Читать книгу Die Chroniken von 4 City - Band 3 - Manuel Neff - Страница 7
John
ОглавлениеDer Verlust der Lebensfreude. Die energetische und emotionale Austrocknung. Die Unfähigkeit, zärtliche Berührungen zu genießen und Intimität zuzulassen. Das alles und noch mehr, trifft auf Isabell zu.
Die Ursache ist die Störung ihres Energiezentrums Wasser. Das zweite Chakra, das etwa eine Handbreit unter dem Bauchnabel liegt. Isabell fühlt sich unentwegt einsam und begegnet allem und jedem mit einem Gefühl der Fremdheit. Sie fühlt sich seit ihrer Kindheit, seitdem sie von ihren Eltern weggeschmissen wurde, vom Leben abgeschnitten und nicht selten ist sie von extremen Stimmungsschwankungen und Eifersucht geplagt.
Letzte Überreste ihres Gewissens fragen sich, wie es dazu kommen konnte und warum sie nicht einfach mit dem Töten aufhören kann. Ein psychologisches Gutachten würde vermutlich viele Gründe dafür finden, warum Isabell zum Monster wurde. Ohne Mutter und ohne Vater wuchs sie in der Sektion der Steamborgs auf. Ihr Spielplatz waren die alten Gewölbekeller und Tunnel unter dem Flughafengelände, dort wo sich heute ihre Werkstatt befindet. Ihre Puppen waren die Steamborgs und ihr Spielzeug waren die Kinder. Ice hat sie ihr geschenkt, damit sie nicht so alleine ist. Isabell hat er nie gefragt, warum diese Kinder nie mehr das Tageslicht erblickt haben. Isabells einziger Bezug zu einem Erwachsenen waren Artox und Ice. Ice, der Mann, der kaum Gefühle zu zeigen in der Lage ist. Bei Isabell hat er da keine Ausnahme gemacht, auch wenn er sie wie seine eigene Tochter aufgezogen hat und sie später als junge, heranwachsende Frau zur Geliebten nahm.
Isabell kam schon mit ihrer außergewöhnlichen Gabe zur Welt. Besser als jede andere hat sie den Æther, die Emotionen und deren Beziehung zur menschlichen Seele ergründet. Nicht theoretisch, sondern experimentell. Als sie ihren ersten Mord begangen hat, war sie selbst erst vierzehn Jahre alt. Seitdem hat sie ihre Fähigkeit perfektioniert und eine ihrer wesentlichen Erkenntnisse ist: Je mehr Emotionen im Spiel sind, desto größer ist der Ertrag an Ektoplasma.
Was wäre aus Isabell geworden, wenn sie unter normalen Umständen aufgewachsen wäre? Wäre sie dann ein besserer Mensch? Ein guter Mensch? Vielleicht ja. Unter Umständen aber auch nicht. Was ist die Definition von Gut und Böse? Kommt es nicht immer auf den Blickwinkel des Betrachters an? An dieser Stelle endet für gewöhnlich die Debatte in ihrem Kopf und jedes Mal zieht die gleiche Seite ihres Gewissens den Kürzeren.
Die unterirdisch gelegene Werkstatt ist durch Æther-Röhren erhellt. Es gibt natürlich keine Fenster und der einzige Fluchtweg ist die feuerfeste Stahltür auf der rechten Seite. Auf Tischen stehen unzählige Petrischalen, Messzylinder und Mörser. Requisiten wie in einem gut ausgestatteten Chemielabor.
Die ganzen Hilfsmittel perfektionieren lediglich Isabells Begabung. Æther lässt sich auf unterschiedlichste Arten in nutzbare Energie umwandeln. In den meisten Fällen entsteht dabei jede Menge Wasserdampf. Nicht bei Isabells Verfahren. Æther befindet sich überall im Universum, aber Isabell geht es einzig und allein um die reinste Form dieser unerschöpflichen Energiequelle, welche nur in Menschen und in besonders hoher Konzentration bei Kindern vorhanden ist. Das liegt an den Gefühlen, weiß sie und viele Emotionen bedeuten eine gute Ernte, wiederholt sie in Gedanken.
