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Kapitel 2

5

Seit seinem letzten Besuch vor drei Jahren hatte sich hier in der Waldstadt, wie der ehemals militärisch genutzte Bereich von Wünsdorf mittlerweile heißt, einiges verändert. Damals war Tim mit seiner Frau und seiner Tochter bei einem Familienausflug das erste Mal in der Waldstadt zu Besuch. Besonders spannend fanden sie die Bunkertour mit der Besichtigung der ehemaligen Wehrmachtsbunker. Für Lea schien damals die gemeinsame Zeit als Familie wichtiger zu sein, als der historische Rückblick bei der Führung. Sie hörte ihrem Führer der Tour kaum zu, sondern erzählte Tim und Sarah ohne Unterbrechung von der Schule.

Wo sie damals noch verlassene und dem Verfall preisgegebene Militärbaracken gesehen hatten, waren mittlerweile Einfamilienhäuser gebaut worden. Tim hatte gelesen, dass in der Waldstadt gerade in mehrere Neubaugebiete investiert wurde. Ziel war es, dass durch viele neu ansiedelnden Familien hier neues Leben entstehen konnte.

Rainer parkte den Dienstwagen hinter dem Streifenwagen. Nachdem sie ausgestiegen waren, kamen die beiden Kollegen der Schutzpolizei angelaufen, die als erste vor Ort waren. Tim und Rainer begrüßten sie mit Handschlag. Tim fiel sofort auf, dass der Ältere der beiden sehr abgeklärt wirkte, obwohl das Auffinden eines Toten für sie alles andere als alltäglich sein musste. Der Jüngere dagegen sah blass und mitgenommen aus. Er vermied es konsequent, auch nur in die Richtung des Toten zu schauen. Tim konnte ihm das nicht verübeln, denn er erinnerte sich noch gut an den Anblick, als er das erste Mal einen Toten sah. „Gut, dass ihr endlich hier seid!“, meinte der ältere Polizist. Tim war voller Energie und konnte es kaum erwarten loszulegen. Daher übernahm er direkt die Gesprächsführung. „Wir haben uns beeilt, aber ihr kennt sicherlich den Weg von Brandenburg bis hierher. Es war ziemlich voll auf der Autobahn. Was habt ihr denn bisher herausgefunden?“ Der ältere Polizist nahm sein kleines Notizbuch hervor und berichtete, was sie wussten. „Also, heute Morgen gegen halb zehn hat ein Spaziergänger mit seinem Hund die leblose Person entdeckt und den Notruf gewählt. Wir wurden zusammen mit dem Rettungswagen und der Notärztin hergeschickt.“ Tim drehte sich in die Richtung, in die der ältere Polizist gezeigt hatte. Ein älterer Mann mit brauner Cordhose und weißem Hemd stand etwas hilflos wirkend mit seinem Hund am Straßenrand auf der gegenüberliegenden Seite. Er schätzte den Mann auf Mitte sechzig. Neben ihm saß angeleint ein schwarzer Labrador und ließ seinen Besitzer nicht aus den Augen. „Nachdem uns die Notärztin mitgeteilt hatte, dass sie bei der Person nur noch den Tod feststellen konnte, erklärte sie uns, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine unnatürliche Todesursache handelte. Danach haben wir um zehn Uhr zwölf die Zentrale verständigt und den Tatort abgesperrt. Selbstverständlich haben wir den Toten nicht angerührt und darauf geachtet, dass möglichst wenig Spuren verwischt werden.“, fuhr der ältere Kollege der Schutzpolizei fort. Tim nickte. Das war das nach Dienstvorschrift übliche Vorgehen. Auch das Befragen von Zeugen fiel eindeutig in den Aufgabenbereich der Kriminalpolizei. Sobald eine unnatürliche Todesursache festgestellt wurde, schaltete die Schutzpolizei die Kriminalpolizei ein und blieb am Tatort, bis die Kriminalpolizei eintraf und übernahm. „Braucht ihr uns noch oder können wir fahren?“, wollte jetzt der jüngere Polizist ungeduldig wissen. Mittlerweile hatte sein Gesicht wieder eine gesunde Gesichtsfarbe. Allerdings vermied er immer noch jeden Blick zu dem Toten. Tim hatte den Eindruck, als ob er gerne so schnell wie möglich wieder die Streifenfahrt fortsetzen wollte. „Ihr könnt gleich wieder los. Es würde uns jedoch helfen, wenn ihr noch wartet, bis unsere Kollegen der Kriminaltechnik eintreffen und wenn ihr sie kurz einweist.“, erwiderte Tim. Die beiden Polizisten nickten zustimmend.

Die Notärztin, die bisher abseits gestanden hatte, ging auf Tim und Rainer zu. Nach einer kurzen Begrüßung berichtete sie, dass sie nur noch den Tod des Mannes feststellen könne und eine Reanimation zwecklos gewesen sei. „Was ich jedoch schon zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, ist, dass die Verletzungen des Opfers Zeichen äußerer Gewalteinwirkung aufweisen“, ergänzte sie. „Vielen Dank für Ihre Einschätzung. Wir werden uns das gleich näher anschauen.“ Tim blickte Rainer an. „Rufst du erst einmal die Staatsanwältin an? Wir sollten die Leiche erst begutachten, wenn der Rechtsmediziner und die Kollegen von der Kriminaltechnik ihre Arbeit beendet haben. Ich spreche währenddessen mit dem Spaziergänger.“ Rainer nickte.

Rainer rief die zuständige Staatsanwältin an, um sie zu informieren und um den Einsatz des Rechtsmediziner vor Ort zu bitten. Gleichzeitig ging Tim zu dem Spaziergänger, der die Leiche gefunden hatte, um ihn zu befragen.

Tim stellte sich kurz vor, beugte sich dann langsam zu dem Hund und streichelte den Labrador am Kopf. Dieser erwiderte die Streicheleinheiten mit treuem Blick und schnellem Schwanzwedeln. Tim war verrückt nach Hunden und insbesondere Labradore hatten es ihm angetan. Das lag nicht nur an ihrem Aussehen. Sie waren mittelgroß und kräftig gebaut, besaßen einen breiten Schädel und liebten das Apportieren. Tim war besonders von ihrem gutmütigen und gelassenen Wesen fasziniert.

Als er die Personalien des Spaziergängers aufnehmen und mit der Befragung beginnen wollte, stupste ihn der Hund mit seiner Schnauze sanft aber fordernd am Oberschenkel an. Der Spaziergänger zog ihn zurück und entschuldigte sich. Tim lachte: „Machen Sie sich keine Sorgen! Ich habe auch einen Labrador zu Hause. Ich kenne ihre fordernde Art, was Streicheleinheiten betrifft, nur zu gut.“ Der Spaziergänger lächelte und wirkte auf Tim jetzt etwas entspannter. Außer zu dem Zeitpunkt des Auffindens des Toten und dem bereits bekannten Ablauf der Benachrichtigung und des Eintreffens der Schutzpolizei konnte der Spaziergänger keine neuen Hinweise geben. Tim gab ihm den Personalausweis zurück und verabschiedete sich.

