Читать книгу Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945 - Manuel Schramm - Страница 7
Оглавление1.1Rationierung und Schwarzmarkt
Viele zeitgenössische Aussagen dokumentieren, dass die Suche nach Nahrungsmitteln und Brennstoff in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Alltag der Menschen bestimmte. Mehr als politische oder gesellschaftliche Fragen dominierten triviale Alltagsprobleme das Denken und die Konversationen. Insbesondere den Frauen fiel häufig die Aufgabe zu, den schwierigen Alltag zu organisieren, sich Informationen zu beschaffen, wann was wo zu bekommen sei, Schlange zu stehen, die beschränkten Kochzeiten zu planen und den Mangel zu verwalten. Insofern ist es nur recht und billig, die Geschichte der Nachkriegszeit mit diesen Alltagsproblemen zu beginnen und die insgesamt besser erforschten politischen Fragen in den folgenden Kapiteln zu behandeln.
Grundsätzlich war der Konsum zwischen Kriegsende und ca. 1949 geprägt von der Rationierung. Insofern ist die Kennzeichnung der Nachkriegsgesellschaften als „Rationen-Gesellschaften“ (Rainer Gries) durchaus zutreffend, auch wenn man in manchen Fällen vielleicht eher von „Schwarzmarkt-Gesellschaften“ sprechen sollte, da in vielen Städten und Regionen (insbesondere in Italien) dem Schwarzmarkt eine wichtigere Rolle für die Versorgung zukam als den offiziellen Rationen. Zunächst ist es aber wichtig zu verstehen, dass die Versorgung (und damit ein großer Teil des All-tags) in diesen Gesellschaften nach einem ganz anderen Muster funktionierte, als wir das heute gewohnt sind, denn viele Güter des täglichen Bedarfs (nach Ort und Zeit verschieden) wurden nicht frei verkauft, sondern waren rationiert oder unterlagen Preiskontrollen. Die Rationierung konnte verschiedene Formen annehmen, in jedem Fall aber war sie ein sehr bürokratisches Verfahren, das sowohl den Behörden wie auch den Konsumenten viel Geduld abverlangte. Die Vorteile des Rationierungssystems, wenn es denn funktionierte, waren eine grundsätzlich gerechte Verteilung knapper Güter. Daraus bezog die Rationierung sogar eine gewisse soziale Akzeptanz, wenn und solange sie als gerecht empfunden wurde wie beispielsweise in Großbritannien. Leider blieb das die Ausnahme, und zu den unerwünschten, aber kaum zu vermeidenden Begleiterscheinungen der Rationierung gehörten alternative Beschaffungsformen, legale, halblegale und illegale: der Schwarzmarkt, Hamsterfahrten, Paketsendungen, Horten, Tauschgeschäfte und anderes mehr.
Oberflächlich betrachtet glichen sich die „Rationen-Gesellschaften“ weitgehend. Überall musste man Schlange stehen, überall kam es zu mehr oder weniger spontanen Protesten, überall unternahm man Hamsterfahrten oder handelte auf dem Schwarzmarkt. Die westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit unterschieden sich in dieser Hinsicht kaum von denen des Ersten oder Zweiten Weltkrieges. Der Teufel steckte jedoch im Detail.
Schon die Ausgangslage war sehr unterschiedlich. Die Länder, die unter deutsche Besatzung geraten waren, wurden vom NS-Regime nach rassischen Kriterien, aber auch nach dem Grad des Widerstands, den sie geleistet hatten, sehr unterschiedlich behandelt. Grundsätzlich waren die Rationen in den osteuropäischen Gebieten niedriger als in den westeuropäischen, aber auch Westeuropa wurde zugunsten des Großdeutschen Reiches ausgeplündert. Während Dänemark großzügig versorgt wurde und die Rationen hier teilweise höher waren als in Deutschland (ca. 2000 Kalorien pro Kopf und Tag), waren die Rationen in Italien ähnlich niedrig wie in Polen und reichten mit ca. 1000 Kalorien pro Kopf und Tag 1942/43 als Normalration kaum zum Überleben. Nicht viel besser war die Lage in Frankreich von 1942 an mit ca. 1100 Kalorien pro Kopf und Tag. Die Niederlande erlebten einen katastrophalen Hunger-winter 1944/45, ähnlich wie Griechenland bereits 1941/42. In Deutschland wurde die Versorgungslage erst gegen Ende des Krieges angespannt, als aufgrund des Vorrückens der Alliierten die Ausplünderung der besetzten Gebiete nicht mehr möglich war. Trotz der unterschiedlichen Höhe war das Rationierungssystem im Prinzip überall gleich. Die Einteilung der Bevölkerung erfolgte zum einen nach Alter, wobei Erwachsene die so genannte „Normalration“ erhielten, und zum anderen nach der Art der verrichteten Arbeit. So gab es Zulagen für Industriearbeiter, die zwischen 15 und 50 Prozent der Normalration lagen (1944), und für Schwerarbeiter, die zwischen 20 und 100 Prozent der Normalration variierten. Dieses System spiegelte die enorme Bedeutung der Industriearbeit für die Besatzungsmacht wider, da sie die Fortführung des Krieges gegen die überlegenen Alliierten ermöglichte.
