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Kapitel 4
ОглавлениеVerändere deinen Blick auf die Dinge.
Das zunehmende Licht erhellt nicht nur die Landschaft.
Es steigt auch in dir selbst auf, aus den Tiefen deines Geistes.
Werde dir der Macht bewusst, die dir gegeben ist,
früh am Morgen, im Angesicht der aufgehenden Sonne.
»Wir sind gleich da.« Lisa stoppte den Wagen. Ich hatte aus dem Seitenfenster geschaut und blickte nun nach vorn. Im Scheinwerferlicht konnte ich einen hohen Zaun erkennen. Kein einfacher Maschendraht sondern viel stabiler. Er ragte gefühlte drei Meter vor uns in die Höhe. Am oberen Ende war Stacheldraht aufgerollt. Es wirkte wie ein Hochsicherheitstrakt im Gefängnis.
Auf der Straße befand sich ein schweres, eisernes Tor. Lisa stieg aus dem Wagen und öffnete es. Es war gar nicht verschlossen. Der Anblick des Zaunes und des schweren Tores machte mir Angst. Der Gedanke an eine Sekte wurde immer größer, aber ich wollte mir meine Angst nicht anmerken lassen. Weglaufen hätte eh keinen Sinn gehabt. Von hier aus würde ich nie wieder den Weg zurück finden. Ich räusperte mich. »Dein Bruder hat wohl nicht gern Besuch, was?«
Lisa zuckte stumm mit den Schultern und fuhr durch das Tor. Dann hielt sie erneut an, stieg aus und schloss das Tor hinter unserem Wagen. Als sie wieder hinter dem Steuer saß, fragte ich sie, warum das Tor nicht abgeschlossen sei, wenn ihr Bruder schon einen hohen Zaun um sein Grundstück baute.
»Damit man rein und raus kommt, natürlich«, erklärte Lisa.
»Natürlich.«
Ich wartete darauf, dass Lisa weiterfuhr, aber sie tat es nicht. Stattdessen schaute sie in ihren Außenspiegel.
»Lisa?« Ich stupste sie mit einem Finger an der Schulter an. »Schläfst du?« Doch sie reagierte nicht. Ich rutschte zurück auf meine Seite und drehte meinen Spiegel etwas nach innen, damit ich sehen konnte, was Lisa entdeckt hatte. Ich sah nichts. Außer dem eisernen Tor konnte ich nichts erkennen. Lisa beobachtete immer noch ihren Außenspiegel.
Nun kurbelte ich das Fenster hinunter und lehnte mich hinaus, um mehr sehen zu können. Hinter dem Tor bewegte sich etwas. Es lief Richtung Zaun. Es musste ein Tier sein, da es auf vier Beinen lief. Es war ein großes Tier. Es stapfte schwermütig am Zaun entlang und blieb stehen. Nun drehte es den Kopf in unsere Richtung.
»Oh Gott, Lisa! Da ist ein Bär! Ein riesiger Bär!«, schrie ich, als ich ihn erkannte, und kurbelte das Fenster schnell wieder hoch. »Nun fahr doch los! Wenn der das Tor aufmacht, frisst er uns! Er hätte dich angreifen können, als du ausgestiegen bist! Lisa, jetzt fahr endlich!« Ich fuchtelte mit den Armen, um sie zum Fahren zu bewegen.
Lisa stöhnte auf. »Wie soll er bitte das Tor aufmachen? Er müsste die Riegel öffnen. Das schafft er mit seinen Pranken doch gar nicht. Genauso müsste er unsere Wagentüren aufbekommen. Mal ehrlich: sieht der Bär so aus, als ob er uns fressen will?«
Der Bär naschte an einem Beerenstrauch, der am Zaun wuchs. Solange er sich für Futter nicht anstrengen musste, würde er sich bestimmt nicht auf uns stürzen.
»Ganz ruhig, Mia. Wir sind hier in den Wäldern. Hier leben nun mal wilde Tiere. Hinter dem Zaun bist du sicher.«
»Ich verbringe also eine Woche in Fort Knox, umgeben von wilden Tieren, die mich zerfleischen könnten, wenn ich auch nur einen Schritt nach draußen wage. Das ist ja super.« Oder ich würde irgendwelche Gebete auswendig lernen und stundenlang aufsagen müssen. Oder würde an einen alten Mann verheiratet und bei einem Fluchtversuch erschossen werden. Vielleicht käme Thomas, um mich zu retten. Nur, wenn ich keinen Kontakt zur Außenwelt hätte, wie sollte ich ihm dann sagen, dass ich gekidnappt wurde?