In diesem Moment traf die Kriminaltechnik ein. Tim ging ihnen entgegen und begrüßte sie. Er kannte die Kollegen vom Dezernat Ermittlungsunterstützung, nicht nur weil sie im gleichen Gebäude der Polizeidirektion untergebracht waren, sondern auch wegen der Zusammenarbeit in mehreren Fällen. Es waren nicht viele Worte notwendig und die Kollegen fingen sofort mit der Sicherung möglicher Spuren an. Tim nutzte die kurze Pause und sah sich um. Er hatte sich über die Jahre ein einfaches, aber strukturiertes Vorgehen angeeignet. Es half ihm, sich den Fundort beziehungsweise den Tatort sehr genau einzuprägen. Bis jetzt war es noch nicht nachgewiesen, dass der Fundort der Leiche hier auch der Tatort war. Üblicherweise suchte Tim sich einen Platz, vom dem er einen guten Rundumblick hatte und drehte sich langsam im Uhrzeigersinn um die eigene Achse. Dabei betrachtete er die Umgebung und merkte sich gezielt markante Punkte. Genauso ging er jetzt vor.

Tim stand auf der schmalen Straße, die in Richtung der ehemaligen Schießbahnen führten. Dies hatte er aus der damaligen Führung in der Waldstadt von vor drei Jahren noch in Erinnerung behalten. Vor sich sah er in einiger Entfernung das Neubaugebiet mit ersten Einfamilienhäusern, an dem sie vorhin vorbeigefahren waren. Dieses ging in eine Wiese über, aus der einzelne Baumstümpfe herausragten. Ein Bagger und eine Planierraupe standen dort. Anscheinend sollten hier weitere Häuser gebaut werden. Allerdings waren noch keine Zufahrtswege zu erkennen. Zu seiner Rechten ging die Straße nach ungefähr zweihundert Metern in eine Linkskurve über und verschwand in einem Laubwald. Als er sich umdrehte, erkannte er neben der Straße eine Gruppe junger, schmal- und hochgewachsener Laubbäume auf einer Wiese. Als er seinen Blick weiter nach rechts in Richtung des Toten drehte, ging die Wiese abrupt in einen Laubwald über. Der Tote lag direkt am Waldrand angelehnt an einen im Gras befindlichen Baumstamm. Daneben lagen drei weitere Stämme, die vermutlich Waldarbeiter zugesägt hatten. Sie bildeten eine Art Barriere zwischen der Wiese und dem Wald. Vor den Baumstämmen schlängelte sich ein Trampelpfad von der Straße entlang des Waldrandes. Der Spaziergänger hatte Tim berichtet, dass er mit seinem Hund von dort kam, als er die Leiche entdeckte. Der Pfad endete direkt vor Tim an einer rotweißen Schranke, an der ein Schild mit einem Warnhinweis von Munitionsresten im Gelände befestigt war. Ein schwarzes Hollandrad lehnte an der Schranke. ‚Vermutlich gehört es dem Toten‘, dachte Tim.

Er hatte genug gesehen. „Macht bitte ausreichend Fotos von der Umgebung. Untersucht auch beide Seiten des Straßenrandes. Vielleicht war der Täter mit seinem Auto hier und wir können Reifenspuren sichern.“ Allerdings hatte Tim nicht viel Hoffnung, dass sie brauchbare Spuren finden werden. Aber einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Die Kollegen der Kriminaltechnik nickten ihm zu. Als Tim auf Rainer zuging, hörte er hinter sich Schritte. Ein anderer Kollege der Kriminaltechnik trat heran. „Was gibt es?“, fragte Tim. „Die hier hatte der Tote bei sich.“ Der Kriminaltechniker gab ihm die Brieftasche des Toten. Tim durchsuchte sie und zog einen Personalausweis heraus.

6

Ein silberner Sportwagen fuhr am Tatort vor und hielt direkt vor Rainer und Tim. Die Staatsanwältin Dr. Anna Richter stieg aus und begrüßte beide. Tim freute sich sie wiederzusehen. Auch wenn sie aufgrund der Vielzahl parallel zu bearbeitenden Fälle immer in Eile und Zeitdruck war, war die Zusammenarbeit mit ihr bisher immer sehr vertrauensvoll und angenehm gewesen. Mit ihren dreiundfünfzig Jahren war sie immer noch äußerst attraktiv. Ihre großen Ohrringe mit ihren offenen schwarzgrauen, schulterlangen Haaren betonten ihr zierliches Gesicht. Sie lächelte ihn an: „Schön, Sie wiederzusehen, Herr Beck. Leider habe ich nur sehr wenig Zeit und muss gleich zu einer wichtigen Besprechung zurück in die Staatsanwaltschaft. Bitte geben Sie mir einen kurzen Überblick.“ Tim nickte. Es war allgemein bekannt, dass sie äußerst effektiv und effizient arbeitete und daher oft zusätzliche Fälle zur Bearbeitung bekam. Jeder wusste, dass ihr Zeitdruck keinesfalls gespielt sondern ihre tägliche Herausforderung war.

Tim nahm sie mit Rainer zusammen zur Seite und berichtete ihr kurz, was sie bisher an Informationen zusammentragen konnten. „Der männliche Tote heißt Günther Ludwig, war 48 Jahre alt und lebte hier in Wünsdorf. Die Kollegen der Schutzpolizei haben gerade eine Abfrage durchgeführt. Unter der Meldeadresse sind keine weiteren Personen eingetragen. Niemand hatte Günther Ludwig bis zum jetzigen Zeitpunkt als vermisst gemeldet.“ Die Staatsanwältin schaute sich mit Tim und Rainer den Fundort des Toten an. „Meine Herren, ich habe auf der Fahrt hierher bereits mit ihrem Chef telefoniert. Wir werden heute Abend die erste gemeinsame Besprechung bei Ihnen in der Mordkommission durchführen.“ Beide nickten zustimmend. Bei Mordermittlungen war es üblich, dass die Staatsanwaltschaft frühzeitig in die Ermittlungen eingebunden sein wollte. Und Dr. Anna Richter hatte klare Vorstellungen davon, wie dies konkret auszusehen hat.

In diesem Moment fuhr ein weiteres Fahrzeug vor. Der Rechtsmediziner Dr. Ulf Bergmann hielt direkt vor ihnen und stieß zur Gruppe dazu. Nachdem er jedem die Hand gegeben hatte, nahm er seine Brille mit dem dicken, schwarzen Gestell ab und putze sie. Das war ein kleiner, aber wie Tim fand, sympathischer Tick von ihm. Er berichtete ihm kurz von dem Fund des Toten, der Untersuchung durch die Notärztin und dass der Tote bisher nicht bewegt wurde. Dr. Bergmann nickte kurz: „Vielen Dank Herr Beck. Dann mache ich mich mal an meine Arbeit.“ Er ging rüber zur Notärztin um sich von ihr einweisen zu lassen.

Während die Staatsanwältin ein paar Telefongespräche führte, beobachtete Tim den Rechtsmediziner, der sich mittlerweile umgezogen und mit der Untersuchung des Toten begonnen hatte. Im weißen Schutzanzug sah er aus wie einer der Kollegen der Kriminaltechnik. Normalerweise arbeitete Dr. Ulf Bergmann in der Rechtsmedizin am Brandenburgischen Institut, Außeneinsätze waren für einen Rechtsmediziner eher die Ausnahme. Gemeinsam mit der Staatsanwältin hatten Tim und Rainer aber vorhin beschlossen, ihn schon am Fundort mit der Untersuchung des Toten beginnen zu lassen. Denn jede Spur konnte bei den Ermittlungen helfen. Und bisher hatten sie noch keinerlei konkreten Hinweise zur Tat und deren Umständen.