Isabell erinnert sich an die Ereignisse in der Abteilung 3, so als wären die Eindrücke als farbige Bilder in ihre Haut geritzt. Sie war dort, war als Schrottsammler getarnt, so wie sie es immer tut, um die Feinde mit ihrem Gift zu betäuben. Doch in der Abteilung 3 ist sie auf keine Schrottsammler gestoßen, sondern auf eine Synthetik. Ikumi, erinnert sich Isabell, mit dem Anflug eines Lächelns an ihren Namen. Die Emotionen waren bei ihr besonders hoch konzentriert. Noch nie hatte Isabell jemand mit so vielen Gefühlen erlebt und so war auch der Æther in ihr in außerordentlichem Maße angereichert. Aber es war keine Angst, sondern eine Emotion, die Isabell nicht verstanden hat. Trotzdem hat sie ihr den Kopf eingeschlagen und den Æther abgemolken, was selbstverständlich den Tod der Synthetik zur Folge hatte. Sie hat anschließend einige Vorkehrungen getroffen, damit es so aussieht, als hätten sich Schrottsammler an ihr vergriffen. Das diente dazu, ihre Anwesenheit in der Abteilung 3 zu vertuschen. Isabell will die Geheimnisse der Synthetiks ergründen, aber zunächst muss sie das hier erledigen.
Sie spielt mit dem leeren Fläschchen zwischen ihren weißen, marmorglatten Fingern. Gleich wird es bis zur Hälfte mit reinstem, goldenen Ektoplasma gefüllt sein.
Ektoplasma ist eine faszinierende Erscheinung. Es bildet eine Brücke zwischen dem Æther und der Materie. Durch welchen Vorgang es gebildet wird, ist Isabell bekannt. Es ist ein alchemistischer Prozess, bei dem der Æther verdichtet und materialisiert wird. Ist es besonders rein, dann schimmert das Ektoplasma golden bis weißgolden mit einer Spur Silber darin. Sein Geschmack ist angenehm süß wie Blütennektar. Und neben seiner Eigenschaften als Energie- und Nahrungsquelle beschwört er beim Verzehr ekstatische Zustände herauf und setzt außerordentliche Selbstheilungskräfte in Gang. Isabell ist süchtig danach.
»Hast du Angst?«
Die Frage gilt dem Neuankömmling, dem kleinen Jungen, der in Isabells Werkstatt auf einem metallenen Stuhl mit Lederriemen festgeschnallt ist. Er ist schmutzig und was einmal seine Kleidung war, hängt nun in Fetzen an ihm herab. Das Kind besteht im Grunde nur aus Haut und Knochen und starrt Isabell aus kleinen, ängstlichen Augen an.
»Falls du keine Angst hättest, dann wärst du ganz schön dumm. So dumm wie das Mädchen hier.« Der Junge gibt keinen Mucks von sich. Sein Brustkorb hebt und senkt sich verdammt schnell, was entweder an der Todesangst oder den aufputschenden Medikamenten liegt, welche ihm Isabell in seinen dünnen Unterarm gespritzt hat. Seine Augen wurden dadurch so schwarz, dass es aussieht, als hätte er keine Pupillen mehr.
»Wie ist dein Name? Willst du mir den verraten?«, fragt Isabell.
Der Junge fürchtet sich zu Tode und bekommt keinen Ton heraus. »Weißt du was, ich habe eine prima Idee. Ich nenne dich einfach John. Was hältst du davon, John?«
Isabell schreibt, ohne weiter auf eine Reaktion zu warten, John auf ein Etikett und darunter ein paar Zahlen. Ihre Zungenspitze schiebt sie dabei in den linken Mundwinkel.
»So, dann werde ich dich mal abmelken. Es wird weh tun. Verdammt schlimm sein, um genau zu sein. Die meisten schreien dabei sehr, sehr laut. Aber das ist kein Grund zur Sorge, denn hier unten kann dich niemand hören.« John schaut zähneklappernd zu, wie Isabell mit katzenhafter Miene weitere Vorbereitungen trifft.