Lisa lachte. »So schlimm wird es mit Sicherheit nicht werden. Hier gibt es zwar ein paar Sicherheitsvorkehrungen, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht rausgehen können.«
Sicherheitsvorkehrungen? Das klang gar nicht gut. »Und wenn wir angegriffen werden, wenn wir raus gehen?« Sei es nun von einem Tier oder einem Sektenmitglied.
»Mia! Wir werden nicht angegriffen! Die Tiere haben mehr Angst vor dir als du vor ihnen!«
Sie ahnte zum Glück nicht, welche irrsinnigen Gedanken ich an eine Sekte hatte.
»Warum dann der Zaun?« Ich ließ nicht locker. Irgendetwas stimmte hier nicht und ich fühlte mich, als würde man mich einsperren wollen.
»Weil hin und wieder ein paar Tiere zum Dorf gelangt waren und wir die Kinder schützen wollen. Die haben noch nicht die Erfahrung und könnten etwas machen, was die Tiere falsch verstehen.«
»Dorf? Kinder? Lisa! Wo bringst du mich hin? Ich dachte wir fahren zu einer einsamen Hütte im Wald! Auf einmal redest du von Kindern, die von Tieren attackiert werden könnten!«
Lisa legte ihre Stirn auf das Lenkrad und schloss die Augen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Da es wieder mehr Luft als Blut pumpte, musste ich husten. Nun wurde mir auch langsam übel. Ich umklammerte meinen Bauch und schnappte nach Luft.
Lisa drehte sich zu mir und rutschte näher. Sie legte ihre Arme fest um mich. »Mia, Liebes. Ich kann dir jetzt noch nicht alles erzählen. Bitte lass es auf dich zukommen. Es wird dir nichts passieren. Das schwöre ich. Bitte vertrau mir. Hab ein wenig Geduld.« Sie lockerte ihren Griff und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände. »Ich habe dir versprochen, dass es ein wunderbarer Urlaub sein wird. Und dieses Versprechen werde ich halten. Mensch Mia! Du bist in den Rocky Mountains. Genieß es doch endlich! Die Natur hier ist einfach atemberaubend.«
Sie hatte recht. Ich befand mich in einer neuen Welt und hatte nichts Besseres zu tun, als nur das Schlechte darin zu sehen. Jeder andere Mensch hätte sich gefreut, einem Bären oder einem Hirsch zu begegnen und hätte ein paar Erinnerungsfotos geschossen. Ich hingehen bekam Panik. Ich löste die Arme von meinem Bauch, damit sich mein Atem beruhigen konnte.
»Alles ok?«, fragte Lisa.
Ich nickte. »Zu Hause war einfach zu viel Chaos in letzter Zeit. Dann der lange Flug, der Hirsch, den du fast überfahren hättest und der Bär. So was kenne ich nur aus dem Zoo.«
Lisa wuschelte mir durch die Haare und lachte. »Na, dann wird es Zeit, dass du die Tiere mal in der freien Natur kennenlernst. Wer weiß, vielleicht verliebst du dich ja in sie.«
»In die Bären?«
»In die Natur.«
Ich lachte. Die Anspannung ließ nach und ich hatte beinahe meine alte Lisa zurück. »Ein Bär wäre eh nicht mein Typ. So pummelig und so …«
»Kuschelig wie ein Teddybär?« Lisa kicherte. »Welches Tier wäre denn dein Typ?« Neugierig linste sie zu mir herüber und gab endlich wieder Gas. Wir schaukelten weiter über die Straße, an hohen Bäumen entlang und entfernten uns vom Zaun.
»Ich weiß nicht. Bei jedem Tier mit Fell hätte ich immer Haare im Mund beim Knutschen.«
Lisa bekam einen Lachanfall, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Angesteckt von ihr musste ich mitlachen. Wir machten unsere Späße, indem wir uns Tiere in der Menschenwelt vorstellen. Wir steckten einen Gorilla in Herrn Riedbergs Hemd und seine Sekretärin verglichen wir mit einer Ziege, die mit Minirock und High Heels herumstolzierte. Manche Prominente tauschten wir gegen Pferde und Papageien aus und so verging die Zeit recht schnell, bis ich zwischen den Bäumen Lichter erkennen konnte.