Nachdem der Rechtsmediziner seine Untersuchung abgeschlossen hatte, kam er wieder zu ihnen und gab ihnen einen kurzen Bericht. Natürlich konnte er ohne Obduktion noch nicht viel sagen, aber Tim war immer wieder fasziniert, welche umfassenden Informationen ein Rechtsmediziner bereits durch eine erste oberflächliche Untersuchung geben konnte. „Was ich ihnen aktuell dazu sagen kann ist Folgendes“, begann Dr. Bergmann. „Der Tote hat eine Kopfwunde, die aufgrund seines dichten schwarzen Haares nicht direkt ersichtlich ist. Allerdings konnte ich beim Ertasten des Schädels eine Fraktur feststellen. Weiterhin weist der Oberkörper des Opfers blaue Flecke und Rippenbrüche auf. Vermutlich starb das Opfer aufgrund stumpfer Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf. Das ist selbstverständlich nur eine erste Einschätzung von mir. Die zusätzlich am Oberkörper festgestellten Hautabschürfungen scheinen ebenfalls vom Tatwerkzeug zu stammen.“ Tim fragte den Rechtsmediziner, was er zum Tatwerkzeug und dem Todeszeitpunkt sagen kann. Dr. Bergmann nahm erneut seine Brille ab und begann sie zu putzen. Seine kleinen Augen blickten Tim ernst an. „Wie immer eine gute Frage, Herr Beck. Das Tatwerkzeug scheint ein länglicher Gegenstand gewesen zu sein. Das lässt sich aus dem Verletzungsmuster erkennen. Alles Weitere dazu ist noch Untersuchungsgegenstand der Obduktion. Bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes hilft uns das warme Juniwetter keineswegs. Da der Unterschied zwischen Körperkerntemperatur des Toten und der Umgebungstemperatur nicht groß genug war, kann ich den Zeitraum nur auf gestern Abend bis heute Nacht eingrenzen.“ Zu genaueren Angaben wollte er sich trotz hartnäckiger Nachfrage von Tim nicht festlegen. Allerdings gab Dr. Bergmann der versammelten Gruppe einen wichtigen Hinweis. Da an der Leiche keine Schleifspuren feststellbar waren, schien der Fundort zugleich auch der Tatort zu sein. Die Staatsanwältin hatte genug gehört. Nach einer flüchtigen Verabschiedung stieg sie in ihren Sportwagen ein und fuhr los.

Nachdem der Rechtsmediziner den Toten zum Abtransport freigegeben hatte und die Kriminaltechnik auch noch keine konkreteren Hinweise geben konnten, entschieden Tim und Rainer, zum Haus des Toten zu fahren. Trotz mehrmaligen Durchsuchens der Taschen von Jacke und Hose des Opfers waren keine Haustürschlüssel zu finden. Ebenso wenig hatte die Kriminaltechnik im Umkreis des Fundortes etwas gefunden, was der Tatwaffe hätte entsprechen können, geschweige denn noch einen Schlüsselbund. Rainer rief den örtlichen Schlüsseldienst an und verabredete sich mit ihm am Haus des Toten. Sie stiegen in ihren Dienstwagen und fuhren Richtung Ortsmitte von Wünsdorf.

7

Mittlerweile war es schon Nachmittag. Rainer hielt kurz an einer Bäckerei, um belegte Brötchen und Kaffee zu kaufen. Tim nutzte die Zeit um Sarah anzurufen. Sie kannte die Erfordernisse seines Berufs nur zu gut und hatte sich schon daran gewöhnt, wenn er kurzfristig Verabredungen absagen oder auch nachts arbeiten musste. Er teilte ihr mit, dass er nicht weiß, wann er am Abend nach Hause kommen würde. Auch wenn sie am Telefon Verständnis für die Verschiebung ihres gemeinsamen Abends äußerte, meinte Tim ihre Enttäuschung spüren zu können. So richtig konnte er es nicht nachvollziehen, denn außer einem gemeinsamen Abendessen mit Lea und einem Fernsehabend zu Hause, hatten sie nichts weiter geplant. Traurigkeit und gleichzeitig Wut spürte Tim in sich aufkommen, nachdem er das Telefonat mit Sarah beendet hatte. Auch er hatte sich auf den gemeinsamen Abend mit ihr gefreut. In letzter Zeit hatten sie nicht viel Zeit füreinander aufbringen können, was neben dem Beruf von Tim auch an der Selbstständigkeit von Sarah mit ihrer Konditorei lag. Aber er hasste es, dass sie ihm immer irgendwie unterschwellig die Schuld dafür gab.

Rainer kam zurück zum Dienstfahrzeug und reichte Tim einen Becher Kaffee und ein mit Käse belegtes Brötchen. Da der Schlüsseldienst mitgeteilt hatte, dass er erst in einer viertel Stunde am Haus von Günther Ludwig sein konnte, hatten sie Zeit für eine erste kurze Pause am heutigen Tag. „Lass es dir schmecken“, sagte Rainer und nahm einen großen Bissen von seinem Wurstbrötchen.

Als sie am Haus eintrafen, wartete der Mann vom Schlüsseldienst schon auf sie. Nachdem Rainer ihm die Durchsuchungsanordnung gezeigt hatte, die die Staatsanwältin zuvor ausgestellt hatte, holte er sein Werkzeug und ging zur Haustür. Tim betrachtete das rotbraune Backsteinhaus. Die Rollläden der drei Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen. Die Gardinen der beiden Giebelfenster waren vergilbt. Der Innenhof war durch ein hohes Wellblechtor geschützt, das offen stand. Dahinter kam ein gepflasterter Innenhof zum Vorschein, auf dem zwischen den Fugen hohe Gräser wuchsen und den sich die Natur Stück für Stück zurückeroberte. Das Haus machte auf Tim einen einsamen und traurigen Eindruck. Am Fenster des Nachbarhauses bewegte sich die Gardine. „Schau mal dort drüben, mal wieder einer dieser wachsamen Nachbarn.“, entfuhr es Tim. Er beschloss, gleich nach der Hausdurchsuchung dort zu klingeln und ein paar Informationen über Günther Ludwig zu erfragen.

