Читать книгу Die Chroniken von 4 City - Band 3 - Manuel Neff - Страница 4
Listige Isabell
Оглавление4-City / Sektion der Steamborgs
Myo streicht mit zwei Fingern über das Gesicht des Mädchens. Eine helle Spur entsteht dort, wo sie den Schmutz von ihrer Vorderseite fortwischt.
»Wie ist dein Name?«, fragt Myo.
Die Kleine antwortet nicht und blickt mit angsterfüllten Augen zu Myo auf.
»Weißt du was? Ich habe eine Idee. Ich werde dich erst einmal von dieser schwarzen Kruste befreien. Ein heißes Bad scheint mir dafür gut geeignet zu sein. Und danach bekommst du etwas zum Essen. Wie wäre es mit Schokoladenkuchen? Du magst doch Schokolade. Jedes Kind mag Schoko«, sagt Myo. »Was sagst du dazu? Weißt du, was Schokolade ist?«
Das Mädchen bleibt stumm. Schüttelt dann langsam und kaum merklich den Kopf. Myo lächelt über diese stille Form der Kommunikation. Sie hat nicht damit gerechnet, dass die Barriere schon bröckeln würde und dass sie nach so kurzer Zeit zu dem Mädchen vorzudringen könnte. Die anschließende Badeprozedur sorgt dafür, dass das Eis noch mehr schmilzt. Myo glaubt sogar ein Lächeln auf ihrem Gesicht auszumachen.
Ein Geräusch, ein gedämpfter Schrei, vielleicht auch ein Hilferuf lässt Myo Richtung Badezimmertür herumschnellen.
»Bleib hier im Badezimmer«, sagt sie zu dem Mädchen und reicht ihr ein Handtuch. »Ich sehe nach, was da los ist.« Myo blickt zurück zu dem Mädchen, bevor sie den Raum verlässt. Das kleine Ding trocknet sich die Haare ab und es ist erstaunlich, was für ein hübsches Kind unter der dicken Schicht aus Schmutz und Staub zum Vorschein kommt. Sie hat überdies schon etwas Zutrauen gefunden und das obwohl Myo darauf bestanden hat, dass ihre Mutter nebenan in den Gemächern warten soll. Ein guter erster Schritt für das, was Myo mit ihr vorhat.
Sie beeilt sich und will sie nicht zu lange alleine lassen. Noch ist sie mit Abtrocknen beschäftigt, eine für sie völlig neuartige Erfahrung. Aber was ist anschließend? Wird sie voller Panik um Hilfe schreien und versuchen davonzurennen?
Myo tritt in den Korridor und schließt hinter sich die Tür. Von wo kam der Hilferuf? Sie hört wieder etwas. Nun viel leiser. Danach - Stille.
Sie geht ein paar Meter und öffnet die Tür zu ihrem Schlafzimmer, zu ihrem Refugium. Hier hat Ice keinen Zutritt. Falls es tatsächlich einmal zu nächtlichen Intimitäten kommen sollte, dann finden diese in den Räumlichkeiten des Masters der Steamborgs statt, so behält Myo immer die Kontrolle. Myo bleibt unter dem Türrahmen stehen. Auf dem Boden vor dem Bett und dem Fenster liegt die Mutter des Mädchens. Blutüberströmt hält sie sich ihren Bauch. Zwischen ihren Fingern sprudelt unablässig die purpurfarbene Flüssigkeit heraus. Die Bauchaorta! Jemand hat sie mit einem tiefen Stich aufgeschlitzt. Myo entdeckt auch sofort das Werkzeug. Ein spitzer, langer Dolch liegt neben ihr auf dem Holzfußboden. Blut breitet sich wie rote Tinte um sie herum aus. Ihre Augen sind bereits starr. Sie ist tot. Erstochen. Ermordet. Vor wenigen Augenblicken.
»Du solltest besser auf deine Schützlinge aufpassen«, haucht eine eisige Stimme hinter ihr.
Isabell? Ice zweite Frau!
Myo dreht sich auf dem Absatz um und ist bereit, ihr den Hals umzudrehen.
Isabell begrüßt Myo mit einem eiskalten Lächeln. Sie ist die Mörderin, daran hegt Myo nicht den geringsten Zweifel, auch wenn ihr Äußeres das nicht vermuten lässt. Blondes, langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Himmelblaue Augen, ein bildhübsches Gesicht und einen zierlichen Körper, der von einem luftigen Kleid umschmeichelt wird. Sie ist mit einer Aura von Schönheit und Eleganz gesegnet, die nicht zu dieser Welt passt. Ihre Boshaftigkeit und Gerissenheit hingegen schon.
»Was hast du getan?«, brüllt Myo sie an.
»Ich? Überhaupt nichts«, lächelt Isabell siegesgewiss. »Das warst du«, sagt sie und plötzlich hat sie ein Glas in der Hand und schleudert den Inhalt auf Myo. Viel zu überraschend, als dass Myo hätte ausweichen können. Myo schaut an sich herab. Blut. Das Glas war voll mit Blut. Instinktiv fasst sich Myo ans Kleid. Ihre Hände färben sich blutrot. Noch bevor sie begreift, welchen Schachzug Isabell gerade ausgespielt hat, öffnet sich die Tür am Ende des Korridors. Ice muss sie gehört haben und betritt die Bühne. Er hat das zappelnde Mädchen an den Haaren gepackt und zieht es hinter sich her.
»Die Göre wollte sich verziehen, hat sich jedoch dummerweise in mein Arbeitszimmer verirrt. Pech gehabt.« Ice betrachtet die beiden Frauen.
Isabell hat ihre perfekte Unschuldsmiene aufgesetzt.
»Myo hat ihre Mutter umgebracht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie ist eine eiskalte Mörderin. Ich habe es dir von Anfang an gesagt«, schluchzt Isabell und Tränen fluten plötzlich ihre Augen. Eine beileibe schauspielerische Höchstleistung.
Myo ist nicht imstande, sich zur Wehr zu setzen. Die Situation ist zu grotesk. Ihre Schlagfertigkeit kann der Gegnerin nicht das Wasser reichen. All ihre Gedanken sind bei dem armen Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hat. Welch ein Trauma.
Ice kommt näher und betrachtet die Szene in Myos Schlafzimmer genauer. Sein Gesichtsausdruck verwandelt sich in Sekundenschnelle von Überraschung über Stolz zu Entzücken. Er lacht so laut, dass es im Korridor widerhallt und klatscht sich auf den Schenkel, wobei er das Mädchen loslässt. Augenblicklich ergreift Isabell sie an der Hand.
»Hiergeblieben! Ab sofort kümmere ich mich um dich. Du willst doch sicher nicht bei der Mörderin deiner Mutter bleiben«, säuselst sie. »Ich werde mich um dich sorgen, du armes Ding.« Myo würde ihr am liebsten an die Kehle springen.