Sie blitzten wie goldene Glühwürmchen auf und verschwanden wieder. Je näher wir kamen, desto mehr Glühwürmchen tauchten auf. Gespannt spähte ich in die Dunkelheit vor uns, um etwas erkennen zu können. Wir fuhren einen kleinen Hügel hinauf und blickten von oben herab auf ein winziges Dörfchen. Es bestand aus wenigen Holzhütten, die u-förmig angeordnet waren. An jeder Seite standen acht Hütten. An der Stirnseite befanden sich die größten von ihnen. Vor jeder Hütte brannte eine kleine Laterne. Das gelbe Licht war nicht sehr hell, aber alle Laternen zusammen konnten den Platz in der Mitte ein wenig ausleuchten. Es gab also Strom.
An der offenen Seite des Dorfes parkten ein paar Jeeps. Genau wie unser Mietwagen sahen sie nicht gerade neu aus. Auch diese Jeeps waren zerbeult und der Lack splitterte an einigen Stellen ab.
Ganz außen fiel mir jedoch ein anderer Geländewagen auf. Er besaß eine offene Ladefläche und sah nagelneu aus. Er war riesig im Gegensatz zu den Jeeps.
»Das gehört nicht alles deinem Bruder, oder?«, fragte ich Lisa. In meinem Kopf hämmerte der Sektengedanke wieder an meine Schädeldecke.
»Nein. Mein Bruder ist ein Teil davon.«
Ich konnte mich nicht mehr zurück halten. Diese Ungewissheit, was mit mir passieren würde, trieb mich sonst in den Wahnsinn. »Du bringst mich doch nicht etwa in eine Sekte?«
»Quatsch. Du nun wieder mit deinen Hirngespinsten!« Lisa schnaubte. »Sieht das nicht total romantisch aus?«
Mir fielen zentnerschwere Steine vom Herzen. Ich ärgerte mich, dass ich überhaupt auf diesen unmöglichen Gedanken gekommen war. Lisa war meine Freundin. Wäre sie in seiner Sekte gewesen, hätte ich das doch gemerkt oder sie hätte es in den Jahren, in denen wir uns kannten, wenigstens mal erwähnt.
Ja, es sah sehr romantisch aus. Die kleinen Hütten strahlten etwas Uriges und Gemütliches aus. Zum Glück konnte ich nirgends Plumpsklos entdecken.
»Ich fühle mich hier immer zu Hause. Du wirst es lieben.« Lisa hielt in einer Lücke zwischen den parkenden Autos an – direkt neben dem riesigen Geländewagen. Unser Jeep war wirklich winzig dagegen.
Ich öffnete die Tür und rutschte vom Sitz. Endlich stehen. Wieder streckte ich mich, während ich das schwarze Monster neben mir betrachtete. Der Lack glänzte. Die Lichter der Hütten spiegelten sich darin wie kleine Sterne. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um in das Fenster gucken zu können. Im Inneren des Jeeps sah alles neu aus. Im Fußraum des Beifahrers lag eine kleine Decke. Die Ladefläche war vollkommen leer. Ich schlich um den Wagen herum, bis ich vor ihm stand. Er hatte eine bullige Front und die Scheinwerfer schauten mich böse an. Ich stemmte die Hände in die Seiten und ließ den Anblick auf mich wirken. Nun hatte ich also nach dem größten Flugzeug auch das größte Auto meines bisherigen Lebens gesehen.
»Was für ein Schiff«, murmelte ich und schüttelte den Kopf.
Lisa stellte sich neben mich. »Oh Mann.«
»Riesig, was?«
»Schwanzverlängerung«, erwiderte Lisa trocken.
»Dann scheinst du den Besitzer ja genau zu kennen.« Ich zwinkerte Lisa zu und boxte ihr leicht in die Seite, um sie zu necken.