Mittlerweile hatte der Fachmann vom Schlüsseldienst die Haustür erfolgreich geöffnet. Tim quittierte ihm den Einsatz und verabschiedete sich von ihm. Dann betraten er und Rainer das Haus. Im Flur roch es abgestanden und muffig, als ob hier nicht oft gelüftet worden war. Sie teilten sich auf. Während Rainer nach links in die Küche abbog, ging Tim in das Wohnzimmer. Ein altes Sofa mit zwei Sesseln und ein dunkler Couchtisch nahmen einen Großteil des Wohnzimmers ein. Tim öffnete den Rollladen, um mehr Licht in den Raum zu lassen. An der gegenüberliegenden Wand war eine deckenhohe Schrankwand aus dunklem Holz angebracht. In den Regalen befanden sich viele Bilderrahmen mit Fotos. Das Wohnzimmer erinnerte Tim an das seiner Großeltern. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Günther Ludwig den Raum selbst so eingerichtet hatte. Er betrachtete die vielen Bilderrahmen. Neben Familienfotos mit zwei Kindern waren einzelne Fotos von einem Jungen und einem Mädchen zu sehen. ‚Der Junge könnte Günther Ludwig sein‘, dachte Tim. ‚Dann müsste er also eine Schwester haben‘. Plötzlich rief Rainer nach ihm. Er hatte mittlerweile die Küche und das Esszimmer durchsucht ohne etwas Auffälliges zu finden. Jetzt stand er in einem Raum, der das Arbeitszimmer sein musste. Als Tim den Raum betrat, versperrte Rainers Körper einen Durchgang zu einem weiteren Zimmer. Dieser schien das Interesse von Rainer geweckt zu haben. Als Tim näher trat, verstand er warum. „Sieh dir das mal an! Da hat wohl einer Privatdetektiv gespielt!“ Und zeigte auf die Wände.

Der Boden war mit einem dunkelbraunen Teppich bedeckt, der von Trittspuren und einzelne Flecken mitgenommen aussah. Außer einem einfachen Tisch mit darauf gestapelten Aktenmappen enthielt der Raum keine weiteren Möbel. Allerdings war die gegenüberliegende Wand von unten nach oben mit einer Vielzahl von Dokumenten, Landkarten, Fotos, Zeitungsausschnitten und handbeschriebenen Postits bedeckt. Einige Dokumente und Fotos waren mit einer roten Schnur verbunden worden. Tim versuchte die Anordnung der Dokumente und Fotos nachzuvollziehen. Zentral in der Mitte der Wand hingen, neben dem Foto eines Mädchens, drei weitere Aufnahmen, die jeweils einen sowjetischen Soldaten in Ausgehuniform zeigten. Rainer stellte sich neben Tim und betrachtete die Wand. „Welchem Hobby ist dieser Günther Ludwig nur nachgegangen?“ Tim reagierte nicht, sondern betrachtete das Foto des Mädchens und die Zeitungsartikel genauer. Es handelte sich um mehrere Berichterstattungen aus dem Jahr 1989, die von der Vergewaltigung und dem Selbstmord eines Mädchens berichteten. Das Foto des Mädchens kam Tim bekannt vor. Er hatte es erst vor kurzem gesehen. Er drehte sich abrupt um und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen. Rainer lief hinter ihm her und wollte wissen, was mit ihm los sei. Doch Tim ging weiter, bis er im Wohnzimmer vor der Schrankwand stand. Er zeigte auf eines der gerahmten Fotos. „Sieh dir das an! Das ist das Mädchen aus dem Zeitungsartikel“. Beide gingen zurück in das Arbeitszimmer. Tim las die Zeitungsartikel über die Vergewaltigung nochmals durch und entdeckte in der Bildunterschrift schließlich den Namen Beate Ludwig. „Dann wird sie seine Schwester gewesen sein?“, meinte Rainer.

Es schien, als ob Günther Ludwigs Schwester 1989 vergewaltigt worden war und sich einige Wochen später das Leben genommen hatte. So viel konnten Tim und Rainer in der kurzen Zeit schon ableiten. Aber was hatte es mit all den anderen Dokumenten und Fotos auf sich? Günther Ludwig schien mit seinen Recherchen viel Zeit verbracht zu haben. Vielleicht ergab sich hieraus eine Spur. Rainer rief die Kollegen der Kriminaltechnik an und bat sie, nach Abschluss der Untersuchungen am Tatort, direkt hierher zum Haus zu kommen.

Zwischen den Aktenmappen auf dem Tisch entdeckte er ein Smartphone. Das erklärte auch, warum sie am Tatort kein Handy finden konnten. Tim nahm es in die Hand. Da es eingeschaltet und der Bildschirm nicht mit einem Passwort geschützt war, konnte er durch die Anrufliste scrollen. „Heutzutage hat doch jeder sein Smartphone mit einem Passwort geschützt. Anscheinend hatte Günther Ludwig keine Sorge, dass jemand sich für sein Telefon interessiert!“ Rainer schaute Tim an. „Ich wusste gar nicht, dass man überhaupt den Sperrbildschirm ohne Passworteingabe deaktivieren kann.“ Tim grinste. „Vielleicht solltest du mal Sven fragen. Unser junger Kollege ist doch so fit in der digitalen Technik. Er kann dir sicherlich noch viel zu deinem Smartphone beibringen.“ Rainer schnaubte: „Als ob du schon in der digitalen Welt angekommen wärst. Ohne deine Tochter wüsstest du noch nicht einmal, wie man ein Smartphone einschaltet.“ Tim musste lachen. Rainer hatte recht. Durch Lea lernte er viel über Smartphones und Social Media. Aber ihm reichte es Nachrichten und Fotos zu versenden. Er konnte nicht nachvollziehen, was seine Tochter an Social Media so spannend fand. Tim ging weiter die Anrufliste durch. „Seinen letzten Anruf hatte der Tote gestern Nachmittag von einer unbekannten Nummer erhalten. Davor hatte er eine Festnetznummer in Berlin angerufen.“ Zwei Nummern, die auch unter Kontakten gespeichert waren, fielen Tim besonders auf. Günther Ludwig schien regelmäßig mit einem Mike Kühn und einer Ute Hoffmann zu telefonieren. Er nahm sich vor, die beiden am nächsten Tag mit Rainer zu befragen.

Anschließend gingen sie ins Dachgeschoss des Hauses. Rainer stieß sich im Schlafzimmer den Kopf an der Dachschräge und fluchte. Tim musste lachen, denn Rainer war mindestens zehn Zentimeter kleiner als er und schaffte es dennoch sich hier den Kopf zu stoßen. „Respekt, das muss man erst einmal hinbekommen. So klein und trotzdem stößt du dir den Kopf. Was würde erst passieren, wenn du so groß wie ich wärst?“ Rainer rieb sich vor Schmerzen den Hinterkopf. „Frag lieber, ob ich mir wehgetan habe. Nicht dass ich eine Beule bekomme und meine Attraktivität darunter leidet.“ Rainer ahmte mit seinen Händen seine Figur nach.

Durch die Dachschräge wirkte das Schlafzimmer beengt. Mit dem Bett und dem Schrank an der Wand war es bereits vollgestellt. Dies schien das Schlafzimmer von Günther Ludwig zu sein. Im Schrank fand Tim - säuberlich aufgereiht - mehrere Hemden, Anzüge und verschiedene dunkle, gestreifte Krawatten. ‚Er zog sich zumindest etwas moderner an, als die Einrichtung im Haus vermuten ließ‘, dachte Tim. Rainer stand neben ihm und musterte die Anzüge. Sie waren erleichtert, dass die Kleidervorschrift bei der Polizei im Laufe der Jahre lockerer geworden war. Beide bevorzugten Jeans und Hemden, wobei Tim dienstlich immer ein modisch geschnittenes Jackett trug. Rainer blieb dagegen seiner persönlichen Kleiderordnung treu: Kariertes Hemd und abgewetzte braune Lederjacke.