Da die Ausplünderung der besetzten Länder kaum geheim gehalten werden konnte, erhofften sich viele Menschen von der Befreiung durch die Alliierten eine schlagartige Verbesserung der Lage. Umso größer war die Enttäuschung, als dies nicht geschah. Zunächst waren die alliierten Streitkräfte auf zivile Verwaltungsaufgaben nur schlecht vorbereitet. Hinzu kam, dass das Ausmaß der Versorgungskrise beispielsweise in Italien die vorrückenden Truppen stark überraschte. So verbesserte sich die Versorgungslage nur langsam und die Rationierung wurde, wenn auch von Land zu Land unterschiedlich, noch jahrelang beibehalten. Teilweise verschlechterte sich die Lage sogar. In Frankreich wurden die Brotrationen nach Kriegsende von 350 g pro Tag und Person erst auf 300 g und dann auf auf 250 g gesenkt. In Großbritannien wurde Brot erst 1946, also ein Jahr nach Kriegsende, rationiert, und war erst 1948 wieder frei verfügbar. Auch in Deutschland wurden die Brotrationen im Frühjahr 1946 gekürzt. Hier war das „Hungerjahr“ 1947 die wohl schwierigste Zeit dieser Periode, beispielsweise in Köln, wo die Rationen im April 1947 so stark gekürzt wurden, dass ihr Nährwert von ca. 1100 Kalorien für den Normalverbraucher auf 900 (und zeitweise noch darunter) fiel.
Die Rationierungssysteme unterschieden sich teilweise deutlich voneinander. Das nationalsozialistische System der Kriegswirtschaft sah nach Lebensaltern gestaffelte Rationen mit Zulagen für besondere Gruppen vor. In den meisten Ländern, so auch in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, wurde dieses System beibehalten, wenn auch mit Modifikationen. Die größte Gruppe bildeten die erwachsenen Normalverbraucher, Zulagen wurden für Schwer- und Schwerstarbeiter gewährt, für stillende und werdende Mütter, für Kranke, Alte, Schwerbeschädigte, politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge. Völlig anders war die Rationierung in der sowjetischen Besatzungszone geregelt, wo (bis 1947) sechs Gruppen unterschieden wurden, die jeweils eigene Lebensmittelkarten erhielten: Schwerstarbeiter, Schwerarbeiter, Arbeiter, Angestellte, Kinder und Sonstige. Berüchtigt waren vor allem die Hungerrationen für die Kategorie der „Sonstigen“, in die Hausfrauen, ehemalige Nazis, Rentner und nicht arbeitende Besitzer von Betrieben eingruppiert wurden: Ihre Lebensmittelkarte wurde im Volksmund als „Friedhofskarte“ bezeichnet. Dagegen war die Intelligenz, die meist bei den Arbeitern eingruppiert wurde, sogar zunächst besser gestellt als in den westlichen Besatzungszonen. Ein wiederum ganz anderes Rationierungssystem herrschte in Großbritannien vor. Dort verzichtete die Regierung auf eine Differenzierung der Bevölkerung (ausgenommen Kinder unter sechs Jahren) und jeder erhielt dieselbe Ration (mit wenigen Ausnahmen für Schwangere, stillende Mütter und bestimmte Gruppen von Arbeitern). Erst im Oktober 1946 wurde eine zusätzliche Fleischration für Bergarbeiter eingeführt. Das Prinzip der Flatrate-Rationen war deswegen unproblematisch, weil ohnehin nur ein Teil der Lebensmittel rationiert war (v.a. Zucker, Butter, Schinken, Fleisch, zeitweise auch Brot), die Konsumenten also auf frei verfügbare Waren ausweichen konnten.
Das Rationierungsregime herrschte von Land zu Land unterschiedlich lange. Zudem umfasste es häufig nur einen Teil der Güter des täglichen Bedarfs. Dennoch ist es hilfreich, sich vor Augen zu halten, wie lange die Bevölkerung in manchen Ländern mit Einschränkungen der einen oder anderen Art leben musste. In der noch jungen Bundesrepublik Deutschland beispielsweise wurde das bevorstehende Ende der Rationierung Anfang 1950 in der Presse als Ende einer über dreizehnjährigen Periode der Einschränkungen und Entbehrungen gefeiert. Tatsächlich waren es fast vierzehneinhalb Jahre, da schon im Herbst 1935 Kundenlisten für Butter und Schmalz eingeführt worden waren. Das Ende der Rationierung kam hier mit dem 1. April 1950, als die Rationierung für Zucker aufgehoben wurde.
Auch andere Länder hatten lange Perioden der Einschränkungen hinter sich, als die Rationierung schrittweise seit Ende der vierziger Jahre aufgehoben wurde. Zwar dauerte es in Westeuropa nirgendwo so lange wie in der DDR, wo das definitive Ende erst 1958 kam und kurz darauf sogar wieder Kundenlisten für Butter eingeführt werden mussten. Doch auch in Westeuropa zog sich die Periode der Rationierung in einzelnen Ländern bis in die fünfziger Jahre hinein, so in den Niederlanden bis Januar 1952 (für Kaffee) oder in Großbritannien bis Juli 1954 (für Fleisch, Schinken, Speck). Selbst in Italien, wo die Rationierung bereits 1948 endete, hatte die Bevölkerung bereits seit 1937 (mit der Einführung des dunklen „Einheitsbrotes“) unter Einschränkungen leiden müssen. Die Zeit der Rationierung war nicht nur eine Episode, sondern dauerte ein gutes Jahrzehnt und bildete somit ein prägendes Erlebnis für viele Menschen, die sie miterleben mussten.
