Читать книгу Brief an meinen Sohn - Manuel Bauer - Страница 10

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Heute bist du mein Kanarienvogel. Oben blau, un­ten grün. Die Hose hast du zu Weihnachten bekommen. Die Hose ist zu lang. Ja, du bist zehn. Aber nicht die Norm. Hosen für Zehnjährige sind dir zu gross.

Ich zieh dir den Pyjama aus. Du schläfst. Ich singe. Das gefällt dir. Ich pfeife eine Melodie. Ein scheues Lächeln huscht über dein Gesicht. Dein schönes Lachen. Und jetzt die Socken. Die mit den Monstern drauf. Ahhhrrr, reissen sie ihre Mäuler auf. Willst du das «Ich-darf-alles»-T-Shirt? Gefällt dir die Aufschrift? Ich finde sie toll. Du kannst nichts, aber du darfst alles.

Wenn du nur sagen könntest, was du willst. Ob dir das T-Shirt gefällt? Und die Unterwäsche? Seit zehn Jahren trägst du sie. Wir ziehen sie dir über. Juckt sie? Ist sie angenehm auf der Haut? Wenn ich dich ausziehe, kratzt du dich gerne. Ist es ein Zeichen gegen die Wollwäsche?

Bin ich so gut gelaunt, weil ich endlich zu schreiben begonnen habe? Tut mir das so gut? Aber wenn ich so gut gelaunt bin, kann ich dann noch schreiben? Kommen mir dann die traurigen Momente noch in den Sinn? Die sind doch auch wichtig, die gehören doch auch zu dir und mir.

Keine Bange. Schon kämpfe ich mit dem Pullover. Blau. Ich krieg ihn nicht über deinen Arm. Du schläfst. Hilf mir doch, wenigstens ein bisschen. Du darfst auch weiterschlafen, einfach ein bisschen mit­machen. Bitte. Alles ist verdreht. Wieso muss denn dieser Ärmel so eng sein?

Heute bleibe ich geduldig. Ich habe gut geschlafen. Ja, ich will aufpassen, dass ich dir nicht wehtu, deinen Arm beim Einfädeln in den Ärmel nicht zu fest verrenke. Du kannst nicht auf der Bettkante ­sitzen, heute nicht, ich stütze deinen Kopf mit meiner Brust. Du bist noch warm von der Nacht. Es ist schwierig, du willst immer zur Seite kippen. Fall mir nicht zu Boden, mein Sohn.

Auf dem Treppenlift liegt dein Kopf in meiner Hand. Ich halte ihn fest, sonst fällst du vornüber. Das Umsteigen in den Rollstuhl. Transfer heisst das. Hilf mir. Halt dich ein bisschen fest an mir. Mein Rücken.

Du schläfst. Ich mache die Medikamente bereit. Ich weiss, es hat keinen Sinn. Ich will dich nicht quälen. Und wie sollst du sie auch essen? Du schläfst. Und so in den leeren Magen, das ist nicht fein. Ich rich­te sie dennoch her, koche dir einen Brei. Ich will uns eine Chance geben. Oder etwas gegen mein schlechtes Gewissen tun, weil du heute wieder ohne Frühstück in die Schule gehst.

Ich packe deine Medikamente in deine Tasche, du kriegst sie in der Schule. Guten Morgen, Kurt, der Astronaut schläft. Kurt erklärt mir, wo der Handbetrieb für den Rollstuhllift des Busses ist. Doch dann läuft er wieder automatisch. Kurt freut sich. Die Gurten festgezurrt um das schlafende Kind. Tschüss, Yorick. Einen guten Tag dir.

Brief an meinen Sohn

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