Im nächsten Raum fühlte sich Tim wie in einem Museum. Dies schien das Kinderzimmer von Günther Ludwigs Schwester zu sein. Neben Jugendbüchern für Mädchen standen mehrere gerahmte Fotos von ihr herum. Rainer nahm eins in die Hand, worauf sie in Rock, weißer Bluse und blauem Halstuch zu sehen war. „Ein Thälmann-Pionier. Da muss sie dreizehn oder vierzehn gewesen sein.“ Als Tim ihn erstaunt anschaute, erklärte ihm Rainer, dass in der DDR spätestens ab der achten Schulklasse die Schüler in die FDJ aufgenommen worden waren. Er wusste woher Rainer dieses Wissen hatte. Schließlich war er in Brandenburg an der Havel geboren und aufgewachsen und hatte bis heute nie an einem anderen Ort gelebt. Rainer redete selten über seine Jugend in der DDR und die anschließende Wende. ‚Vielleicht sollte ich Rainer bei Gelegenheit mal darauf ansprechen‘, dachte er.

Nachdem sie den Keller durchgesehen hatten, der als Lagerraum zu dienen schien, gingen sie wieder zurück in den Raum mit den Dokumenten und Artikeln an der Wand. Tim bekam den Eindruck, dass dieser Raum der Lebensmittelpunkt für Günther Ludwig in diesem Haus gewesen war. Während sich in den anderen Räumen nicht wirklich einen Hauch von Wohnlichkeit oder regelmäßiger Nutzung zeigten, hatte Günther Ludwig hier viel Energie in die Dokumentation seiner Recherchen hineingesteckt. Tim malte sich aus, wie er hier nächtelang vor der Wand stand, Zusammenhänge suchte und Postits beschrieb. Die Recherchen zum Tod seiner Schwester schienen ihn sehr beschäftigt und angetrieben zu haben.

Es klingelte an der Haustür. Die Kriminaltechnik war eingetroffen. „Schön, euch wiederzusehen. Dann kommt mal rein in die gute Stube.“ Mit diesen Worten ließ Rainer sie hinein und gab ihnen eine kurze Führung durch das Haus. Tim und Rainer wussten, dass sie jetzt ihren Kollegen nur im Weg stehen würden. Doch gerade als Tim das Haus verlassen wollte, fiel ihm im Arbeitszimmer von Günther Ludwig etwas auf. Dort stand zwischen Drucker und Bildschirm eine Dockingstation für einen Laptop. Aber er konnte in dem Raum keinen sehen. Auch in den anderen Räumen hatte er keinen Laptop gefunden. Vielleicht hat Günther Ludwig es zur Arbeit mitgenommen und dort stehen lassen. „Hast du im Haus einen Laptop gesehen?“ Rainer schüttelte den Kopf, „Nein, aber vielleicht finden die Kollegen der Kriminaltechnik ja etwas.“ Tim nahm sich vor, andernfalls dem bei der späteren Durchsuchung des Arbeitsplatzes von Günther Ludwig nachzugehen.

Als beide das Haus verlassen hatten, blickten sie auf der Straße in beide Richtungen. Gegenüber dem Haus konnte Tim zwischen hohen Laubbäumen die weiß verputzte Dorfkirche von Wünsdorf sehen. Die sie umgebende hüfthohe alte Steinmauer passte nicht ganz in das Bild, störte aber auch nicht. Tim stellte sich vor, wie hier früher Dorffeste veranstaltet wurden und Günther Ludwig als Kind mit seiner Schwester mit all den anderen Kindern hier getobt hatte. Dabei musste er an seine eigene Kindheit und sein enges Verhältnis zu seiner Schwester denken. Rainer riss ihn abrupt aus seinem Tagtraum. „Tim, ich übernehme die beiden Häuser rechts. Mal schauen, was uns die Nachbarn zu Günther Ludwig sagen können. Bis gleich.“ Somit blieben für Tim die beiden Häuser zur Linken übrig.

Zunächst ging Tim zum frisch gestrichenen Nachbarhaus mit einem äußerst gepflegten Vorgarten. Hier hatte er vorhin die Bewegung der Gardine aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Dieses stand im direkten Kontrast zum Haus von Günther Ludwig. Während sich das Gebäude hier über die Jahrzehnte immer weiterentwickelt zu haben schien, hatte das von Günther Ludwig irgendwie den Anschluss verpasst und war wortwörtlich in der Vergangenheit stehengeblieben. Dies galt sowohl für das Äußere als auch das Innere des Hauses. Nachdem Tim geklingelt hatte, vergingen keine zwei Sekunden, bis sich die Haustür einen Spalt öffnete. Er wurde wohl erwartet. Nachdem er seinen Dienstausweis gezeigt hatte, öffnete die Nachbarin die Tür ein Stück weiter. Auf der anderen Seite der Tür stand eine ältere Frau mit Brille auf der Nase, die ihn misstrauisch ansah.

Tim teilte ihr mit, dass ihr Nachbar Günther Ludwig tot sei und die Polizei jetzt Nachforschungen vornehme. Ihre Augen blitzen kurz neugierig auf. „Bitte wie? Der Günther soll tot sein? Das kann ich gar nicht glauben. Sind Sie auch ganz sicher? Ist er etwa der Tote, der heute Morgen in der Waldstadt gefunden wurde? Eine meiner Freundinnen hat mir gerade eben am Telefon davon berichtet.“ Er hatte den Eindruck, dass die Frau bestürzt über den Tod von Günther Ludwig war, aber gleichzeitig auch diese Sensation als Abwechslung vom tristen Alltag zu genießen schien. Tim ging auf ihre Fragen nicht ein, sondern stellte seinerseits die Frage, wann sie ihn das letzte Mal gesehen habe. „Warten Sie, das letzte Mal habe ich Günther gestern Abend mit seinem Fahrrad wegfahren sehen. Es muss kurz vor dem Heute Journal gewesen sein. Das schaue ich nämlich jeden Abend im Fernsehen. Wissen Sie, heutzutage kommt im Fernsehen ja nichts Vernünftiges mehr, nur Gewalt und diese neumodischen Shows. Früher gab es so viele romantische Filme im Fernsehen.“, seufzte sie. Tim nickte: „Was können Sie mir zu Günther Ludwig sagen? Hat er noch Familienangehörige und wissen Sie, wem er nahe stand?“ Die Hintergrundermittlungen zu ihm liefen bereits auf Hochtouren. Sven Ziegler wertete in diesem Augenblick alle Datenbanken aus, um jegliche vorhandenen Informationen zu Günther Ludwig zusammenzutragen. Trotzdem stellte Tim die Frage ganz bewusst, weil keine Datenbank alle relevanten Informationen über eine Person und erst recht nicht über seine Beziehungen enthielt. Außerdem konnte man mit solch einer Frage einen guten Eindruck über die Beziehung zwischen Opfer und dem Befragten gewinnen. „Der Günther und seine Familie hatten sehr viel Pech im Leben, wissen Sie? Kein Wunder, dass er so zurückgezogen lebte. Er konnte den frühen Tod seiner Schwester einfach nicht überwinden. Genau wie seine Eltern.“ Sie schaute ihn traurig und mit einer Spur Theatralik an. Tim verdeutlichte ihr mit seinem Blick, dass sie fortfahren sollte. „Beate war ein sehr hübsches und lustiges Mädchen, einfach wundervoll. Jeder hier in der Nachbarschaft schwärmte geradezu von ihrer liebenswürdigen Art. Sie war so beliebt bei allen. Die arme Beate! Es heißt sie wurde grausam von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Diesen Dreckskerlen! Danach sah sie immer sehr traurig und in sich gekehrt aus. Ich habe sie kaum noch gesehen, da sie sich scheinbar gar nicht mehr aus dem Haus traute. Ein paar Wochen später fand man sie hier in der Nähe am See erhängt auf. Darauf hin zog sich die Familie Ludwig immer mehr aus dem Dorfleben zurück. Die Eltern müssen so in etwa vor zwanzig Jahren an Krebs verstorben sein. Seitdem lebte der Günther alleine in dem Haus.“ Damit beendete sie ihre Ausführungen. Tim hatte erst einmal genug gehört. „Vielen Dank für Ihre Informationen. Hier ist meine Visitenkarte. Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte.“