1.1.1Alternative Beschaffungsformen
Da die Rationen in den meisten Ländern nicht ausreichten, sahen sich große Teile der Bevölkerung, vor allem in den Städten, gezwungen, nach alternativen legalen, halblegalen oder illegalen Mitteln der Nahrungs- und Brennstoffbeschaffung zu suchen. Dazu gehörten Schlangestehen, Hamsterfahrten auf das Land, Pakete von Verwandten oder Bekannten und nicht zuletzt der Schwarzmarkt. Welches dieser Mittel effektiver war, unterschied sich von Fall zu Fall. Der Anteil der Nahrungsmittel, die über das offizielle Rationierungssystem zu erhalten waren, variierte von Land zu Land und über die Zeit erheblich. In Rom verschwanden im Juli 1944 ca. drei Viertel der Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt. In Großbritannien entfielen 1947/48 ca. die Hälfte der Ausgaben auf rationierte Nahrungsmittel. Und in Frankreich konnten 1945 zwei Drittel der nichtbäuerlichen Bevölkerung nur zwischen 50 und 75 Prozent ihrer Nahrungsmittelbedürfnisse über das Rationierungssystem abdecken. Besonders schwierig war die Lage in Paris, wo die Einwohner im Januar 1945 für 53 von 62 Mahlzeiten auf den Schwarzmarkt angewiesen waren. Wie auch immer man es berechnet: Der Schwarzmarkt oder andere Beschaffungskanäle mussten einen großen Beitrag zur Versorgung leisten, sonst drohte der Hunger.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Nahrungsmittelbeschaffung bei vielen Menschen eine derart wichtige Stellung einnahm, dass an andere Dinge kaum zu denken war. „Nicht Parteien oder Gewerkschaften bestimmen unser Leben“, schrieb die Kölnische Rundschau im August 1947, „nicht die junge demokratische Regierung oder die Besatzungsmacht, sondern einfach der Hunger, nichts als der Hunger“.1 Ihm zu entkommen, war in den meisten Fällen möglich, aber zeitaufwendig.
Neben dem offensichtlichen Zeitaufwand bargen die alternativen Versorgungswege auch gesellschaftlichen Sprengstoff. Warteschlangen konnten in Protestdemonstrationen, ja sogar Plünderungen münden wie in Montpellier im Dezember 1944, als aufgebrachte Hausfrauen wie bei den Hungerprotesten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts Geschäfte plünderten. Hamsterfahrten konnten die Gegensätze zwischen Stadt und Land verschärfen. Andere Praktiken, legal oder nicht, waren die Ausweitung der Selbstversorgung und die Beschaffung von Brennmaterial. Die Bäume des Berliner Tiergartens wurden abgeholzt und das Land unter den Pflug genommen. Erst 1949 begann die Wiederaufforstung des beliebten Parks. Der Kölner Kardinal Frings gewann dauernde Popularität, als er Silvester 1946 indirekt das (weitverbreitete) Stehlen von Kohle oder anderem Brennmaterial legitimierte („Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise… nicht erlangen kann.“).
Abb 1Der Berliner Tiergarten als landwirtschaftliche Nutzfläche, Juli 1946 (Quelle: Bundesarchiv 183-M1015–314).
Am wichtigsten war vielleicht der Schwarzmarkt, der überall auftrat, wo es Rationierung gab, aber dennoch von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort unterschiedliche Ausmaße und Formen annahm. Dort, wo die Rationierung im Allgemeinen gut funktionierte und die Rationen ein erträgliches Maß behielten, hielt sich auch der Schwarzmarkt in Grenzen, nämlich in Dänemark (wo die Schwarzmarktpreise stabil blieben) und in Großbritannien, wo zudem effektive Kontrollmechanismen installiert wurden. Anderswo, vor allem in Italien, nahm der Schwarzmarkt solche Ausmaße an, dass es wahrscheinlich zutreffender wäre, von einer „Schwarzmarkt-Gesellschaft“ als von einer „Rationen-Gesellschaft“ zu sprechen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Das Rationierungssystem brach 1944 nach dem Einmarsch der Alliierten zunächst vollkommen zusammen, und noch im Juli 1947 waren die Rationen in Rom so niedrig, dass die Normalverbraucher nicht einmal auf 2000 Kalorien am Tag kamen. Hinzu kam, dass der Schwarzmarkt von den Behörden als notwendiges Übel oftmals toleriert wurde. Anders in Frankreich, wo die Behörden im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, gegen den illegalen Handel vorzugehen. Jedoch erwiesen sich Praktiken der Unterschlagung, die während der Besetzung Ausdruck nationalen Widerstands gegen die deutschen Besatzer waren, als zählebig.
Der Schwarzmarkt war bei der Not leidenden Bevölkerung nicht besonders beliebt. Die Preise waren häufig exorbitant, das Risiko, von den Behörden entdeckt und bestraft zu werden, immer vorhanden. Daher war der Schwarzmarkt auch weniger eine Einübung in die Marktwirtschaft als vielmehr ein negatives Zerrbild derselben. Er begünstigte vor allem eine kleine Schicht von Menschen, die, über welche Kanäle auch immer, Zugang zu stark nachgefragten Waren hatten, und produzierte somit eine kleine Schicht von Profiteuren, die ihren plötzlichen Reichtum ungeniert zur Schau stellten und somit die sozialen Spannungen zusätzlich anheizten.
