Читать книгу Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945 - Manuel Schramm - Страница 6

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Einleitung

Eine westeuropäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Nachkriegszeit zu schreiben, ist kein einfaches Unterfangen, und das aus drei Gründen. Erstens hat sich die Zahl der Themen, die von der Wirtschafts- und Sozialgeschichte behandelt werden, sprunghaft vermehrt. Zu den klassischen Themen wirtschaftliche Entwicklung und soziale Ungleichheit sind viele neue getreten: Geschlechtergeschichte und Umweltgeschichte etwa, aber auch die Geschichte der Jugend, der Hoch- und Populärkultur, der Migration, des Konsums, der globalen Beziehungen etc. Neben der Vielzahl der Themen gilt es zweitens, die Verschiedenheit der regionalen und nationalen Erfahrungen zu berücksichtigen. Westeuropa in der hier verwendeten Definition umfasst alle europäischen Staaten außer den mittel- und osteuropäischen Ländern, die zwischen Ende der vierziger und Ende der achtziger Jahre ein sozialistisches Gesellschaftssystem besaßen, also die Warschauer Vertragsstaaten, aber auch Jugoslawien und Albanien. Der Ausschluss dieser Länder erfolgt nicht, weil sie unwichtig wären. Jedoch haben sie ihre eigene Entwicklung, die nach 1945 nur teilweise zu derjenigen der westeuropäischen parallel läuft und daher eine eigene Betrachtung verdient. Es bleiben damit immer noch 18 Staaten1 (ohne Zwergstaaten wie Andorra oder Monaco), die teilweise noch bedeutende regionale Unterschiede aufweisen (wie Spanien, Belgien oder Italien). Die nationalen Historiografien strukturieren den hier behandelten Zeitraum recht unterschiedlich, da die Zäsuren in Frankreich andere sind als in Spanien oder in Deutschland. Der Vielfalt dieser unterschiedlichen Erfahrungen gerecht zu werden, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich.

Drittens schließlich hat der Historiker mit einer Vielzahl von Deutungsangeboten zu rechnen, die von der Geschichtswissenschaft oder von anderen Disziplinen vorgeschlagen werden. Leitbegriffe für die gesellschaftliche Entwicklung seit 1945 könnten demnach sein: Postmoderne, Fordismus/Postfordismus, Sicherheit, Kalter Krieg, Wissensgesellschaft, Netzwerkgesellschaft, digitale Revolution, Informationsgesellschaft, dritte und vierte industrielle Revolution, postindustrielle Gesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Globalisierung, Amerikanisierung, Westernisierung, Wertewandel und vieles andere mehr. Manche dieser Begriffe werden in der Darstellung aufgegriffen, aber die ausführliche Diskussion aller dieser und anderer Interpretamente würde ein eigenes Buch füllen.

Die hier gewählte Darstellung beruht auf einer zeitlichen und einer thematischen Differenzierung. Dem liegen einige Annahmen und Hypothesen zugrunde, die hier offengelegt werden sollen. Zunächst einmal erschien es sinnvoll, den Zeitraum zwischen 1945 und der Gegenwart (immerhin 70 Jahre) in drei große Abschnitte zu unterteilen, die wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch unterschiedliche Merkmale besaßen: erstens die unmittelbare Nachkriegszeit bis ca. 1950, zweitens die Zeit des Booms bis ca. 1970 und drittens die Zeit von 1970 bis zur Gegenwart. Die unmittelbare Nachkriegszeit war charakterisiert durch eine weitgehend am Boden liegende Wirtschaft, einen durch Rationierung verwalteten Mangel und dadurch eine soziale Nivellierung auf niedrigem Niveau. Politisch war sie geprägt durch einen antifaschistischen, ja antikapitalistischen Grundkonsens, der alle Parteien außer der extremen Rechten einschloss. Davon zu unterscheiden ist die Zeit des Booms oder Wirtschaftswunders, die den Durchbruch zum Massenkonsum mit sich brachte. Sie bildet eine Einheit, denn in dieser Zeit ging es wirtschaftlich nahezu ohne Unterbrechung bergauf, und breite Schichten profitierten vom zunehmenden Wohlstand, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Geschwindigkeit.2 Politisch dominierten in dieser Phase überwiegend die bürgerlichen, also christdemokratischen, liberalen und konservativen Parteien.

Die dritte Phase schließlich setzte mit dem Ende des Booms um 1970 ein. Die wirtschaftliche Entwicklung war danach zwar nicht so schlecht wie manchmal behauptet, aber doch wechselhaft und immer wieder von Krisen unterbrochen. Die soziale Ungleichheit nahm wieder zu, in manchen Ländern stark, in anderen weniger, aber insgesamt doch deutlich. Politisch verloren die christdemokratischen und konservativen Parteien ihre Hegemonialstellung und es kam zu einer Zunahme der Zahl der relevanten Parteien und somit zu einer Fragmentierung der Parteiensysteme. Die prägende Entwicklung dieser Zeit ist die Globalisierung, die seit ca. 1970 in eine neue Phase eintrat. Globalisierung ist zwar ein Sammelbegriff für teilweise recht unterschiedliche Prozesse der Zunahme von Interaktionen über nationalstaatliche Grenzen hinweg, aber dennoch mehr als nur ein Mythos. Sie war keine zwangsläufige Folge technischer Errungenschaften, sondern wurde von verschiedenen Akteuren bewusst gefördert. Verlauf und Folgen der Globalisierung prägen die westeuropäische Geschichte seit 1970 bis in die Gegenwart. Somit haben alle drei Phasen einen eindeutig zu identifizierenden eigenständigen Charakter, auch wenn manche Prozesse über die Zäsuren von 1950 oder 1970 hinausweisen. Kontinuitäten und Brüche sind in der Sozialgeschichte letztlich immer relativ.