»Und was ist mit dir?«, wendet sie sich an das Mädchen, das sich seit drei Tagen hier unten befindet und immer noch durchhält. Sie ist erstaunlich widerstandsfähig und hat schnell begriffen, dass es nur eine Chance gibt, um zu überleben. Sie darf auf gar keinen Fall Angst zeigen. Aber letztlich befindet sie sich direkt neben dem Jungen in der gleichen misslichen Lage und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch soweit ist, um gemolken zu werden. Isabell blickt auf die Handgelenke des Mädchens, welche sie bei den Versuchen, sich aus den Fesseln zu befreien, blutig gescheuert hat.
»Vermisst du deine Mutter?, fragt Isabell mit eiskalter Stimme. »Keine Sorge, du wirst sie schon bald wiedersehen.« Sie lächelt so, dass zwischen dem Rot ihrer Lippen die Zähne zum Vorschein kommen und streicht dem Mädchen mit einem Finger über die Wange. »Was für ein hübsches Ding du doch bist. Eine Schande, dass es so enden muss. Aber nun zu dir, mein lieber John! Ich hoffe doch sehr, dass du dich als gehorsam erweist und gleich vor Angst so richtig ausflippst, wenn ich dir wehtue. Versuche, nicht in die Hosen zu machen. Ich hasse das Aufwischen.« Isabell wendet den Kopf langsam zurück zu dem kleinen Kerl und ein breites Grinsen ziert ihr hübsches Gesicht.
Federleicht wie eine Ballerina schwebt sie schließlich durch die unterirdische Kammer und stellt die erforderlichen Zutaten zusammen. Isabell ist tatsächlich wie eine grausame gefräßige Spinnenmutter, die sich von ihren eigenen Kindern ernährt.
»Ein bisschen hiervon und etwas davon«, wispert sie und macht ein paar Notizen mit quietschender Kreide auf einer Tafel. Sie öffnet den Kühlschrank, holt eine Glasphiole heraus und stellt sie zu dem anderen Zeug.
»Mist! Keine Spritzen mehr«, flucht sie, nachdem sie mehrere Schubladen an dem weißen Apothekerschrank herausgezogen und erfolglos durchwühlt hat. »Ihr wartet hier schön brav auf mich und stellt nichts an! Verstanden?«, sagt sie zu den Kindern und verschwindet, um neue Spritzen aus dem Lager nebenan zu holen. Hinter Isabell knallt die Stahltür in den Türrahmen. Durch die Erschütterung schwingen die Seile leicht nach, an denen die Æther-Röhren an der Gewölbedecke befestigt sind.
»Sie wird uns beide umbringen«, stottert der Junge. »Und mich zuerst. Ich will nicht sterben. Ich habe Angst vor dem Tod. Ich fürchte mich davor, was sie mit mir machen wird. Habe solche Angst davor, wie ich sterben werde.« Er schaut das Mädchen an. Es ist vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als er. Das Mädchen bleibt stumm und starrt ihn bloß an. Plötzlich beginnt er wie verrückt an seinen Handfesseln zu zerren. Der Eisenstuhl beginnt zu wackeln, löst sich aus seiner Verankerung am Boden und kippt schließlich zum Erstaunen des Jungen und des Mädchens zur Seite um. Für einen Moment liegen der Stuhl und er auf dem kalten Plattenboden. Er weiß gar nicht, was er mit seiner neuen Situation anfangen soll, dann begreift er, dass sich die Fesseln an einem Gelenk gelöst haben. Hektisch befreit er auch die andere Hand, dann die Beine und steht auf. Sein Blick schwenkt von der Tür zu dem Mädchen. Hin und her. Hin und her, bis er schließlich einen Entschluss gefasst hat und sich an den Fesseln des Mädchens zu schaffen macht. Sie schüttelt den Kopf, aber ihn scheint das nicht davon abzubringen und er macht einfach weiter. In dem Moment, als er ihre erste Hand befreit, poltert es plötzlich hinter den beiden. Die Stahltür ist zurück ins Schloss gefallen! Das nächste Geräusch ist der nervenzerfetzende, gellende Schrei des Jungen.