer gut gelaunter Seemann, verrichtete seinen Dienst an Bord gleichmütig und sprach kaum noch mit seinen Kameraden. Aber er ging immer häufiger allein an Land, trank sich immer öfter einen Rausch an und war ein ungemütlicher Zeitgenosse geworden. Einem Kameraden vertraute er schließlich seinen ganzen Kummer an, doch der meinte nur, dass die Weiber es nicht wert wären, dass man sich um sie Sorgen macht, und schließlich gäbe es genügend andere, mit denen man seinen Spaß haben könne. Franz gab ihm zwar recht, aber es hatte ihm nicht wirklich geholfen. Er versuchte wieder der „Alte“ zu sein, war aber launisch und gelegentlich auch streitsüchtig. Seine Kameraden gingen ihm mehr und mehr aus dem Weg. Franz wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte.

Man sagt, die Zeit heile Wunden, und so war es auch bei Franz. Er lernte ein nettes Mädchen kennen und verbrachte viel Freizeit mit ihr, wenn er an Land war, aber er liebte sie nicht. Auch wenn er sich das manchmal einbildete. In seinem Urlaub fuhr er nicht mehr nach Hause. Er verbrachte ihn bei seiner neuen Freundin, die ihn trotz seiner oft launischen Art sehr liebte. Es war manchmal für sie recht schwer an ihn heranzukommen und wenn sie ihn fragte, ob ihn etwas bedrücke, sagte er nur, dass er eben sei, wie er sei. Eines Tages aber erzählte er ihr seine ganze Liebesgeschichte und war danach wie befreit. Er konnte seine Anke jetzt wirklich lieben und bald darauf verlobten sich die beiden.

*

In seinem Heimatdorf gab es gab es inzwischen die wildesten Gerüchte. Die Leute erzählten sich, dass Franz mit Rita wohl irgendwo im Ausland sei, dass es ihnen sicher sehr schlecht gehe und dass man darum nichts von ihnen höre. Manche glaubten sogar, dass er sie umgebracht habe und er deshalb im Gefängnis sei, denn sonst würden sie sich doch sicher einmal melden. Denn auch von Franz gab es weder etwas zu sehen, noch zu hören. Auch seine Freunde wussten nichts von ihm. Franz Eltern wussten nur sehr vage, was ihr Sohn trieb, denn er schrieb in den seltenen Briefen nur, dass er nicht mehr heim käme und dass es ihm ansonsten aber gut ginge. Im Dorf aber vermutete man, dass die nichts erzählen würden und wenn doch, sei es sicher nicht die Wahrheit.

Ritas Eltern wussten natürlich noch viel weniger von ihrer Tochter. Eine Freundin von Rita meinte zu wissen, dass sie wohl zu Franz gefahren sei, sie hätte so etwas einmal angedeutet. Genaueres wüsste sie aber auch nicht, denn konkret hätte Rita auch ihr nichts verraten. Am Anfang war natürlich auf dem Hof ihrer Eltern die Hölle los, ihr Vater machte der Mutter Vorwürfe, dass sie ihre Tochter nicht richtig erzogen habe und dass sie viel zu gutmütig mit ihr umgegangen sei. Sie hätte ihr mehr zu arbeiten geben sollen anstatt ihr so viele Freiheiten zu erlauben, dann hätte die auch nichts mit einem Matrosen angefangen; man wüsste ja, was das für Leute seien. Es wäre noch nie gut gewesen, wenn man sich mit solchen Leuten einlasse.

Mit der Zeit aber wurde auf dem Hof gar nicht mehr über Rita gesprochen. Ihr Vater meinte nur, dass er keine Tochter mehr habe, auch wenn sie zurück käme. Ihre Mutter betete und hoffte und hatte Tag und Nacht Tränen in den Augen; sie ging zum Dorfpfarrer, um dort Trost zu finden. Aber der Pfarrer reagierte ähnlich wie ihr Mann und auch er machte ihr Vorwürfe. Sie hätte ihr Kind nicht richtig katholisch erzogen, sonst wäre es nicht soweit gekommen. Sie könne nur noch für ihre missratene Tochter beten. Das Haar der armen Frau war über Nacht grau geworden, sie wurde schwer krank und starb schließlich an ihrem Kummer.

Das Leben im Dorf aber ging weiter und man sprach nur noch selten von der verschwundenen Rita und ihrem Matrosen. Als aber einmal ein vorlauter Bauernbursche Witze über die beiden machte, schlug ihm ein Freund von Franz eine blutige Nase. Seitdem redete man nur noch mit vorgehaltener Hand über die beiden, was aber vor allem gewisse „Kirchenweiber“ nicht lassen konnten. Man kannte ja solche Leute und Ritas Mutter sei nicht umsonst so früh verstorben, denn auch sie habe nicht den richtigen Glauben gehabt. Der Pfarrer selbst habe dies einmal gesagt.