»Er war letztes Jahr kurz hier, als ich Jan besucht habe. Im Sommer ist er meistens in Clearwater.«
Es wunderte mich, dass Lisa bei diesem Thema so sachlich blieb. Normalerweise biss sie gleich an, wenn ich anfing, über so etwas Späße zu machen. »Und? Muss da was verlängert werden?«
»Keine Ahnung. Ich habe selten mit ihm gesprochen, geschweige denn das Verhältnis zu ihm vertieft. Aber warum sonst sollte Mann sich hier solch ein Auto kaufen?«
»Du hast selten mit ihm gesprochen? So viele Menschen scheint es hier nicht zu geben, dass man sich aus dem Weg gehen könnte.«
»Er geht nicht viel unter Menschen. Wir haben hier ein Gemeinschaftshaus. Dort habe ich ihn noch nie gesehen. Er schlich jeden Tag um die Hütten herum, verschwand im Wald und kam abends wieder. Ein komischer Kerl. Aber jetzt komm! Ich habe Hunger und will endlich ins Bett.«
Ich ließ es gut sein, obwohl ich doch ein wenig neugierig war, was für ein Typ der Fahrer dieses Monstrums war. Wir holten unsere Koffer aus dem Jeep und gingen zu einer der letzten Hütten vor der Stirnseite. Als wir den Platz überquerten, fiel mir der große Stamm auf, der in der Mitte aufgestellt war. Es waren Figuren hineingeschnitzt. Ich konnte leider nicht viel erkennen, da das Licht sehr schummrig war. Nur den Vogel, der ganz oben auf dem Stamm thronte, konnte ich erahnen.
»Der Marterpfahl?«, fragte ich und griff mir als Scherz an den Hals, als ob ich mich erwürgen würde.
»Der Pfahl des glücklichen Mannes«, antwortete Lisa streng.
Ich grinste. »Also ein Phallussymbol?«
Lisa drehte sich zu mir um. »Ein Symbol für den Mann, der glücklich ist!« Ihre Stimme klang hart, fast verärgert.
Mir lag schon ein weiterer Spruch auf der Zunge, aber bevor ich ihn los werden konnte, kam jemand mit ausgebreiteten Armen auf uns zugelaufen.
»Lisa! Endlich seid ihr da. Wir haben uns Sorgen gemacht. Es ist schon spät. Warum hat das so lange gedauert? Hatte der Flieger Verspätung?«
Der Mann rannte Lisa fast um, als er sie in seine Arme nahm. Er hatte die gleiche Haarfarbe und auch die Locken ähnelten sich. Seine Haare waren nicht so lang wie Lisas, aber lang genug, dass er sie zu einem kleinen Zopf zusammenbinden konnte. Er trug ein blaues Hemd und eine khakifarbene Hose. Die Klamotten waren etwas zu weit, aber von der Länge her passten sie. Er hatte wohl die gleichen Probleme wie Lisa, etwas Passendes zu finden mit seiner schlanken, sehr hochgewachsenen Figur. Er überragte sie sogar noch um einen Kopf. Das war wohl Jan. Dafür, dass er fünfunddreißig Jahre alt sein sollte, sah er noch verdammt jung aus. Er machte mit seinem Auftreten eher den Eindruck, als sei er der Hippiezeit entsprungen, als dass ihm eine Mall-Kette gehörte. Ich hatte jemanden im Anzug erwartet.
»Du musst Mia sein!« Der Mann löste sich von seiner Schwester und umarmte mich nicht weniger stürmisch. »Herzlich Willkommen. Ich freu mich so sehr, dass du endlich da bist.«
»Du bist Jan?«, keuchte ich. Er drückte mich so fest an seine Brust, dass ich kaum Luft bekam.
»Ja, das bin ich. Der große Bruder. Als solch einen darfst du mich auch gerne sehen: Als deinen großen Bruder.«
»Peace, Bruder«, hechelte ich ins Hemd.
Jan lachte und ließ mich endlich los. »Ich hoffe das wirst du hier finden. Den Frieden.«
Was redeten bloß alle von Frieden? Erst Lisa auf der Fahrt hier her und jetzt auch noch Jan.
»Ich habe für euch Bohneneintopf warmgehalten, den ich heute Mittag gekocht habe. Ihr habt sicher Hunger.« Jan griff nach unseren Koffern und trug sie in die kleine Hütte.