1.1.2Gesellschaftliche und politische Implikationen
Die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaft führte somit keineswegs zu einer nivellierten Notgemeinschaft, sondern zu zusätzlichen sozialen Spannungen, die sich in erster Linie in Form von Streiks und Protesten artikulierten, mittelbar aber auch für das Schicksal von Regierungen verantwortlich waren (→Kap. 1.4). In Großbritannien nahmen die Proteste noch relativ milde Formen an. So war ein Hafenarbeiterstreik im Oktober 1945 sehr unpopulär, weil er die ohnehin angespannte Versorgungslage zu verschlechtern drohte. Proteste wurden in der Folgezeit von Hausfrauenorganisationen artikuliert, z. B. gegen die Einführung der Brotrationierung im Sommer 1946.
Schwieriger war die Lage auf dem Kontinent. Hier war es besonders die städtische Bevölkerung, die unter den Versorgungsschwierigkeiten zu leiden hatte. Die Löhne hielten meist nicht mit den steigenden Schwarzmarktpreisen mit, was immer wieder für Empörung sorgte. Zudem war mit zunehmendem zeitlichem Abstand der Krieg immer weniger als Erklärung für die Versorgungsschwierigkeiten akzeptabel. Kritisch waren insbesondere Herbst und Winter eines jeden Jahres. In Köln kam es im Januar 1948 zu einem Generalstreik, an dem sich 120.000 Beschäftigte beteiligten. Die schwersten Krawalle in den westlichen Besatzungszonen fanden jedoch nach der Währungsreform vom Juni 1948 statt, nämlich die „Stuttgarter Vorfälle“ vom 28. Oktober 1948, bei denen nach einer Demonstration gegen die Preissteigerungen infolge der Währungsreform Schaufensterscheiben eingeschlagen und Autos demoliert wurden. Die Gewerkschaften riefen in der Bizone für den 12. November einen Generalstreik aus, an dem sich nach Angaben der Veranstalter über 9 Millionen Menschen beteiligten. Eine Antwort darauf war das bereits im Sommer 1948 angelaufene „Jedermann-Programm“, das mit staatlicher Unterstützung preiswerte Konsumgüter für den Massenmarkt bereitstellen sollte.
Heftige Streik- und Protestwellen erschütterten auch und insbesondere Frankreich. Schon 1946 kam es immer wieder zu wilden Streiks, die weder von der in der Regierung vertretenen kommunistischen Partei noch der ihr nahestehenden Gewerkschaft CGT gebilligt wurden. Als jedoch im April 1947 in der CGT-Hochburg Renault-Billancourt ein Streik ausbrach, sah sich die Gewerkschaft nach kurzem Zögern gezwungen, sich dem Streik anzuschließen, wollte sie nicht ihre treuesten Unterstützer verprellen. Das zwang wiederum die kommunistische Partei zu einer Neuorientierung in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und führte zu ihrem Ausscheiden aus der Regierung im Mai 1947. Damit war der Höhepunkt der Streikaktivitäten noch nicht erreicht. Im November gab es bei einer Protestdemonstration in Marseille gegen die Erhöhung der Straßenbahnfahrpreise einen Toten. Dem daraufhin ausgerufenen lokalen Generalstreik schlossen sich rasch die nordfranzösischen Bergleute an, und kurze Zeit später waren 2 Millionen Arbeiter im Ausstand. Die Regierung reagierte mit Antistreikgesetzen und dem Einsatz von Polizei und Armee, nicht aber mit Zugeständnissen. Ähnliches spielte sich im Oktober und November 1948 ab, als wiederum die Bergleute in den Streik traten, in dessen Verlauf 1041 Streikende verhaftet und 479 Polizisten verletzt wurden.
Die Auseinandersetzungen in Italien waren kaum weniger heftig. Im Juli 1946 wurden in Venedig Lebensmittelgeschäfte geplündert und in Turin ein Generalstreik ausgerufen. Im Oktober 1946 besetzten Demonstranten die Residenz des Ministerpräsidenten in Rom. In den heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es zwei Tote und über 150 Verletzte. Gleichzeitig protestierten in den ländlichen Regionen bis zum Sommer 1947 immer wieder die Landarbeiter und Halbpächter. Zu landesweiten Streiks und Fabrikbesetzungen der kommunistischen Arbeiter kam es nach einem Attentat auf den kommunistischen Parteichef Palmiro Togliatti am 14. Juli 1948. In Genua übernahmen die Streikführer sogar kurzzeitig die Kontrolle über die Stadt, und eine Revolution schien im Bereich des Möglichen. Erst im Lauf des Jahres 1949 verbesserte sich die ökonomische Situation spürbar, und die sozialen Auseinandersetzungen ebbten ab.
Diese Streiks und Proteste weisen schon darauf hin, dass die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaften keineswegs durch die Not zusammengeschweißt wurden. Richtig ist zwar, dass traditionelle soziale Unterschiede teilweise an Bedeutung verloren, ja bisweilen sogar umgekehrt wurden. In der Notzeit war beispielsweise die Landbevölkerung meist besser versorgt als die normalerweise besser situierten Stadtbewohner. Ansonsten dominierte aber eine negative „Vergleichsmentalität“ (Rainer Gries), in der jeder neidisch auf den oder die andere blickte, die mehr hatte als man selbst. Eine gewisse Nivellierung fand dadurch statt, dass ansonsten gut verdienende städtische Angestellte oder Beamte nicht besser-, sondern eher schlechtergestellt waren als Arbeiter oder Bauern. Dort, wo die Rationierung gut funktionierte wie in Großbritannien, konnte sie somit durchaus positive Folgen zeitigen. Die britischen Arbeiter waren in der Zeit der Rationierung besser ernährt als vorher, und nicht zuletzt deswegen war das Ende der Rationierung in Großbritannien durchaus umstritten. In den meisten anderen Ländern jedoch erzeugte die Rationierung neue Formen der sozialen Ungleichheit durch den Aufstieg der Kriegsgewinnler, Spekulanten und „Schieber“, deren schneller Reichtum eher auf Beziehungen als auf Leistung zurückzuführen war und der dementsprechend wenig Akzeptanz gewinnen konnte.
