Читать книгу Hinter den Feldern - Manuel Deinert - Страница 5
Kalle Zitterbart
ОглавлениеAm nächsten Morgen ging ich in die Küche und wollte frühstücken. Das Haus roch bereits nach Mas selbstgebackenem Brot und auf dem Tisch standen verschiedene Marmeladengläser. Auch die mit Orangen, die ich so gerne mochte. Als ich mich an den Tisch setzte, kam Ma von draußen herein. Sie hielt einen Korb voll Eier in der Hand.
»Wo ist Großvater?«, fragte ich sie, da Großvater und ich in den Ferien oft gemeinsam frühstückten.
»Der arbeitet bereits am Hühnerstall«, sagte Ma und stellte den Eierkorb auf die Fensterbank neben den bunten Blumentopf, in dem ein Büschel Petersilie wuchs.
»Darf ich ihm dabei helfen?«, bat ich sie.
»Wir brauchen Butter. Die kannst du unten bei der Trude holen.«
Die Trude hatte in Försterhausen einen kleinen Laden. Sie selbst hatte ihn Tante Trudes Allerlei getauft, so stand es auf der großen Holztafel über der Eingangstür. Die Leute sagten aber immer: »Hol das mal bei der Trude« oder: »Musst du mal bei der Trude gucken«. Sie war nämlich von niemandem die Tante. Dafür hatte sie aber wirklich allerlei in ihrem Laden. Obwohl der Raum nicht größer war als unser Wohnzimmer, gab's bei Trude mehr Auswahl als in einem richtigen Kaufhaus. Kalle Zitterbart behauptete, dass der Weihnachtsmann bei der Trude seine Geschenke kaufe, weil sie einfach alles habe. Auch wenn ich Kalle nicht viel glaubte, aber das schon.
»Kann ich nicht erst frühstücken?«, fragte ich und schnupperte den herrlichen Brotduft.
»Das Brot muss erst auskühlen. Wenn du wieder da bist, darfst du gerne zulangen.«
Ma gab mir das Geld und ermahnte mich, ja langsam zu gehen. Ich versprach es ihr und machte mich auf den Weg ins Dorf. Wir wohnten am Rande von Försterhausen. Unser Haus grenzte an die Felder, hinter denen nur Wald und noch mehr Wald lag. Zur Trude ging es in die andere Richtung. Wenn man sich beeilte, schaffte man den Weg in zehn Minuten. Ich musste nur an zwei Bauernhöfen vorbei und bis zur Kreuzung runter. Dann kam die Bäckerei und daneben stand Tante Trudes Allerlei. Wir hatten auch eine Kirche und eine Sparkasse, wo mein Pa arbeitete. Die standen aber am Marktplatz eine Kreuzung weiter. Am Marktplatz war auch das windschiefe Bürgerhaus, wo Lissi ihre Ausbildung machte.
Ich ging die Straße entlang und achtete auf meine Lunge. Ich durfte mich nicht groß anstrengen, sonst würde ich wieder husten müssen. Im Sommer war es besonders gefährlich, wegen der Pollen und Gräser, die überall umherflogen. Ich hasste es, wenn ich einen Hustenanfall bekam. Meine Lunge klang dann immer wie ein zugeschnürter Dampfkessel, aus dem die Luft raus will, aber nicht kann. Nur dass es bei mir andersrum war, die Luft wollte rein, kam aber nicht durch. Manchmal machte mir das Angst, aber ich hatte ein paar Übungen gelernt, wie ich die Ruhe bewahren und meine Lunge beruhigen konnte. Außerdem inhalierte ich jeden Abend mit Hilfe des elektronischen Inhalators eine Medizin, die so übel roch und auf der Zunge kribbelte, dass sie einfach helfen musste. Jetzt war aber alles in Ordnung und so freute ich mich an den Holundersträuchern, die in voller Blüte am Straßenrand standen. Das bedeutete, Ma würde bald Holundersirup machen, und den mit Wasser gemischt trank ich so gerne wie Großvater seinen Fliederschnaps. Vielleicht ließ Ma das aber wegen Tschernobyl bleiben. Das musste ich sie unbedingt fragen, sobald ich zuhause war.