Das Haus war von innen viel größer, als es von außen wirkte. Es war ein großer Raum, der in unterschiedliche Bereiche aufgeteilt war. Gegenüber des Eingangs befand sich die Küche – zumindest etwas, was man als Küche bezeichnen musste. Es gab einen kleinen Herd, der mit Gas betrieben wurde. Daneben standen eine kleine Spüle und ein riesiger Kühlschrank, der gar nicht in das Bild passte. Hängeschränke gab es nicht, denn die Küchenzeile stand unter einem Fenster. Vor den Geräten stand ein kleiner runder Holztisch mit vier Stühlen. Rechts neben der Küche führte eine Wendeltreppe in den ersten Stock. Vor der Treppe befand sich eine Tür, wahrscheinlich das Bad. Neben der Tür gab es in der Zimmerecke einen riesigen Kamin, in dem Feuer brannte. Es knisterte und machte den Raum noch gemütlicher.
Den größten Teil nahmen drei alte Sofas ein, die um einen kleinen Couchtisch gestellt waren. Sie waren aus robustem grünen Stoff, über den viele verschiedene Decken gelegt waren. Zu meiner Verwunderung hing an der Wand ein großer Fernseher. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Jan fiel mein Blick auf. »Wir leben hier nicht wie die Hinterwäldler. Außerdem sind wir alle verrückt nach Eishockey. Da muss man die Spiele einfach gucken.«
Ich schaute zu Lisa hinüber. »Schon klar. Kein Internet, aber dafür ein Riesen-Fernseher.«
Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Für Internet gibt es hier keine Leitungen. Über Satellit wäre es zu teuer. Darüber können wir wenigstens fernsehen und telefonieren. Strom bekommen wir über vier große Stromgeneratoren, die mit Benzin betrieben werden«, erklärte Jan.
Ich hing meine Jacke an die Garderobe und wollte mich auf eine Couch fallen lassen.
»Moment, wir gehen in die Küche. Der Bohneneintopf wird euch schmecken. Ich habe mich mal wieder selbst übertroffen«, lobte Jan sich selbst und rührte in einem großen Topf, nachdem er unsere Koffer vor die Wendeltreppe gestellt hatte.
Richtig, der Bohneneintopf. Der Geruch erfüllte die gesamte Hütte und mein Magen knurrte. Auch etwas anderes meldete sich bei mir. »Gibt es hier eine Toilette?«
»Durch die Tür dort. Das Bad ist nicht groß, aber es reicht.« Jan zeigte auf die Tür, die ich schon im Verdacht hatte.
Als ich in das Bad trat, musste ich grinsen. Es war wirklich nicht groß: ein kleines Waschbecken an der linken Wand, gegenüber stand das Klo und an der Stirnseite befand sich eine kleine Dusche. Man hätte alle drei Dinge auf einmal erledigen können. Über der Toilette gab es ein winziges Fenster. Ich hätte auf den Klodeckel klettern müssen, um es zu öffnen.
Bevor ich wieder hinausging, warf ich noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Du liebe Güte! Es hatte doch nicht am Licht im Flugzeug gelegen. Meine Augen leuchteten mich in einem satten Grasgrün an. In dem schwachen Licht, das die kleine Lampe an der Decke ausstrahlte, waren sie immer noch so grell wie im Neonlicht des Flugzeuges. Vielleicht wurde ich krank? Oder ich war einfach übermüdet.
Ich ging zurück in die Küche und setzte mich an den Tisch. Jan schob mir einen großen Teller Suppe vor die Nase und stellte mir eine Dose Coke hin.
Der Eintopf schmeckte wirklich gut. Er erinnerte mich an die Suppen, die meine Oma für mich gemacht hatte. Sie schmeckten viel besser als Dosensuppen oder die, die meine Mutter kochte. Das hier war eine deftige Mahlzeit und genau das brauchte ich jetzt, auch wenn ich vor meinem geistigen Auge sah, wie sich die Knöpfe meines Brautkleides spannten.
Während des Essens schwiegen wir. Es war ab und zu ein »Mh« oder »lecker« zu hören, wobei sich Jan weiterhin selbst lobte.
Nachdem wir fertig gegessen hatten, wollte ich meinen Teller abspülen.
»Nein, nein, lass das! Stell ihn einfach in die Spüle! Ich mache das morgen früh! Bitte, heute Abend nicht mehr«, sagte Jan und nahm mir den Teller aus der Hand, um ihn in das Waschbecken zu stellen.
