Читать книгу Brief an meinen Sohn - Manuel Bauer - Страница 5
Prolog
ОглавлениеLiebe Marika, erneut schenke ich meine Aufmerksamkeit deinem Bruder. Deine Normalität wird nicht belohnt, die Behinderung erhält die volle Zuneigung deiner Eltern. Ich wünsche dir, dass dich dein Leben belohnt.
Ich besuchte einen Gesprächsabend zum Thema «Geschwister Behinderter». Ja, ich habe bemerkt, wie wichtig es ist, dich nicht zu vergessen.
Wäre ich ein Zebra, würde ich Yorick zurücklassen. Yorick kann nicht gehen. Yorick kann nicht sprechen. Yorick würde sich alleine nicht ernähren können. Und ich könnte mein kleines Zebra nicht auf den Rücken nehmen. Ich würde mit dir weiterziehen. Ohne Yorick.
Ich bin ein Mensch. Wir können uns um die ganz Schwachen kümmern. Ich versuche, mich auch um dich Gesunde zu kümmern. Wir haben Schönes gemacht, ohne deinen Bruder. Und doch ist es eine Tatsache, dass du einen mehrfach schwerbehinderten Bruder hast. Er gehört zu deinem Leben. Wir haben Schönes gemacht, zusammen mit deinem Bruder.
An dem Abend, als ich lernen wollte, dich nicht zu vergessen, lernte ich viel über mich. Die Referentin sprach nicht nur über dich. Ich bin wie du. Dein Onkel brauchte die ganze Aufmerksamkeit deiner Grosseltern. Ich war der gute Sohn, ich hab immer funktioniert. Ich hab keine Probleme zu machen versucht, Probleme hatten meine Eltern mit meinem Bruder. Ich wollte da nicht zusätzlich Kraft kosten. Ich hab geholfen. Ich habe meinen grossen Bruder auf dem Pausenhof gegen die Hänseleien der Starken verteidigt. Ich war für die andern da. Bis es mich selber nicht mehr gab.
An dem Abend lernte ich, zu mir selber zu schauen. Weil du sonst einen Vater hast, den es nicht gibt. Einen Vater, der Yorick nichts nützt, wenn er nur mehr ein Wrack ist. Ich wünsche dir, dass du zu dir zu schauen lernst. Darum schreibe ich dieses Buch. Für mich, für dich. Vielleicht für Yorick.