Literatur
Corni, Gustavo/Gies, Horst: Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997
Duchen, Claire: Women’s Rights and Women’s Lives in France, 1944–1968, London 1994
Gildea, Robert/Wieviorka, Olivier/Warring, Anette (Hg.): Surviving Hitler and Mussolini. Daily Life in Occupied Europe, Oxford 2006
Gries, Rainer: Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991
Helstosky, Carol: Garlic and Oil. Food and Politics in Italy, Oxford 2004
Shorter, Edward/Tilly, Charles: Strikes in France, 1830–1968, London 1974
Trentmann, Frank/Just, Flemming (Hg.): Food and Conflict in Europe in the Age of two World Wars, Basingstoke 2006
Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008
Zweiniger-Bargielowska, Ina: Austerity in Britain. Rationing, Controls, and Consumption, 1939–1955, Oxford 2000
Eine der wichtigsten Aufgaben für die westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit war der richtige Umgang mit der Vergangenheit, also die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei). In erster Linie ging es darum, die postfaschistischen Demokratien zu stabilisieren, in zweiter Linie darum, dem berechtigten Verlangen der Opfer nach Gerechtigkeit Genüge zu tun. Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit wurde aber durch mehrere Umstände erschwert, die freilich von Land zu Land unterschiedlich ausfielen: Zum einen wogen die Probleme der Gegenwart (vor allem der Versorgung) für viele Menschen schwerer als diejenigen der Vergangenheit, und die Säuberungen drohten an Akzeptanz zu verlieren, wenn sie durch massenhafte Entlassungen oder Internierungen die Verwaltung schwächten und die Versorgungslage verschärften. Zum Zweiten war es in vielen Ländern schlicht schwierig, gleichzeitig erfahrene und unbelastete Angehörige von Verwaltung, Justiz, Polizei oder Militär in ausreichender Zahl zu finden, so dass eine Amnestie der geringer Belasteten in manchen Ländern (wie Deutschland oder Italien) unausweichlich war, wollte man sie nicht dauerhaft unter ausländische Verwaltung stellen.
Hinzu kam, dass sich der Rechtsstaat als Mittel zur Auseinandersetzung mit den faschistischen oder nationalsozialistischen Eliten und ihren Helfershelfern als wenig geeignet erwies. In fast allen Ländern wurden mehr oder minder geglückte juristische Hilfskonstruktionen (z. B. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Sondergerichte) angewendet, um die Täter überhaupt vor Gericht stellen und bestrafen zu können. Das brachte den Prozessen von Seiten der Angeklagten wie der politischen Rechten allgemein den Vorwurf der „Siegerjustiz“ ein. Bis heute wird bemängelt, dass die juristische Auseinandersetzung mit den untergegangenen Regimen nach dem Krieg zentrale rechtsstaatliche Grundsätze verletzt habe, so das Rückwirkungsverbot, nach dem geltendes Recht nicht rückwirkend angewendet werden darf, oder die mangelnde Trennung zwischen Anklägern und Richtern. Es wird bei dieser Kritik jedoch gern übersehen, dass die faschistischen und nationalsozialistischen Regime in Europa nicht legal an die Macht gelangt waren, auch dort nicht, wo sie versuchten, den Schein der Legalität zu wahren wie in Deutschland, Italien oder Frankreich. Daher greift es zu kurz, sich auf einen angeblichen „Befehlsnotstand“ zu berufen, da die Befehle an sich schon keine ausreichende Rechtsgrundlage besaßen.
Generell lässt sich zwischen den „wilden“, den administrativen und den juristischen Säuberungen unterscheiden. Die „wilden“ Säuberungen fanden im Wesentlichen in zwei Wellen statt, nämlich direkt nach dem Abzug der deutschen Truppen in vielen Gebieten im Herbst 1944 und nach der formellen Kapitulation der Wehrmacht im Frühjahr 1945. Sie forderten zahlreiche Todesopfer, in Frankreich ca. 10.000, in Italien 10.000 bis 12.000, in den Niederlanden ca. 100. Neben Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren oder mittels Schnellverfahren kam es zu spontanen Verwüstungen von NS-Zentralen, Inhaftierungen (in Dänemark allein ca. 20.000) und Gewalt gegen wirkliche oder vermeintliche Kollaborateure. Häufig wurden gerade Frauen Opfer von ritueller Gewalt in der Form des öffentlichen Scherens. Allein in Frankreich wurden ca. 20.000 der Kollaboration beschuldigten Frauen die Haare geschoren.
Abb 2Der Kollaboration beschuldigte Frauen in Paris, Sommer 1944 (Quelle: Bundesarchiv 146–1975–041–10).