»Wie macht ihr das mit dem Abwasser? Wenn ihr nicht mal am Stromnetz angeschlossen seid, dann habt ihr sicher auch keine Kanalisation«, fragte ich.
»Schlaues Kind«, witzelte Jan. »Wir haben unterirdische Tanks, die jede Woche abgepumpt werden. Es kommen zwei Geländewagen mit je einem Tank. Einer für das Wasser aus den Duschen und den Waschbecken, der andere für den Rest.«
»Wäre es nicht einfacher, näher an einer Stadt zu wohnen, wo man euch an das Versorgungssystem anschließen könnte?« Dieses Thema ließ mir keine Ruhe. Warum machten sie es sich so umständlich? So weit weg von der Zivilisation. Kein Internet, Strom nur von Generatoren und das Abwasser wurde abgepumpt.
»Wir könnten auch alle in den Wald machen und uns im Bach baden, aber so ist es doch angenehmer.« Jan nahm mir meine Fragen zum Glück nicht übel.
»Wie kauft ihr denn ein? Wo ist der nächste Supermarkt? Oder ein Arzt? Was ist, wenn jemand krank wird?«
Jan setzte sich zurück an den Tisch und öffnete sich eine zweite Coke, die er mit ein paar großen Zügen leerte. »Bist kaum angekommen und willst schon alles wissen. Das gefällt mir. Einiges bauen wir selbst an. Wir haben einen Gemüsegarten, Obstbäume und auch Ziegen, Schweine, Hühner und ein paar Kühe. Alles andere kaufen wir auf Vorrat ein. Der nächste größere Ort ist Clearwater. Bis dahin fahren wir knapp drei Stunden. Wir fahren mit mehreren Wagen los und kaufen für alle hier im Dorf ein. Deshalb haben wir auch große Tiefkühlschränke«, Jan zeigte auf den großen silbernen Kasten in der Küche. »Das, was wir einkaufen, muss ein paar Wochen reichen. Wenn jemand krank wird, holen wir uns Hilfe in der Natur. Und für den allergrößten Notfall haben wir einen Hubschrauber.«
Ich schluckte. »Ihr habt einen Hubschrauber?«
Jan nickte, als sei es das Normalste auf der Welt, wenn im Garten ein Helikopter stand. »Hinter dem Dorf gibt es eine Lichtung, die wir als Landeplatz benutzen.«
»Wer bezahlt das alles? Wie verdient ihr euer Geld? Oder übernimmst du alle Kosten?«
»Ich unterstütze das Dorf, wo ich kann und übernehme die größeren Anschaffungen. Nicht jeder lebt für immer hier. Manche sind für ein paar Monate da, andere nur für ein paar Wochen. In der Zwischenzeit gehen sie einer Arbeit nach.«
»Das muss aber eine sehr gut bezahlte Arbeit sein, um hier monatelang Urlaub machen zu können.«
Langsam kam mein Gefühl zurück, dass hier etwas schief lief, dass all das nicht das war, für das es von Lisa und Jan verkauft wurde.
Ich traute mich nicht, weiter nachzufragen, aus Angst, etwas zu erfahren, das ich nicht wissen wollte. Vielleicht waren es ja doch Sektenmitglieder, die auf diese Weise neue Mitglieder warben: Einfach das Flugticket verschenken und hier festhalten und die, die angeblich wieder in die Stadt gingen, wurden als Opfer dargebracht.
Mir fröstelte es bei dem Gedanken und ich bekam eine Gänsehaut. Ich wünschte, ich wäre zu Hause bei Thomas. »Ich muss zu Hause anrufen, dass ich gut angekommen bin«, sagte ich und suchte in meiner Tasche nach meinem Handy.
»Warte.« Jan stand auf und holte aus dem Sideboard, das unter dem Fernseher stand, ein riesiges Mobiltelefon. »Du wirst hier keinen Empfang haben. Schon vergessen? Satellitentelefon.« Er zwinkerte mir zu und reichte mir das Telefon.
Ich wählte die Handynummer von Thomas, die ich auswendig konnte, und ging hinaus. Teils, weil ich ungestört mit ihm reden wollte, teils, weil ich dachte, ich hätte draußen besseren Empfang.