Ein Eichhörnchen huschte über die Straße und mir fiel die Geschichte vom Zapfenstreich ein, die Großvater mir vor einigen Tagen erzählt hatte. Ma hatte gerufen, dass jetzt Zapfenstreich sei und ich ins Bett gehen solle. Auf die Frage, was ein Zapfenstreich sei, meinte Großvater, dass das ein Tadel der Eichhörnchen sei. Wenn ihnen jemand quer kam, bewarfen sie ihn mit Tannenzapfen. Ma meinte, das sei Quatsch, aber eine bessere Erklärung hatte sie auch nicht.
Ich hielt also meine Hände abwehrend über meinen Kopf und rief dem Eichhörnchen hinterher, dass ich ihm nichts tun würde. Zum Glück verstand es mich. Es huschte die Fichten hinauf und spielte mir keinen Zapfenstreich.
Bei Trude angekommen, musste ich erst einmal nach der Butter suchen. Nur weil Trude alles hatte, hieß das nicht, dass man auch alles fand. Schließlich fragte ich sie danach. Bei dem Namen Trude denkt man an ein hutzeliges Weib mit Buckel. Aber unsere Trude war so alt wie meine Ma und kerzengerade gewachsen. Zielsicher ging sie durch die Regalreihen und reichte mir ein Päckchen Butter.
»Freust du dich auf die Ferien?«, fragte sie mich, als ich ihr das Geld reichte.
Ich nickte, denn Ferien bedeuteten für mich vor allem Erlösung. Erlösung von Kalle Zitterbart. Wann immer er Gelegenheit dazu hatte, verspottete er mich oder heckte etwas gegen mich aus. Er war Paul Zitterbarts jüngster Bruder. Jenes Pauls, mit dem Lissi seit gestern ging, was immer das auch bedeuten sollte. Wohin ging man miteinander und was geschah, wenn man miteinander irgendwo ankam?
»Fahrt ihr in den Urlaub?«, erkundigte sich Trude.
Ich schüttelte den Kopf. Pa hatte geplant, mit uns allen zu Großmutter Gerdi ans Meer zu fahren. Großmutter Gerdi war die Ma von Ma, und wir sahen sie nicht oft. Lissi hatte einen Luftsprung gemacht, sie liebte das Meer. Auch Ma hatte sich gefreut. Nicht nur, weil sie ihre Ma sehen würde, sondern weil die salzige Luft meiner Lunge gut tun würde. Aber dann war einer der beiden Arbeitskollegen von Pa krank geworden und so mussten wir den Besuch verschieben. Diesmal nur zur Freude von Lissi, die jetzt Paul viel lieber mochte als das Meer.
»Du bist heute aber nicht sehr gesprächig, wie?«, lachte Trude und gab mir das Wechselgeld. »Ist wohl noch zu früh.«
Mit großen Augen sah ich sie an. Sollte ich ihr von Pas Arbeitskollegen erzählen? Was hätte es genützt? Gesunde Bankangestellte konnte man bei Trude leider nicht kaufen. Also zuckte ich die Schultern und ging wortlos hinaus.
»Grüß deine Mutter von mir, ja?«, rief Trude mir hinterher.
Zehn Minuten Rückweg trennten mich von meinem Frühstück. Mit hungrigem Magen stiefelte ich los. Als ich die Kreuzung überquert hatte, ließ mich eine unverwechselbare, quäkende Lache zusammenzucken. Ich drehte mich um. Hinter mir stand Kalle Zitterbart mit zwei Jungs aus meiner Klasse, Tom und Benny.
Hastig schaute ich mich um, welche Fluchtmöglichkeiten sich mir boten. Den Weg zur Trude hatten sie mir versperrt und auf meiner Straßenseite gab es nur noch ein Restaurant, das aber erst mittags öffnete.
»Na, Lungenlurch?«, fing Kalle auch gleich an. Seine kleinen Augen passten perfekt in sein rundes Gesicht mit dem blonden Stoppelhaar und den Segelohren. Es war mir immer ein Rätsel gewesen, wie jemand, der Zitterbart heißt und aussieht wie ein Schwein, Anführer einer Bande werden konnte. Ich erklärte es mir damit, dass sein Vater der Bürgermeister war und zudem den größten Hof in Försterhausen besaß.