Die einzelnen Kapitel innerhalb der drei genannten Zeitabschnitte sind dann jeweils einem Thema gewidmet. Man hätte sicher auch eine stärker geografische Gliederung wählen können, doch wurde dies aus zwei Gründen unterlassen. Zum einen handelt es sich nicht um ein Handbuch, in dem die Geschichte der einzelnen europäischen Staaten nachzulesen wäre. Dazu reicht der Platz nicht aus und es entspricht auch nicht der Intention der Darstellung, die bemüht ist, gemeinsame Grundzüge und Varianten der westeuropäischen Entwicklung nachzuzeichnen, aber nicht, nationale und regionale Unterschiede bis ins letzte Detail zu verfolgen. Zum anderen ist doch die Entwicklung der einzelnen Staaten oder Regionen nicht so unterschiedlich, dass eine solche Differenzierung (etwa zwischen Nord- und Südeuropa oder zwischen angelsächsischem und „rheinischem“ Kapitalismus) zwingend geboten wäre. Vielmehr wird dargelegt, dass das Maß an Konvergenz und Divergenz zwischen den europäischen Staaten je nach Thema und betrachtetem Zeitraum stark variiert. Eine Annäherung der europäischen Gesellschaften untereinander wie auch zu anderen OECD-Staaten fand zwar statt, aber es gab auch gegenläufige Tendenzen der Beharrung oder gar der Auseinanderentwicklung. Eine seriöse Prognose für die Zukunft lässt sich daraus kaum ableiten; sie bleibt somit offen.

Ein naheliegender Einwand gegen die Berücksichtigung auch der jüngsten Vergangenheit bis zur Gegenwart lautet, dass es zum Schreiben von Geschichte einer gewissen zeitlichen Distanz bedarf, da manche Zusammenhänge, Kontinuitäten wie Brüche, erst im Abstand einiger Jahre deutlich werden. Es ist sicher nicht zu leugnen, dass die Geschichte der jüngsten Zeit vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren anders geschrieben werden muss als heute. Aber trifft dies nicht auf die gesamte Geschichte zu, die kontinuierlich im Licht der jeweiligen Gegenwart einer neuen Analyse und Bewertung unterzogen wird? Zudem existiert eine gesellschaftliche Nachfrage, besonders bei der jungen Generation, nach historischer Einordnung der Gegenwart. Wenn sich die professionellen Historiker dieser Aufgabe (aus welchen Gründen auch immer) verweigern, besteht die Gefahr, dass sie das Feld den Demagogen und Scharlatanen überlassen.

Zum Forschungsstand lässt sich im Allgemeinen nur anmerken, dass er sehr unterschiedlich ist. Mitnichten sind alle wichtigen Themen bereits gut erforscht, wie Außenstehende häufig meinen. Vor allem mangelt es an guten vergleichenden Arbeiten, die zwei oder mehr Länder miteinander in Beziehung setzen, ohne jedoch den Vergleich auf reine Quantitäten zu reduzieren. Hier gäbe es noch viel zu tun. Die Literaturhinweise am Ende eines jeden Kapitels sind selbstverständlich kein vollständiges Verzeichnis der Literatur zum Thema, sondern lediglich eine Anregung zum Weiterlesen. Es wurden auch nur Arbeiten in deutscher und englischer Sprache aufgenommen, da sich die Arbeit auch und besonders an Studierende wendet. Die Experten für die einzelnen Themen werden manches vermissen, was in ausführlicheren Darstellungen Platz findet. Jedoch ist zu hoffen, dass auch sie vielleicht den einen oder anderen neuen Gesichtspunkt aus der vergleichenden Perspektive gewinnen mögen. „Wenn mir das gelungen ist, dann nicht, weil ich die lokalen Quellen besonders gut kenne“, schrieb der französische Historiker Marc Bloch. „Im Gegenteil, ich kenne sie weitaus weniger gut… Nur sie als Spezialisten werden diese Ader wirklich ausbeuten können, auf die ich lediglich hinweisen kann. Mein einziger Vorteil ihnen gegenüber ist recht bescheiden und mitnichten an meine Person gebunden… Mit einem Wort, ich habe einen besonders wirksamen Zauberstab verwendet: die vergleichende Methode.“

Literatur

Bloch, Marc: Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten, Leipzig 1994, S. 121–167

Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3. Aufl. 2013

Haupt, Heinz-Gerhard/Kocka, Jürgen (Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main/New York 1996

Pongs, Armin (Hg.): In welcher Gesellschft leben wir eigentlich? Auf dem Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, München 3. Aufl. 2007


1In alphabetischer Reihenfolge: Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Finn-land, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, Vereinigtes Königreich. Die einzige größere territoriale Veränderung seit 1949 betraf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990.

2Verschiedentlich ist eingewendet worden, dass der entscheidende Durchbruch zum Massenkonsum eher am Ende der fünfziger Jahre gelegen habe, da erst dann die Arbeiter am zunehmenden Konsum vor allem langlebiger Güter partizipiert hätten. Das ist zwar zutreffend. Aber eine Zäsur etwa 1958 oder 1959 zu setzen, erscheint doch willkürlich, denn die Ausbreitung des Massenkonsums setzte bereits zu Beginn der fünfziger Jahre ein, mit der „Fresswelle“, auf die die „Bekleidungswelle“ und dann die „Einrichtungswelle“ folgten. Warum sollten überhaupt die Arbeiter und nicht die Mittelschichten der Bezugspunkt sein? Warum langlebige Konsumgüter und nicht die Ernährung?

Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945

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