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Am Hühnerstall

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Nach dem Frühstück half ich Großvater beim Ausbessern des Hühnerstalls. Ein paar Bretter mussten ausgetauscht werden. Ich reichte ihm Hammer und Nägel und legte die benutzten, rostigen Nägel beiseite. Die Hühner waren in heller Aufregung. Sie gackerten wild umher, scharrten im Boden, pickten nervös hier und da ein Maiskorn auf und schauten immer wieder zu uns herüber. Sie mochten es nicht, wenn man zu lange am Stall herumlungerte. Wir sahen nicht aus wie Füchse, dennoch hielten sie uns für verdächtig.

»Was ist denn heute los mit dir?«, fragte Großvater mich nach einer Weile. »Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter. Ich dachte, du freust dich, endlich wieder draußen zu sein.«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte nicht von Kalle sprechen. Großvater konnte mir ohnehin nicht helfen.

»Na, spuck's schon aus.«

Ich schob mit dem Schuh die alten Nägel, die auf dem Boden lagen, zusammen. »Das ist nicht fair«, sagte ich schließlich und verschränkte die Arme.

»Was genau ist nicht fair?«

»Ach, Kalle und die anderen blöden Jungs machen sich immer über mich lustig.«

»Weil du anders bist«, sagte Großvater.

»Weil ich klein und schwach bin«, sagte ich trotzig.

»Weil du anders bist.« Er setzte sich auf den Werkzeugkoffer. »Siehst du, mein Knie hat mich früher auch zum Gespött in der Klasse gemacht.« Ich schaute zu den Hühnern, ich wollte jetzt nichts davon wissen. »Sie nannten mich immer Krücke. Sie nahmen mir meinen Schulranzen oder meinen Apfel und liefen damit weg. Ich konnte nichts dagegen machen. Manchmal hängten sie den Ranzen in einen Baum, so dass ich nicht herankam. Oder sie warfen den Apfel hin und her, so dass ich hätte springen müssen, um ihn zu fangen. Aber das konnte ich nicht. Ich war stinkwütend auf sie.«

Ich horchte auf, stinkwütend war ich auch. »Und was hast du gemacht?«

»Ich habe zwei Äpfel mit in die Schule genommen. Den ersten überließ ich ihnen und den zweiten versteckte ich in der Hosentasche.«

»Und den Ranzen?«

»Den ließ ich im Baum hängen.«

Mit großen Augen sah ich Großvater an. »Hat der Lehrer nichts gesagt?«

»Und ob der was gesagt hat! Die Jungs mussten sofort los und ihn holen.«

Das freute mich, aber meine Laune wurde nicht besser. Kalle nahm mir nichts weg, außer vielleicht meine Ruhe. Er machte sich lustig über mich, und ich wollte doch nichts mehr als auch laufen und schwimmen und Rad fahren. Ich wollte so sein wie sie: frei. Großvater merkte, dass ich grummelte. »Was genau ärgert dich? Dass die Jungs dich aufs Korn nehmen, oder dass du krank bist?«

Ich wusste nicht, was mich mehr ärgerte, also schwieg ich.

»Die Jungs können dich nur so lange ärgern, wie du dich selbst ärgerst. Lass sie reden. Sie hören auf, wenn du sie nicht beachtest. Ich nahm genau eine Woche zwei Äpfel mit zur Schule. Danach hatten die Jungs keine Lust mehr, mir den Apfel wegzunehmen.«

Ich dachte darüber nach. Es war einen Versuch wert. Vielleicht würde es Kalle zu langweilig werden, wenn ich mich nicht mehr aufregte oder jammerte.

Großvater reichte mir den Hammer und einen Nagel. »Du musst übernehmen, meine Pumpe macht mir heute zu schaffen.«

Er blieb sitzen und massierte sich die Brust. Ich hielt den Nagel ans Brett und vergewisserte mich, dass Ma nicht sah, was ich tat. Hämmern und Asthma vertragen sich nämlich nicht gut. Von Ma war keine Spur zu sehen, also legte ich los. Mit drei Schlägen verschwand der Nagel im Brett. Und bei jedem dachte ich an Kalle. Großvater reichte mir weitere Nägel und ratzfatz war die Latte befestigt.

Großvater nickte anerkennend. »Du bist ja ein richtiger Zimmermann.«

Er reichte mir das nächste Brett und ich hämmerte weiter. Es machte richtig Spaß, mal was anderes zu machen, als Gemüse zu waschen und zu schälen. Vor allem, weil ich mir Kalles runden Kopf vorstellte. Als auch dieses Brett hing, setzte ich mich auf den Baumstumpf, auf dem Großvater immer das Brennholz für den Kamin hackte.