Die „wilden“ Säuberungen waren zweifellos mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Ob dabei die wirklichen Schuldigen getroffen oder nur offene Rechnungen beglichen wurden, ist nicht sicher. Letztlich war diese Form der Säuberung aber in erster Linie ein Übergangsphänomen, das in die Zwischenzeit zwischen dem Ende der deutschen Besatzungsherrschaft oder faschistischen Herrschaft und dem staatlichen Neubeginn fiel. Zudem fanden viele dieser Säuberungen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen statt. Nach der Übernahme der Verwaltung durch die Alliierten fanden diese Säuberungen meist ein rasches Ende. Allein in Italien setzten sie sich noch bis Ende 1945 fort.
1.2.2Die administrativen Säuberungen
Die administrativen Säuberungen waren das bevorzugte Mittel der Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Meist wurden generell alle wichtigen Funktionsträger des alten Regimes entlassen oder gleich interniert. Das führte natürlich zu Massenverhaftungen mit allen damit verbundenen Problemen. In Frankreich wurden unmittelbar nach der Befreiung ca. 126.000 Personen interniert, in Belgien 70.000, in den Niederlanden 120.000 und in Deutschland allein von den Westalliierten ca. 200.000. Die meisten wurden allerdings 1945 oder 1946 wieder freigelassen, wie z.B. in Belgien, wo die Zahl der Internierten im Frühjahr 1945 von 70.000 auf 20.000 sank, dann aber wieder auf 40.000 anstieg, da viele belastete Personen nach Belgien zurückkehrten. In Deutschland waren Ende 1945 noch schätzungsweise 100.000 Menschen interniert.
Die Internierungen waren ungerecht, aber effektiv; ungerecht, da sie, anders als Gerichtsverfahren, nicht auf der individuellen Schuld der Internierten beruhten; effektiv, da sie gleichzeitig die Funktionsträger der alten Regime zumindest so lange von den Schaltzentralen der Macht fernhielten, bis sich die Verhältnisse einigermaßen stabilisiert hatten. Die Abkehr von dieser Art der Säuberung erfolgte nicht erst unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern schon recht bald. Der Grund war eher innenpolitischer Natur: Die Regierungen wollten verhindern, dass sich eine quasi permanente Kaste von Unzufriedenen bildete, welche eine Gefahr für die Demokratie hätten bilden können. In der Tat bildeten sich in mehreren Ländern Parteien, die den Protest gegen die Entnazifizierung in die Parlamente trugen: in Belgien die flämische „Volksunie“, in Italien die neofaschistische „Jedermanns-Front“ und später der MSI (Movimento Sociale Italiano), in Deutschland der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. Sie hatten in Wahlen zwar nur begrenzten Erfolg (selten mehr als 5 Prozent), aber es genügte, um zu signalisieren, dass es ein gefährliches Potential von Unzufriedenen gab.
Aber nicht nur die Internierten mussten sich der bürokratischen Prozedur der administrativen Säuberung stellen. In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands wurden Millionen von Menschen auf ihre Einstellung zu und ihre Tätigkeit im NS-Regime überprüft. Die US-amerikanischen Besatzungsbehörden ließen 13,2 Millionen Meldebögen ausfüllen, von denen allerdings nur 945.000 überhaupt weiter verfolgt wurden. Auch in der britischen Besatzungszone wurden mehr als 2 Millionen Menschen überprüft. Im März 1946 führte zu diesem Zweck zunächst die US-amerikanische Militäradministration das Spruchkammerverfahren ein. Die mit unbelasteten Juristen und Laienrichtern besetzten Spruchkammern hatten die Überprüften in fünf Kategorien einzuteilen von „Hauptschuldige“ bis „Entlastete“. Die Kammern waren aber von der Vielzahl der Verfahren überfordert, und so genügte häufig schon ein Leumundszeugnis („Persilschein“), um als „Mitläufer“ oder „Entlasteter“ weitgehend straffrei auszugehen, was den Spruchkammern den Ruf der „Mitläuferfabriken“ (Lutz Niethammer) einbrachte. In der Tat wurden in der US-Zone schließlich 77 Prozent der Beschuldigten als Mitläufer eingestuft (und 3 Prozent als Entlastete). In der britischen Zone wurden sogar mehr als 80 Prozent der Fälle als vollständig entlastet eingestuft.
1.2.3Die justiziellen Säuberungen
Nach der Kapitulation Deutschlands nahmen die Alliierten die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher in die eigenen Hände. So kam es bereits im Oktober 1945 vor den berühmten Nürnberger Prozessen in der britischen Besatzungszone zu den Lüneburger Prozessen (oder Bergen-Belsen-Prozessen) gegen KZ-Wachmannschaften. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46 wurden 12 von 24 Angeklagten zum Tode verurteilt, u.a. wegen des neu geschaffenen Tatbestands „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. In den Folgeprozessen von 1946 bis 1949 wurde gegen weitere 177 Angeklagte verhandelt und dabei 25 Todesurteile ausgesprochen. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war trotz gewisser formaler Mängel ein weitgehend faires Verfahren und gilt heute als Meilenstein der internationalen Strafgerichtsbarkeit.
Wie aus den geringen Fallzahlen ersichtlich, lag die Hauptverantwortung für die justizielle Aufarbeitung jedoch nicht bei den Alliierten, sondern bei den jeweiligen Einzelstaaten. Wieder waren es Hunderttausende, gegen die Verfahren oder Voruntersuchungen eingeleitet wurden: in Österreich 137.000, in Frankreich 350.000, in Dänemark 40.000, in Norwegen 93.000 und in Belgien ebenfalls 350.000. Weit weniger beeindruckend waren die Zahlen in Deutschland, wo bis 1949 nur ca. 13.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Bis Ende der fünfziger Jahre verfolgte die westdeutsche Justiz nur Vergehen, die in Deutschland begangen worden waren. Das änderte sich erst mit dem Ulmer Prozess gegen die „Einsatzgruppe Tilsit“ 1958.
