Читать книгу Fluch der verbotenen Stadt - Manuel Lippert - Страница 7

Оглавление

Kapitel 1

3

Kriminaloberkommissar Tim Beck saß an seinem Schreibtisch in dem Dienstzimmer der Mordkommission in Brandenburg an der Havel. Er blickte gedankenverloren aus dem Fenster des zweiten Stocks. Das Dienstzimmer war zweckmäßig eingerichtet. Neben zwei hellbraunen Schreibtischen gab es ein Sideboard und einen Aktenschrank sowie ein großes Whiteboard, das an der Wand befestigt war. Die Wände waren weiß verputzt und der Fußboden mit hellgrauem Linoleum ausgelegt. Durch die beiden großen Fenster wirkte der Raum hell und großzügig geschnitten. Sein Kollege, Kriminaloberkommissar Rainer Sauer, saß ihm gegenüber und war auf seinen Bildschirm konzentriert, um den Abschlussbericht zu ihrem letzten Fall zu schreiben. Dabei hämmerte Rainer so sehr auf die Tastatur ein, dass Tim sich nicht sicher war, ob Rainer gerade wirklich den Computer oder eher eine alte Schreibmaschine nutzte.

Rainer war jetzt schon seit zwölf Jahren sein Kollege und seit fünf Jahren arbeiteten sie beide als Ermittler bei der Mordkommission der Polizeidirektion West in Brandenburg zusammen. In den gemeinsamen Jahren war eine Art Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Aufgrund ihres unterschiedlichen Körperbaus wurden Tim und Rainer von den Kollegen gerne „Pat und Patachon“ genannt. Tim war sich nicht sicher, ob Rainer dies wirklich witzig fand, auch wenn er es immer betonte und mit den Kollegen darüber lachte. Seine Vorliebe für karierte Hemden, kombiniert mit Jeans und Lederjacke, dazu seine dunklen Naturlocken, die sein rundes Gesicht umgaben, betonten sein Übergewicht und sein markantes Doppelkinn. Doch in der Mordkommission wusste jeder Kollege, dass man Rainers Fähigkeiten als Ermittler keinesfalls von seinem Äußeren ableiten sollte. Tim dagegen wirkte durch seine schlanke, sportliche Figur und seiner Körpergröße äußerlich wie eine Art Gegenpol zu Rainer. Mit seinen 1,90m überragte er viele seiner Kollegen deutlich. Während Tim eher ein ernster Gesichtsausdruck und eine sachliche Art ausmachten, fiel Rainer durch seine stets gute Laune und seine lockeren Sprüche auf.

Tim hatte in diesem Augenblick Mühe, sich auf den Abschluss ihres letzten Falles zu konzentrieren. Die Körperverletzung mit Todesfolge hatten sie schnell aufgeklärt. Jetzt lag es an der Staatsanwältin und dem zuständigen Gericht, den von ihnen überführten Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Tim und Rainer waren stolz auf ihre sehr hohe Aufklärungsquote bei ihren Fällen. Aber zum Leidwesen von Tim gehörte zu jeder Ermittlung eine lückenlose Dokumentation der Kriminalpolizei, auch wenn er sich lieber auf die eigentlichen Ermittlungen konzentrierte. Zum Glück machte Rainer das Anfertigen des Abschlussberichts zu ihrem letzten Fall nichts aus, so dass Tim sich seinen Gedanken zu seiner beruflichen Zukunft und der Vereinbarkeit mit dem Familienleben widmen konnte. Er liebte seinen Beruf als Ermittler bei der Mordkommission. Er konnte sich keinen erfüllenderen und abwechslungsreicheren Beruf vorstellen. Bis heute trieb ihn sein sehr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und sein sehnlicher Wunsch, die Welt nicht nur für seine Familie etwas sicherer zu machen, an. Genau wie beim letzten Fall, empfand Tim bei jedem abgeschlossene Fall ein geradezu euphorisches Glücksgefühl, insbesondere in dem Augenblick, wenn sie den Täter überführt hatten. Auf dem Weg dahin war er ohne einen Augenblick zu zögern bereit, seine Gesundheit und, im Zweifelsfall, auch sein Leben zu riskieren. Zum Glück war dies bisher immer gut für ihn ausgegangen. Aber Tim wusste, dass seine hohe Risikobereitschaft wie ein Ritt auf der Rasierklinge war.