Nachdem Tim im zweiten Haus niemanden angetroffen hatte, ging er langsam wieder zurück zu Günther Ludwigs Haus. Die Vergewaltigung der Schwester schien die Familie zerstört zu haben und hatte ihn selbst dreißig Jahre später nicht zur Ruhe kommen lassen. Er konnte das auf eine gewisse Weise nachvollziehen.

Rainer hatte seine Befragung mittlerweile auch abgeschlossen und ging auf Tim zu. „Ich hoffe, du hast mehr erfahren können. Günther Ludwig schien keinen engen Kontakt zu seinen Nachbarn zu haben. Wie lief es bei dir?“ Tim berichtete kurz von der Befragung der älteren Frau. Rainer zündete sich eine Zigarette an. Tim fiel auf, dass es seine erste Zigarette war seit sie heute Morgen losgefahren waren. Rainer schien seine Gedanken zu erraten. „Ja, ich weiß! Ich muss besser auf mich achten. Nicht, dass ich noch unfreiwillig zum Nichtraucher werde. Ich gelobe Besserung.“ Beide lachten, aber eine gewisse Schwere und Melancholie lastete auf ihrem Lachen.

8

Nachdem sich Tim und Rainer bei der Kriminaltechnik vergewissert hatten, dass diese keine Unterstützung benötigten, stiegen beide in den Dienstwagen, um zurück zur Mordkommission zu fahren.

„Und? Was hältst du von dem Fall?“, wollte Rainer von Tim wissen. Tim überlegte kurz. „Das kann ich dir noch nicht sagen, dafür ist es noch zu früh. Ich muss die Eindrücke von heute erst einmal sacken lassen.“ Rainer nickte. Er wusste, dass Tims Gehirn bereits auf Hochtouren lief und er die Informationen von heute gerade gedanklich Stück für Stück sortierte und strukturierte. Er war jedes Mal von Tims Auffassungsgabe und seiner Effizienz beeindruckt. Rainer war sich sicher, dass Tim noch eine erfolgreiche Karriere bei der Kriminalpolizei bevorstand, denn er kannte keinen anderen Ermittler, der nur annähernd so gut war wie er. Für sich selbst hatte er da keine großen Hoffnungen auf eine Beförderung.

Als sie auf der Rückfahrt an der Waldstadt vorbeikamen, lief Rainer wieder zur Höchstform als Geschichtsdozent auf. Er berichtete davon, dass sie gerade über die Bundesstraße 96 fuhren, die hier über vierzig Jahre lang für alle Zivilisten gesperrt war, da sie durch das militärische Sperrgebiet der sowjetischen Armee führte. Nur über einen großen Umweg durch die umliegenden Dörfer war es damals möglich die andere Seite des Militärareals und die Bundesstraße wieder zu erreichen. „Da bin ich aber sehr froh, dass wir das zum Glück jetzt nicht mehr tun müssen und so deutlich schneller zur Dienststelle zurückkommen“, erwiderte Tim mit bewusst ironischem Unterton. Rainer verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und lachte.

Tim musste an seine Frau denken und fragte sich, was sie gerade tat. ‚Bestimmt plante sie das Design ihrer nächsten Torte und skizzierte das Meisterwerk, wie sie es immer tat‘. Er schickte ihr eine kurze Nachricht mit seinem privaten Smartphone, dass er an sie dachte und sie vermisste. Im nächsten Augenblick ärgerte er sich aber schon, dass er die Nachricht überhaupt versendet hatte. Er wollte nicht jedes Mal ein schlechtes Gewissen haben, nur weil er seine Arbeit liebte, sich auf jeden einzelnen Fall voll und ganz konzentrierte und alles für dessen Aufklärung gab. Überstunden zu leisten war dabei ein fester Bestandteil. Um den negativen Gedanken und Gefühlen zu entfliehen, wählte Tim die Telefonnummer seines Vorgesetzten, dem Leiter der Mordkommission.

Kriminalhauptkommissar Stefan Dittrich nahm den Anruf sofort entgegen, als ob er darauf gewartet hätte. „Hallo Chef, wir sind auf dem Rückweg. Ich wollte dir kurz berichten, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten. Der Tote ist als Günther Ludwig mittels Personalausweis von uns identifiziert worden. Einen Tatzeugen haben wir bisher nicht finden können. Der Rechtsmediziner hat den Toten vor Ort begutachtet. Wir waren im Haus des Opfers. Die Kollegen der Kriminaltechnik sind noch dort. Günther Ludwig scheint Nachforschungen zur Vergewaltigung und dem Tod seiner Schwester betrieben zu haben. In seinem Arbeitszimmer hängen an einer Wand Fotos und Dokumente. Das könnte eine Spur sein, die wir weiter verfolgen werden. Sein Smartphone haben wir im Haus sicherstellen können, einen Laptop leider nicht. Die Befragung der Nachbarschaft hat nichts Brauchbares ergeben. Günther Ludwig scheint regelmäßig mit einer Ute Hoffmann und einem Mike Kühn telefoniert zu haben. Alles Weitere berichten wir nach unserer Rückkehr.“ Tim hörte ein kurzes Räuspern am anderen Ende der Leitung. „Vielen Dank für die Informationen. Ich soll euch von Sven sagen, dass er bereits alle Hintergründe zu den von euch an ihn geschickten Namen der Familie Ludwig aus den verfügbaren Datenbanken zusammenträgt. Dr. Anna Richter hat euch sicherlich gesagt, dass wir nachher unsere erste gemeinsame Besprechung zu dem Fall haben werden. Wir sehen uns dann später.“

Tim schätzte seinen Vorgesetzten sehr. Er war wie ein Mentor für ihn. Auch in den größten Stresssituationen bewahrte Stefan Dittrich immer Ruhe und hatte den Überblick. Schwieriger war es allerdings, ihm Feedback zu geben oder Kritik an seiner Art der Führung der Mordkommission zu geben. Da war er äußerst empfindlich, was Tim bei einem Verbesserungsvorschlag vor ein paar Jahren zu spüren bekommen hatte. Auf der anderen Seite ließ der Leiter der Mordkommission Tim und Rainer bei ihren Ermittlungen freie Hand, hielt ihnen den Rücken frei und bemühte sich eher als eine Art Coach im Hintergrund für beide da zu sein.