Aus verschiedenen Gründen gab es erhebliche Differenzen beim Vorgehen gegen Kollaborateure, NS- und Kriegsverbrecher: Das NS-Besatzungsregime war von Land zu Land unterschiedlich repressiv gewesen, der Grad der ideologischen Durchdringung war unterschiedlich, nationale Rechtstraditionen und die politische Situation nach dem Krieg spielten ebenfalls eine Rolle. Am gründlichsten ging man vielleicht in Norwegen vor, wo schon die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation als Straftatbestand gewertet wurde. Von den 93.000 Beschuldigten, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, wurden über 20.000 verurteilt; weitere 28.000 akzeptierten eine Strafe ohne Prozess. Die Strafen fielen allerdings meist gering aus, nur in 25 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt.
Eine geringe Rolle spielte dagegen die justizielle Säuberung in Italien. Zwar wurden nach Kriegsende außerordentliche Schwurgerichte eingesetzt, und ca. 20.000 bis 30.000 Verdächtige angeklagt. Bereits im Sommer 1946 kam es jedoch zu einer großzügigen Amnestieregelung, so dass viele Faschisten, die die „wilden“ Säuberungen überlebt hatten, ohne Strafe oder mit geringen Strafen davonkamen. Darunter waren nicht nur kleine Fische, sondern auch prominente Personen wie Rodolfo Graziani, der frühere Oberbefehlshaber der faschistischen Truppen der Republik von Salò, der nicht mehr als drei Monate im Gefängnis verbringen musste.
Nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern kam es angesichts der Vielzahl der Fälle von „kleinen“ Nazis und der Überforderung des Justiz- und Verwaltungsapparats immer wieder zu Forderungen nach Amnestien. In der Tat wurden in vielen Ländern mehr oder weniger weitreichende Amnestiegesetze beschlossen: in Italien und den Niederlanden bereits 1946, in Österreich und Norwegen und wiederum in Italien 1948, in Deutschland 1949 und 1951, in Frankreich 1951 und 1953. Neben der wohl unvermeidlichen Amnestierung der „kleinen“ Nazis und Faschisten profitierten von der „Rehabilitierungswut“ (Bauerkämper) auch „große“ oder zumindest „mittelgroße“ Belastete, die zum Teil sogar wieder in Führungspositionen aufstiegen. So hatten sowohl der Pariser Polizeichef Maurice Papon, der 1961 eine Demonstration von Algeriern brutal niederschlagen ließ, als auch der deutsche Vertriebenenminister Theodor Oberländer, als auch der Fraktionsvorsitzende der niederländischen Christdemokraten Willem Aantjes eine NS-Vergangenheit, über die sie später stolperten.
Solche Biografien ließen schnell den Verdacht aufkommen, die Entnazifizierungen seien im Grunde gescheitert und es sei eigentlich nur die Führungsriege der Nationalsozialisten bestraft worden. Diese Kritik ist nicht neu und auch nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in Italien sprachen Angehörige der Widerstandsbewegung von einer ausgebliebenen Säuberung („epurazione mancata“). Aber das Urteil ist wohl zu hart. Der primäre Zweck der Säuberungen, nämlich die Stabilisierung der Nachkriegsdemokratien, wurde erreicht. Das ist nicht selbstverständlich. Als abschreckendes Beispiel für eine tatsächlich ausgebliebene Säuberung mag das griechische Beispiel dienen. Hier kam mit britischer Unterstützung im Frühjahr 1946 eine rechtsgerichtete Regierung an die Macht, die nicht antifaschistische, sondern antikommunistische Säuberungen durchführte und dabei auch viele nicht kommunistische Widerstandskämpfer aus Führungspositionen entfernte. Das Ergebnis war ein dreijähriger Bürgerkrieg mit Zehntausenden Toten, der an seinem Ende 1949 ein weitgehend verwüstetes Land hinterließ.
Dass es gleichwohl unterhalb der Führungsebene eine weitgehende Elitenkontinuität gab (etwa in Wirtschaft, Justiz, Polizei oder Verwaltung), ist wohl unbestritten. Eine gründlichere Säuberung war aber in den europäischen Nachkriegsgesellschaften keineswegs populär, weshalb auch linke Parteien, wie die italienische kommunistische Partei, sich für weitgehende Amnestien einsetzten. Vielmehr war das kulturelle Gedächtnis von der Heroisierung des Widerstands einerseits und der tatsächlichen oder vermeintlichen Opfererfahrung andererseits geprägt. Selbst in Deutschland fühlten sich die meisten Menschen als Opfer des Nationalsozialismus und nicht als Mittäter. Gerade deswegen wurden die Grausamkeit und Bestialität der angeblich kleinen Gruppe von Tätern (z.B. KZ-Wachpersonal) in der medialen Berichterstattung hervorgehoben. Sie wurden dadurch aus der angeblich unbelasteten Mehrheitsgesellschaft ausgesondert. Eine kritischere Sicht auf die Vergangenheit sollte sich erst viel später durchsetzen, in den siebziger und achtziger Jahren.