Nach einiger Zeit ging nur die Mailbox ran. Ich hasste es, da drauf sprechen zu müssen, aber da es in Deutschland Mittagszeit sein musste, war er sicher beschäftigt und konnte nicht ans Telefon gehen.
»Sie sind verbunden mit dem Anschluss von Thomas Lehmann. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.«
»Hey mein Schatz, ich bin’s. Wollte dir nur kurz sagen, dass ich gut angekommen bin. Hier ist alles anders als erwartet und ich wünschte, ich wäre wieder bei dir. Internet gibt es nicht, auch keinen Handyempfang. Du kannst mich also nicht erreichen. Ich melde mich morgen noch mal bei dir. Ich liebe dich!«
Ich legte auf und blieb noch einen Moment draußen stehen. Es war bitterkalt, aber die frische Luft tat mir gut. Das Dorf lag wie ausgestorben vor mir. Keine Menschenseele lief draußen herum und auch in den Hütten brannte kaum Licht.
Zwischen den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite führten mehrere Wege in den Wald. Zwischen den Bäumen konnte ich in der Ferne ein Licht erkennen. Stand dort noch ein Haus? Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Nein. Das Licht flackerte. Plötzlich hörte ich Stimmen. Musik drang ebenfalls durch die Bäume zu mir. Sie kam nicht aus Lautsprechern. Es waren Trommeln, wie ich sie aus dem Fernsehen von alten Stämmen in Afrika kannte. Eine Gitarre konnte ich ebenfalls hören. Zu diesem exotischen Rhythmus wurde gesungen.
Da es mir vor dem Haus langsam zu kalt und zu unheimlich wurde, ging ich wieder hinein. »Da draußen steigt eine Party«, sagte ich und gab Jan das Telefon zurück. »Sind etwa alle aus dem Dorf dort?«
Jan nickte.
»Warum bist du nicht da?«
»Weil ich auf euch gewartet habe«, er lachte. »Ich muss doch meine Gäste willkommen heißen.«
»Und deine Schwester ins Bett bringen«, gähnte Lisa.
»Das ist eine gute Idee.« Ich musste mitgähnen. »Ich komme mit.«
»Dann werde ich die Damen in ihr Schlafgemach begleiten.« Jan stand auf und zeigte mit einer einladenden Handbewegung in Richtung Wendeltreppe.
»Die Koffer bringe ich euch hoch. Mia bekommt das linke Zimmer. Lisa schläft in meinem Bett, ich penne so lange unten auf der Couch.«
Die Wendeltreppe war ziemlich eng und ich musste mich konzentrieren, nicht neben die Stufen zu treten. Die Zimmer waren sehr niedrig und die Schrägen des Daches flachten sie an den Außenwänden noch mehr ab.
Ich öffnete die linke Tür. Es war ein sehr kleiner Raum. Das Fenster zeigte nach vorn auf den großen Platz. In der Ferne konnte ich das Flackern des Feuers erkennen. An der rechten Wand, die am höchsten war, stand ein kleiner Kleiderschrank, daneben ein winziger Schreibtisch und ein Stuhl. Alles war aus Holz gefertigt. Auch das Bett, das links unter der Schrägen stand.
»Ich hoffe, das reicht dir«, sagte Jan und stellte meinen Koffer ab. »Es ist nicht groß, aber zum Schlafen wird es hoffentlich genügen.«
»Reicht vollkommen.« Schließlich wollte ich nicht lange hier bleiben.
»Wenn du etwas brauchst: ich bin unten. Sag einfach Bescheid.«
»Mach’ ich. Gute Nacht und vielen Dank, dass wir hier sein dürfen.«
Mit einem Nicken schloss Jan die Tür hinter sich.
Es war still. Nur das leise Trommeln in der Ferne war zu hören. Ich war hundemüde und beschloss, das Zähneputzen für heute ausfallen zu lassen. Ich zog schnell meine Klamotten aus, warf sie über den Stuhl und kramte meinen Snoopy-Schlafanzug aus dem Koffer. Der musste natürlich dabei sein.
Ich fiel schwer auf das Bett und kuschelte mich in die Decke. Es war eine dicke, weiche Daunendecke, die wie ein Berg auf mir lag, aber sie war wunderbar warm.
Das Trommeln wurde immer leiser, bis es schließlich verstummte.