Der Rückweg kam Tim deutlich schneller vor als der Weg heute Morgen, obwohl Rainer die selbe Strecke fuhr. Wahrscheinlich lag es an der Vielzahl der neuen Eindrücke von heute, die Tims Gehirn gerade zu strukturieren versuchte. Genau das machte seine Stärke als Ermittler aus. In vielen Ermittlungen war seine Fähigkeit, die Informationen logisch zu dem großen Ganzen zusammenzusetzen, ein wesentlicher Schlüssel zur Aufklärung gewesen. Während Tim in allen Ermittlungen bisher sachlich und rational vorgegangen war, spürte er bei diesem Fall eine gewisse Emotionalität. Ihn beunruhigte diese Tatsache, da sie für ihn neu war. Aber er wusste auch was diese Emotionalität heute in ihm geweckt hatte.

Tim konnte bereits auf der linken Seite vor ihnen das weiße dreistöckige Haus der Polizeidirektion sehen, als Rainer plötzlich am Straßenrand anhielt. Neben ihnen war die Lieblingspizzeria von Rainer. Er konnte sich denken was Rainer hier wollte, fragte aber zur Sicherheit nach. „Warum hältst du denn kurz vor dem Ziel an? Weißt du, wie spät es schon ist?“ Rainer nickte. „Doch, das weiß ich. Gleich fängt unsere abendliche Besprechung mit der Staatsanwaltschaft an. Aber da sollten wir nicht mit knurrendem Magen teilnehmen. Willst du deine Pizza auch mit doppelt Käse?“ Tim lachte: „Gute Idee mit der Pizza. Ich zahle.“ Rainer stieg aus dem Dienstwagen. Tim folgte ihm in die Pizzeria.

Das Gebäude der Polizeidirektion war erst vor zwei Jahren fertig geworden. Der Vorgängerbau, gegenüber der jetzigen Direktion, war deutlich eher nach Tims Geschmack, der alte, geschichtsträchtige Gebäude liebte. Innen bot das neue Präsidium aber alles was man von einem modernen Bürogebäude erwartet. Tim und seine Kollegen hatten ausreichend Platz. Die Räume für Besprechungen und Vernehmungen lagen nicht weit von den Büros und waren funktional eingerichtet. Mit ihnen traf auch Dr. Anna Richter in der Mordkommission ein und blickte Tim und Rainer mit ihren acht Pizzakartons an. „Ich wusste gar nicht, dass Sie beide noch einer Nebentätigkeit als Pizzabote nachgehen.“, sagte sie ironisch und steuerte auf den Besprechungsraum der Mordkommission zu. Rainer musste grinsen und beugte sich zu Tim. „Ich wusste gar nicht, dass die Staatsanwältin einen Hang zur Ironie hat.“

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Während Rainer die Pizzen in handliche Stücke schnitt und auf Teller verteilte, deckte Tim den Tisch im Besprechungsraum mit Tellern und Servietten. Im nächsten Moment kamen auch schon die anderen Teilnehmer der ersten Besprechung zu dem Fall an. „Leute, heute ist euer Glückstag. Wir haben die beste Pizza der Stadt mitgebracht. Greift zu und lasst es euch schmecken!“, begrüßte Rainer sie mit überschwänglicher Euphorie.

Als Leiter der Mordkommission war Stefan Dittrich für die Besprechung verantwortlich. Er begrüßte neben der Staatsanwältin auch die Kollegen der Kriminaltechnik und einen Kollegen der Pressestelle der Polizeidirektion. Dann übergab er an Tim, der zunächst einen kurzen Überblick über den Ermittlungsstand und die Identität des Toten gab. „Liebe Kollegen, Sven Ziegler wird uns jetzt Einzelheiten zum Mordopfer Günther Ludwig und dessen Familie vorstellen“. Mit diesen Worten übergab Tim das Wort an Sven Ziegler. „Danke Tim. Bisher konnten wir folgende Informationen zu dem Mordopfer in Erfahrung bringen.“ Auf dem an der Wand montierten Flachbildschirm blendete er eine Präsentation ein. „Ich möchte ihnen zunächst einen Überblick über die Familie von Günther Ludwig geben. Die beiden Eltern sind bereits verstorben. Seine Schwester hieß Beate und war ein Jahr jünger. Sie nahm sich mit siebzehn das Leben. Das Haus von Günther Ludwig war auch sein Elternhaus. Nach dem Tod der Eltern hatte er das Haus geerbt. Anscheinend hat er nie woanders gewohnt, denn bei den Einwohnermeldebehörden existiert keine andere Meldeadresse.“ Tims Vermutungen zu dem Haus hatten sich somit bestätigt. Die weiteren Ausführungen von Sven Ziegler zur Familie deckten sich mit den Angaben der befragten Nachbarn. Auf die Ermittlungsakte der Volkspolizei der DDR hatten sie bisher keinen Zugriff bekommen, darum wollte sich Stefan Dittrich später persönlich kümmern. Laut Sven Ziegler arbeitete Günther Ludwig seit achtundzwanzig Jahren beim Bauamt der Gemeinde Zossen.

Die Kriminaltechnik berichtete kurz, dass die Spurensicherung am Tatort abgeschlossen sei, sie aber im Haus von Günther Ludwig noch andauere. Mit ersten Ergebnissen konnten Tim und Rainer erst am Nachmittag des kommenden Tages rechnen. Die Staatsanwältin bestätigte die Obduktion des Opfers für den morgigen Nachmittag. Tim und Rainer teilten der Gruppe noch mit, dass sie morgen Freunde und Kollegen von Günther Ludwig befragen würden. Sven Ziegler würde seine Hintergrundrecherche von Günther Ludwig inklusive seiner Bankkonten fortsetzen. Die Staatsanwältin tauschte sich noch kurz mit dem Leiter der Mordkommission und dem Kollegen der Pressestelle aus, um eine Pressemitteilung für morgen vorzubereiten. Abschließend ergriff Stefan Dittrich das Wort. Tim konnte das, was jetzt kommen sollten, bereits auswendig nachsprechen. „Ihr seid alle schon lange bei der Kriminalpolizei und habt sehr viel Erfahrungen was solche Fälle betrifft. Wir haben alle für die Aufklärung dieses Falles notwendigen Fähigkeiten hier im Raum versammelt.“ Bevor er weiterredete, blickte er nach und nach jedem Teilnehmer in die Augen. „Ich erwarte von jedem der Anwesenden, dass ab sofort mit Hochdruck ermittelt und eng zusammengearbeitet wird. Ihr wisst schließlich, dass die ersten achtundvierzig Stunden entscheidend für den Ermittlungserfolg sind.“ Tim schaute Rainer an, der grinste. Welcher Ermittler kannte die Regel mit den achtundvierzig Stunden denn nicht? Somit war die Besprechung mit den letzten Worten des Leiters der Mordkommission beendet.

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Mittlerweile war es schon halb acht. Sarah hatte Tim geschrieben, dass sie mit dem Abendessen auf ihn bis zwanzig Uhr warten würden. Er hatte sich darüber sehr gefreut, denn das gemeinsame Abendessen war so etwas wie ein Familienritual geworden. Eine gemeinsame Zeit um miteinander zu reden und die wenigen Stunden bewusst zusammen zu erleben. Tim dachte, dass sich so etwas für Paare ohne Kinder komisch anhören müsse, aber er wusste, wie schnell man aneinander vorbei lebte ohne zu wissen was der andere macht oder denkt.