»Wieso macht Kalle das?«, fragte ich Großvater.

Er überlegte kurz. »Weißt du, Hunde jaulen, wenn man sie alleine lässt. Und Menschen fangen an zu keifen und gemein zu werden, wenn man sie alleine lässt.«

»Aber Kalle ist doch nicht alleine. Die Jungs scharen sich um ihn wie die Hühner.«

Großvater nickte. »Tief im Innern ist Kalle alleine. Er würde es nur nicht zugeben.«

Das leuchtete mir nicht ein. Wie kann man in einer Gruppe alleine sein?

Großvater schien meine Gedanken zu lesen. »Stell dir vor, wenn Ma sich nicht um dich sorgen würde, wenn Lissi dir keine Bücher mitbringen würde, wenn Pa nicht so merkwürdige Sachen für dich kochen würde. Wäre das nicht komisch?«

Ich stellte mir all diese Dinge vor und nickte. Das wäre ganz seltsam.

»Ma, Pa, Lissi, sie alle wären da, doch es wäre alles sonderbar, nicht? Du wärst inmitten all der Menschen alleine, oder?«

Ich staunte. Großvater hatte Recht, man konnte alleine in einer Gruppe sein.

Jäh wurde unser Gespräch unterbrochen. Aus unserer Buchenhecke drang ein Zetern und Zanken wie von einer Elster oder Dohle. Großvater und ich standen auf und wollten nachsehen, was da los war. Wir waren keine drei Schritte gegangen, da stieg eine Elster aus der Hecke auf. Sie trug ein Ei im Schnabel. Hinter ihr her stürmte eine Amsel. Sie versuchte, die Elster aufzuhalten. Wahrscheinlich hatte die Elster ihr das Ei gestohlen. Ein Flügelschlagen und Gekeife, ein Schimpfen und Geschnäbel, Federn wirbelten auf, doch die Elster flog weiter.

Ehe ich überlegte, was ich tat, lief ich der Elster hinterher und schrie sie an. Vor Schreck ließ sie das Ei fallen und verschwand über den Feldern. Die Amsel flog in den Kirschbaum und schimpfte lauthals weiter. Ich rannte zu der Stelle, wo ich das Ei herunterfallen gesehen hatte und erschrak: es war auf dem Rasen gelandet und aufgeplatzt. Das Küken, das wahrscheinlich kurz vorm Schlüpfen gewesen war, schaute nackt und hilflos aus der Schale. Ich bückte mich und wollte es aufheben, um es ins Nest zu setzen. Da sah ich das Blut.

Großvater schaute mir über die Schulter. »Da können wir nichts mehr machen.«

Ich wollte protestieren. Ich hatte schon oft nackte Amselküken unter einer Hecke gefunden und sie wieder ins Nest gesetzt. Die Eltern hatten sie weiter gefüttert, als wäre nichts passiert. Aber hier kam jede Hilfe zu spät.

Ich spürte Tränen in den Augen und drehte mich zu Großvater. »Es wird sterben.«

Er seufzte. Im Baum schimpfte die Amsel. Wie gerne hätte ich ihr das Küken zurückgebracht. Stattdessen würde es bald sterben, entweder an den Verletzungen oder wenn ein Fuchs heute Nacht kam. Das war nicht fair. Das ganze Leben war nicht fair.

Ich nahm das aufgesprungene Ei und stapfte wütend zur Hecke. Dort suchte ich das Nest und legte das Küken hinein. Es sollte wenigstens bei seinen Eltern sein, wenn es stirbt.

Großvater legte seine Hand auf meine Schulter. Tränen liefen mir die Wange hinab. »Das ist nicht gerecht.«

»Ist es gerecht, dass die Amsel die Würmer frisst?«, fragte Großvater mich. »Dass die Elster die Küken frisst? Und der Fuchs die Elster? Ist es gerecht, dass der Jäger den Fuchs schießt?« Er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand. »Es ist alles ein Kreislauf.«

»Den Jäger frisst niemand«, schluchzte ich.

»Der wird vom Baum erschlagen, den die Insekten aushöhlen.«

Ich schmollte. »Das hat er auch verdient.«

»Leon, Gerechtigkeit ist eine seltene Pflanze. Wer sie findet, kann sich glücklich schätzen. Mir ist sie nicht oft begegnet.«

Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und ging zurück zum Hühnerstall, um das letzte Brett festzunageln. Kalle war vergessen, ich schlug alle Ungerechtigkeiten dieser Welt an die Wand und brauchte für jeden Nagel nur zwei Schläge.

Hinter den Feldern

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