Das waren genau die Worte, die seine Frau Sarah gerne benutzte, wenn sie wieder über Tims Prioritäten in seinem Leben diskutierten. Er hasste diese Diskussionen mit ihr und war froh, wenn sie endlich vorbei waren. Irgendwie hatte er dabei immer das Gefühl, am kürzeren Hebel zu sitzen. Es fiel ihm schwer, mit ihren Vorwürfen konstruktiv umzugehen. Oft zog er sich noch während der Diskussionen innerlich in eine Art Schneckenhaus zurück und ließ es einfach geschehen. Er liebte seine Frau und ihre gemeinsame Tochter Lea und genoss die Zeit mit beiden. Aber Tim spürte oft eine Art innere Zerrissenheit zwischen der Leidenschaft für seinen Job mit all den zeitlichen Belastungen auf der einen Seite und dem Familienleben auf der anderen Seite. Er würde so viel dafür geben, die Zauberformel für den Einklang beider Welten zu besitzen! Denn das Leben war für die vielen Diskussionen mit Sarah zu kurz.

Plötzlich wurde Tim aus seinen Gedanken gerissen, als Rainer ihm auf die Schulter haute. „Aufwachen du Tagträumer!“ Kriminalkommissar Sven Ziegler stand in der Tür und grinste. Er war als Sachbearbeiter ebenfalls Mitglied im Team der Mordkommission und wiederholte seine Nachricht an Tim und Rainer. „Dann wiederhole ich nochmal, was ich gesagt habe. Gerade hat sich die Schutzpolizei Zossen gemeldet. Ein Toter wurde in der Waldstadt Wünsdorf entdeckt. Die Schutzpolizei hat den Fundort gesichert, hält einen Zeugen fest und wartet auf euch. Ich habe gesagt, dass ihr euch direkt auf den Weg macht. Die Kriminaltechnik habe ich auch bereits informiert. Sie werden gleich losfahren.“ Die Kriminaltechnik war in der Polizeidirektion West für die kriminaltechnische Tatortarbeit verantwortlich und gehörte immer mit zu den ersten am Tatort.

Tim und Rainer sprangen auf, holten ihre Dienstwaffen und den Fahrzeugschlüssel und eilten zu ihrem Dienstfahrzeug im Innenhof der Polizeidirektion. Dort angekommen gab Tim die von Sven Ziegler genannte Adresse ins Navi ein. ‚Das war es wohl mit dem frühen Feierabend und dem netten Familienabend!‘, dachte Tim.

4

Normalerweise benötigte man für die Fahrt nach Wünsdorf über eine Stunde. Mit Blaulicht und Sirene ging es etwas schneller. Zumindest solange, bis der Verkehr dicht und zähfließend wurde. Nachdem Rainer sie mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene zügig und geschickt aus der Stadt gebracht hatte, kamen sie auf der Autobahn Richtung Osten schnell voran. Rainer fuhr mit hoher Geschwindigkeit konzentriert auf der linken Spur der Autobahn und kämpfte sich Fahrzeug um Fahrzeug voran. Tim beobachtete die Autos, die sie überholten. Der deutsche Autofahrer beherrschte im Gegensatz zu denen anderer Länder das Bilden der Rettungsgasse im Stau in der Regel ganz gut. Dagegen fiel es aber vielen anscheinend schwer, den mühsam erkämpften Platz auf der linken Spur der Autobahn aufzugeben und sie passieren zu lassen. Sie saßen schweigend nebeneinander. Tim betrachtete den roten Asphalt, den er nur von diesem Autobahnabschnitt kannte, und fragte sich, was Sarah wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass er die nächsten Tage schon wieder bis spät abends an einem Mordfall arbeiten musste. Er wusste, dass die Insassen der Fahrzeuge ihn im Vorbeifahren neugierig musterten. Ein ziviles Polizeifahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht löste bei Schaulustigen Neugier und Sensationslust aus. Nach all den Jahren machten Tim die Blicke der Leute nichts mehr aus, außer sie behinderten die Rettungs- oder Ermittlungsarbeiten. Er konnte einfach nicht verstehen, was den Reiz des Gaffens für diese Leute ausmachte. Aber er wollte es auch nicht verstehen.