Voller Vorfreude stieg Tim in sein Privatfahrzeug. Er würde bald zu Hause sein. Gleichzeitig plagte ihn jedoch das schlechte Gewissen. Denn mit dem Fahrrad war er in zwanzig Minuten zu Hause, mit dem Auto lediglich doppelt so schnell. Dafür war die Umweltbilanz des Autos deutlich schlechter als die des Fahrrads, wie seine Tochter ihm regelmäßig unter die Nase rieb. Er musste grinsen. Lea war mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen. Mit ihren siebzehn Jahren war sie in Diskussionen mit ihren Eltern ihnen absolut ebenbürtig. Ihre Argumentationsketten waren beeindruckend. Wenn er Lea ansah, wurde ihm immer öfter deutlich, wie schnell die letzten siebzehn Jahre und damit auch sein Leben an ihm vorbeigezogen war. Sie hatten sie damals sehr jung bekommen, als Tim noch bei der Bundeswehr als Reserveoffizier in Hannover stationiert war. Zwei Jahre später begann er seine Ausbildung bei der Kriminalpolizei und sie zogen als Familie nach Brandenburg an der Havel. In letzter Zeit bemerkte Tim aber immer öfter Spannungen zwischen ihm und seiner Tochter. Wenn er ihr Zimmer betrat, verdeckte Lea ihr Smartphone und regte sich darüber auf, dass er nicht anklopfte. Lea wirkte oft launisch und antworte häufig gereizt, wenn er sie ansprach. Er schob es auf das Erwachsenwerden, mit dem zugehörigen Abkapseln von den Eltern. Aber er merkte auch, wie schwer es ihm fiel loszulassen und ihr mehr Freiraum zu geben. Tim wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis seine Tochter ihr eigenes Leben leben würde.

Um Beruf und Familienleben unter einen Hut zu bekommen, hatte Sarah vor drei Jahren die Idee, sich als - „neudeutsch“ - Cake Designerin selbstständig zu machen. Dabei entwarf sie nicht nur Torten für besondere Familienanlässe, sondern gab in kleinen Workshops Anregungen und Hilfestellungen für die Tortenkunst. Immer wenn diese Workshops zu Hause stattfanden, suchte Tim das Weite und verabredete sich mit Freunden. Der Lärm bei einer solch großen Frauengruppe war ohrenbetäubend. Den Teilnehmerinnen schien es mehr um die Geselligkeit an sich als das Tortenbacken zu gehen. Tim war stolz auf seine Frau, dass sie den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hatte und so erfolgreich wurde.

Als Tim an ihrem zweistöckigen, weiß verputzten Haus vorfuhr, stand Sarahs schwarzer Kombi mit der auffälligen, rosafarbenen Aufschrift „SB Cakedesign“ an den Seitentüren vor der Garageneinfahrt. Tim schloss die Haustür auf und wurde schwanzwedelnd und jaulend von Lasse begrüßt. Tim rieb es Sarah und seiner Tochter fast täglich unter die Nase, dass der braune Labrador ihn deutlich herzlicher begrüßte als die beiden anderen Familienmitglieder. Als er das Haus betrat, saßen Sarah und Lea schon am Esstisch und hatten bereits mit dem Essen begonnen. „Hallo Papa. Dann essen wir also heute wirklich mal wieder zusammen!“ Lea schien heute gute Laune zu haben. Tim mochte ihre Ironie. „Ich bin auch froh mit euch essen zu können. Danke, dass ihr beide auf mich gewartet habt“, antwortete Tim. Lasse begleitete Tim zu seinem Sitzplatz, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Tim gab Sarah einen Kuss auf die Wange und setzte sich. Lea zog ihren Kopf weg, als Tim ihr auch einen Kuss geben wollte.

Während sie aßen, berichtete Lea ausgiebig von ihrem heutigen Schultag und ihrem Fußballtraining. Beim Abräumen hatten Tim und Sarah endlich Gelegenheit sich miteinander zu unterhalten. Lea war nach oben in ihr Zimmer gestürmt. „Lea hat heute ja auffällig gute Laune. Das freut mich für sie, aber auch für uns“, sagte Tim mit einem Zwinkern. Sarah nickte, „ich glaube, sie ist verliebt“, antwortete Sarah. „Fang jetzt nicht an dich aufzuregen! Sie ist siebzehn Jahre alt, da gehören Jungs nun mal zum Leben dazu.“ Sarah hatte seinen Gedanken erraten. Tim fiel es schwer, sich seine Lea mit einem Jungen vorzustellen. „Du hast absolut Recht, das gehört zum Leben dazu. Ich brauche nur etwas Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen“, antwortete Tim und nahm Sarah in den Arm. „Schatz, wir haben von unseren Nachbarn, den Meiers, für morgen Abend eine kurzfristige Einladung zu einer Gartenparty erhalten. Das Wetter ist gerade so schön und sie würden gerne mit der kompletten Nachbarschaft einen gemeinsamen Abend verbringen. Lass uns da auf jeden Fall zusammen hingehen.“, schlug Sarah vor. Dabei sah sie ihn liebevoll an. Tim merkte, wie es ihm den Hals zuschnürte. Seine Frau sah in diesem Moment mal wieder sehr hinreißend aus. Aber er wusste, dass er gleich ihre Enttäuschung und Wut wecken würde. „Das ist aber sehr kurzfristig, oder? Veranstaltet man denn Gartenpartys nicht am Wochenende, wenn auch alle Gäste kommen können? Und überhaupt: Wie wollen Meiers denn die Gartenparty so kurzfristig vorbereiten? Müssen die nicht auch arbeiten?“, fragte Tim. Er konnte die Wut in Sarahs blitzenden Augen schon während seiner Worte aufsteigen sehen. Aber es war zu spät um es ungeschehen zu machen. Ihr Gesicht wurde steinern. Der folgende Monolog kam Tim unendlich lang und vorwurfsvoll vor. „Anstatt dich zu freuen, dass unsere Nachbarn uns einladen, hast du etwas daran auszusetzen! Wenn es nach dir ginge, würden wir nur zuhause sitzen. Vorausgesetzt natürlich, du bist nicht in der Mordkommission. Wie oft soll ich dir noch erklären, dass Arbeit nicht alles im Leben ist?“

Wortlos nahm Tim die Hundeleine vom Haken neben der Haustür und ging mit Lasse raus. Er schätzte Lasse nicht nur als treuen Begleiter, sondern auch sein Gespür für menschliche Stimmungen. Lasse stupste Tim während des Spaziergangs am See mehrmals an, als ob er Tim aufmuntern wollte. „Eine Aufmunterung kann ich jetzt gut gebrauchen“, dachte Tim und beschloss, eine große Runde mit Lasse zu gehen. Als Tim von seinem Spaziergang wiederkam, nahm er das Halsband seines Gefährten ab. Der lief direkt in sein Körbchen und rollte sich ein. Im Haus war es dunkel. Scheinbar sind Sarah und Lea schon schlafen gegangen‘, dachte Tim. Er schaute kurz bei Lea vorbei, die friedlich schlief und schloss ihre Zimmertür. Und mit einem kurzen Blick ins Schlafzimmer bestätigte sich Tims Vermutung.

Fluch der verbotenen Stadt

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