*

Drei Jahre Dienstzeit bei der Marine waren vorbei und Franz ließ sich in Flensburg nieder. Er fand in einer kleinen Möbelfabrik gute Arbeit, machte seine Meisterprüfung und heiratete seine Anke. Die beiden lebten wie andere Ehepaare auch mal mehr und mal weniger glücklich, hatten zwei liebe Kinder und die Jahre gingen vorbei. Gelegentlich dachte Franz noch an Rita, verdrängte diese Gedanken aber schnell wieder. Sie hatte wohl auf Wunsch ihrer Eltern einen reichen Bauernsohn geheiratet und das Leben nahm wohl auch bei ihr seinen gewohnten Gang. Seinen Urlaub verbrachte Franz mit seiner Familie immer in Schweden oder Norwegen. Er weigerte sich, in den Süden zu fahren, auch wenn Anke ihn immer wieder bat, doch in die Alpen zu reisen. Franz meinte nur, in Norwegen gäbe es auch Berge und die seien sogar schöner als die Alpen.

Eine ungewisse Angst hinderte ihn daran, im Süden Urlaub zu machen, denn er fürchtete, dass Anke seinen Heimatort sehen wolle und er wollte auf keinen Fall an die Vergangenheit erinnert werden. Lieber blieb er im Ungewissen um Rita. Zudem waren seine Eltern inzwischen verstorben, was also sollte er dort? Er war zuletzt zur Beerdigung seiner Mutter alleine dort gewesen und die Leute im Dorf sahen ihn dabei an wie ein exotisches Tier, dem man nicht trauen dürfe. Er sprach mit niemanden auch nur ein Wort und fuhr direkt nach dem Begräbnis wieder zurück. Seine Kinder, die jetzt schon zehn und zwölf Jahre alt waren, fragten zwar gelegentlich nach Oma und Opa und wie es in seiner Heimat aussehe, aber Franz antwortete ausweichend und blieb in dieser Hinsicht wortkarg.

*

Der Zufall wollte es, dass seine Firma einen Betriebsausflug nach Hamburg machte. Man fuhr mit einem Omnibus von Flensburg nach Hamburg und feierte nach einer Hafenrundfahrt fröhlich in einem Lokal. Nach dem offiziellen Teil konnte jeder machen, was er wollte und es war klar, dass man die „Reeperbahn“ und die „Große Freiheit“ besuchte. Die Damen gingen in ein Lokal, um dort zünftig die Hamburgreise abzuschließen und die Männer „mussten“ noch, wie üblich, die Herbertstraße durchwandern. Natürlich war auch Franz mit von der Partie. Man besah sich die mehr oder eher weniger bekleideten Damen in ihren „Schaufenstern“, machte Witze und wurde auch von der einen oder der anderen „Dame“ angesprochen.

Plötzlich blieb Franz wie angewurzelt stehen. Er blickte in zwei Augen, die er kannte, überlegte, ob er sich nicht irre, aber ein Irrtum war nicht möglich. Es waren die Augen seiner Rita, es gab keinen Zweifel. Sie sah noch immer gut aus, auch wenn das Leben, das sie führte, seine Spuren hinterlassen hatte. Kurz entschlossen ging Franz hinein. Seine Kollegen fragten ihn noch, was er dort wolle und ob er es denn so nötig habe. Franz hörte sie nicht. Er wusste nur, dass er dort hineingehen musste um zu erfahren, wie seine schöne und schüchterne Rita in dieses Haus kam.

Auch Rita schien ihn jetzt erkannt zu haben, sagte aber dass sie für ihn keine Zeit habe, denn sie wäre schon mit einem anderen Freier verabredet. Franz aber merkte, wie verstört sie war und ließ sich nicht abweisen. Er sprach sie mit ihrem Namen an, den sie wohl schon Jahre nicht mehr gehört hatte und auf den sie mit Schrecken reagierte. Hier wurde keines der Mädchen mit dem richtigen Namen bezeichnet, das war in diesen Kreisen Gesetz. Rita war zunächst sehr abweisend, tat, als ob sie ihn nicht kenne und sagte dass er verschwinden solle. Franz aber ließ nicht nach. Endlich gab auch sie zu, dass sie ihn erkannt habe und sie nicht wisse, was sie sagen solle.

Er sagte ihr, dass er sie mit zahllosen Briefen zu erreichen versucht habe, aber nie eine Antwort erhielt. Er hatte geglaubt, dass sie ihn vergessen habe und dass er meinte, sie sei mit einem reichen Bauernsohn in ihrer Heimat verheiratet. Dass sie hier gelandet sei, könne er nicht verstehen, denn das hätte er sich im Traum nicht vorstellen können. Nun begann Rita ihre Geschichte zu erzählen. Darauf meinte Franz, dass er sie hier herausholen werde, koste es was es wolle. Seine Anke, mit der er schon lange verheiratet sei, würde sicher dafür Verständnis haben. Rita aber meinte, dass sie sich nach all den Jahren mit ihrem Schicksal abgefunden habe und dass sie dieses Leben so weiter führen wolle; es wäre für sie nicht das schlechteste. Und kein Mensch würde eine wie sie haben wollen, es sei nun mal eine Tatsache, dass sie so leben müsse, auch wenn sie daran unschuldig sei. Ihr Zuhälter habe ihr am ersten Tag gesagt, dass er aus ihr noch ein richtiges Schmusekätzchen machen würde, und das sei sie jetzt. Dass sie bei der Nennung ihres Namens Rita so erschrocken reagiert habe, käme daher, daß sie hier diesen Namen habe. Sie heiße eben das „Schmusekätzchen“.

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