Rainer unterbrach seine Gedanken und fing ein unverfängliches Gespräch an. Tim musste grinsen. Rainer war nicht gerade dafür bekannt, Schweigen gut auszuhalten. Reden war genau wie das Rauchen etwas, das er gern und viel tat. Irgendwie war Tim aber auch froh, nicht mehr über das anstehende Gespräch mit Sarah denken zu müssen. „Haben Sarah und du diese Woche schon etwas geplant?“, wollte er wissen. „Außer, dass wir das Open Air Kino besuchen wollten, nichts Konkretes“, antwortete Tim. „Wisst ihr schon, welchen Film ihr euch anschauen wollt?“, fragte Rainer. „Ich glaube, irgendeine romantische Komödie. Ich kann mich aber an den Filmtitel nicht erinnern. Sarah hatte den Vorschlag für das Open Air Kino gemacht.“ Sie plante die meisten ihrer Freizeitaktivitäten. Dies war einer ihrer Kritikpunkte an Tim. „Da kenne ich mich sowieso nicht so gut aus, wie du weißt. Ich stehe mehr auf Action!“, antwortete Rainer. Tim eigentlich auch. Er liebte Actionfilme über alles. Aber da er wusste, dass Sarah romantische Filme mochte, hatte er ihrem Vorschlag direkt zugestimmt. „Was hast du denn die nächsten Abende geplant?“, wollte Tim nun wissen. „Auf jeden Fall werde ich meine Stammkneipe diese Woche wieder mit meinem Besuch beehren“. Tim kannte die Stammkneipe von Rainer. Sie lag nur zwei Straßen von dessen Wohnung entfernt. Neben der gemeinsamen Zeit in der Mordkommission trafen sich beide ab und zu auf ein Bier, meistens in dieser Kneipe. Dabei gesellten sich auch immer wieder andere Kollegen aus der Mordkommission dazu.

Mittlerweile waren sie von der Autobahn abgefahren und mühten sich über die engen Landstraßen, welche links und rechts durch große Laubbäume gesäumt waren. In unregelmäßigen Abständen konnte Tim an den Baumstämmen die von Autounfällen stammenden Narben in der Rinde sehen. Es war allgemein bekannt, dass in dieser Gegend immer wieder nachts Unfälle aufgrund überhöhter Geschwindigkeit passierten. Hier nützte ihnen ihr Blaulicht wenig. Die engen Kurven der schmalen Landstraße gaben die maximale Geschwindigkeit vor. Rainer wusste dies und die Kollegen der Polizei Zossen würden den Fundort nicht verlassen, bevor sie eingetroffen wären.

Rainer las gerne historische Bücher und wollte Tim unbedingt noch einen Überblick über die Waldstadt geben, bevor sie dort eintrafen. „Was weißt du eigentlich über Wünsdorf und insbesondere über die Waldstadt, zu der wir fahren?“, fragte er Tim. Dieser kannte das jetzt begonnene Ritual nur zu gut. Es fing immer mit einer Art Wissensabfrage durch Rainer an, die ihn sehr an seine Schulzeit im Fach Geschichte erinnerte. Tim wusste natürlich die Dinge, die den meisten Bewohnern aus Brandenburg und Berlin bekannt waren. Das große Militärareal in Wünsdorf beherbergte im Dritten Reich das Oberkommando der Wehrmacht und nach dem Zweiten Weltkrieg war es der Sitz des Oberkommandos der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Da der Zutritt streng reglementiert und fast ausnahmslos den sowjetischen Soldaten, Zivilbediensteten und ihren Familien vorbehalten war, wurde sie auch die „Verbotene Stadt“ genannt. Aber Tim wollte ihm nicht vorgreifen, daher tat er so, als ob er nichts zu dem Thema beizutragen hätte.

Jetzt war Rainer in seinem Element und begann seinen Vortrag. Er startete mit dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und den in dieser Zeit entstandenen Artillerieschießplätzen, berichtete von der Entstehung der Bunkeranlagen der Wehrmacht und widmete sich ausführlich deren Nutzung durch die sowjetische Armee. Gerade als er über den Abzug der Russen 1994 erzählte, erblickten sie die Ansammlung von Streifenwagen, Rettungswagen und Notarzt. Tim war erleichtert, so sehr er auch Rainer mochte, aber auf diesen ausführlichen Geschichtsunterricht konnte er jetzt gut verzichten. Es wartete schließlich Arbeit auf die beiden. Tim merkte, wie seine Anspannung zunahm. Bei jedem neuen Fall spürte er diese Aufregung. Es war wie die Teilnahme an einem Sportwettbewerb, wenn einen ein Kribbeln kurz vor dem Start erfasste und die Spannung sich ins Unermessliche steigerte.

Fluch der verbotenen Stadt

Подняться наверх