Kalle starrte auf das Päckchen in meiner Hand. »Hat deine Mutter keine Butter?« Er drehte sich zu seinen Jungs. »Dann gibt’s wohl heut' kein Futter.« Wieder klang seine quäkende Lache, als würde man einer Sau die Kehle durchschneiden. Als wäre diese Lache nicht schon abstoßend genug, so verschlimmerte Kalle sie noch durch seine Angewohnheit, seine Gemeinheiten in Reimen auszudrücken. Als würden sich die Schindereien dadurch besser einprägen.
»Lass mich in Ruhe«, sagte ich kleinlaut und sah ihm in die runden Augen, die vor Streitlust nur so funkelten. Wie gerne hätte ich ihm einfach eine gescheuert. Aber zum einen stand ich allein gegen die drei Jungs da, und zum anderen fehlte mir der Mut. Und selbst wenn ich ihm eine scheuerte, würde Kalle mich einfach zermatschen. Er war der größte Raufbold der Schule.
Kalle legte seinen Arm um mich. »Willst du unsere neue Sau kennenlernen?« Die Jungs lachten. »Weißt du überhaupt, was eine Sau ist?« Kalle fasste sich mit der freien Hand an die Stirn. »Stimmt ja, ihr seid ja keine Bauern. Ihr seid so feine Pinkel. Ihr habt ja keine Schweine. Und weil Lurchi Asthma hat, habt ihr noch nicht einmal einen Hund oder eine Katze.« Er hielt inne. »Aber halt, ein Haustier habt ihr ja doch: eine Gans. Die Lissi.«
Ich versuchte, mich aus seiner Umarmung zu befreien, da hörte ich Schritte.
»Was ist mit Lissi der Gans?«, fragte eine mir sehr vertraute Stimme.
Ich drehte mich um. Lissi bog mit einer Brötchentüte in der Hand um die Ecke. Belustigt sah sie auf Kalle herab. »Ich bin also eine Gans? Na, wenn das dein großer Bruder erfährt!«
Kalle ließ von mir ab und fing an zu stottern. »Nein, ähm, nein, Lissi, das hast du falsch verstanden. Ich wollte sagen, du bist eine ganz, ganz famose Freundin für Paul.«
»Das ist aber ganz, ganz freundlich von dir, Kalle. Du bist ja ein richtiger Casanova.«
Kalle lief rot an und Tom und Benny kicherten. Ich sah beschämt zu Boden. Ich war zwar heilfroh über meine Rettung, aber echte Kerle prügelten sich, hatten Gewehre oder einen Wolfshund, oder zumindest einen großen Bruder. Ich hatte eine ältere Schwester mit Brötchen in der Hand, die mir den Arsch rettete.
Kalle und Kumpanen flüchteten in Richtung Tante Trudes Allerlei. Lissi kniete sich vor mich hin und drückte mich. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte. Es war zwar nichts in Ordnung, aber immerhin war ich ohne weitere Beleidigungen und Schubsereien davongekommen.
»Dann ab mit dir nach Hause.« Sie sah auf das Butterpäckchen in meiner Hand. »Sonst macht Ma sich wieder Sorgen.«
Lissi klopfte mir auf die Schulter und gab mir einen kleinen Schubs, damit ich mich in Bewegung setzte. Ich versuchte, sie anzulächeln, was mir aber misslang. »Schon gut«, sagte sie. »Kalle ist einfach ein Arschloch.« Damit drehte sie sich um und verschwand in Richtung Bürgerhaus.
Ich seufzte und trottete den Weg zurück nach Hause. Diesmal achtete ich nicht auf die Holundersträucher. Ich war wütend. Wütend auf mein Asthma, wütend auf Ma, die mich hierher geschickt hatte, wütend auf Kalle. Ich war so sauer, ich hätte nicht einmal bemerkt, wenn mich ein Eichhörnchen mit Zapfen beworfen hätte.