Literatur
Bachmann, Klaus: Vergeltung, Strafe, Amnestie. Eine vergleichende Studie zu Kollaboration und ihrer Aufarbeitung in Belgien, Polen und den Niederlanden, Frankfurt am Main 2011
Bauerkämper, Arnd: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012
Frei, Norbert (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2005
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Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 2. Aufl. 1982
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Woller, Hans: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996
1.3Die europäische Flüchtlingskrise
Die europäische Flüchtlingskrise der Nachkriegszeit verschärfte die ohnehin vorhandenen Verteilungsprobleme der „Rationen-Gesellschaft“. Sie war ein direktes Resultat des Krieges und der NS-Herrschaft. Obwohl Deutschland vielleicht am stärksten betroffen war, handelte es sich im Kern doch um eine europäische, in gewisser Weise sogar eine globale Erscheinung. Das muss besonders in Deutschland betont werden, wo die Erinnerung vor allem von der Problematik der so genannten „Vertriebenen“ dominiert wird. Deren Schicksal verdient selbstverständlich Beachtung, handelte es sich doch bei dieser ethnischen Säuberung um die wohl größte Zwangsmigration der europäischen Geschichte. Aber das sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass auch andere westeuropäische Länder von der Flüchtlingskrise betroffen waren wie z. B. Italien, das ebenfalls zur Drehscheibe für große Flüchtlingsgruppen wurde, oder Frankreich, das über 2 Millionen repatriierte Landsleute aufnahm, oder Großbritannien, das als Besatzungsmacht in Deutschland und in Palästina entscheidend zur Bewältigung der Flüchtlingskrise beitrug (im einen Fall recht erfolgreich, im anderen eher weniger).
Die Fakten sind an sich mittlerweile gut bekannt, auch wenn die vorhandenen Zahlen aufgrund der schwierigen Quellenlage und differierender Definitionen nur grobe Orientierungswerte darstellen. Immerhin schätzt Peter Gatrell, dass nach dem Ersten Weltkrieg ca. 12 Millionen Menschen in Europa auf der Flucht waren, nach dem Zweiten Weltkrieg ca. 60 Millionen und nach dem Ende des Kalten Krieges weniger als 7 Millionen. Das verdeutlicht, dass die Flüchtlingskrise einerseits nicht prinzipiell neu war, sondern Vorläufer in der Zwischenkriegszeit hatte, andererseits von den quantitativen Dimensionen her alles andere, erst recht die Arbeitsmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Schatten stellte. Diese Zahlen beinhalten allerdings auch die Binnenflüchtlinge, die von internationalen Organisationen nicht als Flüchtlinge gezählt wurden. Die Ursache für diese große Zahl an Flüchtlingen ist in Verlauf und Folgen des Krieges zu suchen. Viele waren freigelassene Kriegsgefangene, ehemalige Zwangsarbeiter im NS-Deutschland, Evakuierte oder Ausgebombte, Opfer ethnischer Säuberungen, flüchtige Kriegs- oder NS-Verbrecher oder freigelassene Insassen der Konzentrationslager, insgesamt also eine sehr heterogene Gruppe.
Abb 3Flüchtlingsströme in der Nachkriegszeit; schwarz: ethnische Säuberungen; grau: „Displaced Persons“ (eigene Grafik auf Basis der Karte aus: Paul Werth, University of Nevada, Las Vegas; https://faculty.unlv.edu/pwerth/Europe-1945-territorial.jpg).
Bei Kriegsende existierten in Deutschland ca. 8 Millionen „Displaced Persons“ (DPs), darunter ca. die Hälfte Sowjets, 2 Millionen Franzosen, 1,6 Millionen Polen und 700.000 Italiener. Die deutschen Vertriebenen wurden nicht zu ihnen gezählt, obwohl sie ohne Zweifel „displaced“ waren. In den Konzentrationslagern im Reich hatten nur ca. 50.000 bis 100.000 Juden den Holocaust überlebt, und viele starben noch nach der Befreiung an Unterernährung und Krankheiten infolge der grausamen Lagerhaft. Allerdings wuchs die Zahl der Juden in Deutschland zunächst wieder an, da viele befreite Juden aus der Sowjetunion oder Polen nach Westen wanderten. In Polen setzte 1945/46 eine Welle von Pogromen ein, die dazu führte, dass viele Juden in Deutschland, Österreich oder Italien Zuflucht suchten, meist allerdings nicht, um dort zu bleiben, sondern um entweder nach Palästina oder in andere Staaten zu emigrieren.
Die Verantwortung für die DPs übernahmen die Alliierten und die vor allem von den USA finanzierte United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die bereits im Herbst 1943 gegründet worden war. Nach Auffassung der Alliierten bestand das primäre Ziel in der Repatriierung, also der Rückführung der DPs, die durch die Kriegsfolgen gegen ihren Willen in ein fremdes Land geraten waren (z. B. als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter). Stillschweigend vorausgesetzt wurde, dass tatsächlich alle DPs in ihr Heimatland zurückkehren wollten. Das war aber nicht der Fall, und zwar nicht nur bei den befreiten Juden, die verständlicherweise nicht mit den ehemaligen Tätern zusammenleben wollten. Für diplomatische Spannungen sorgte vielmehr zunächst die Frage der sowjetischen DPs, die häufig nicht in die stalinistische Sowjetunion zurückkehren wollten. Die Sowjetunion pochte jedoch auf deren Rückkehr, zum Teil aufgrund des hohen Arbeitskräftebedarfs, zum Teil, um die Entstehung von großen unkontrollierbaren Emigrationspopulationen in westlichen Ländern zu verhindern. Rein quantitativ war die Arbeit der UNRRA in den ersten Monaten nach Kriegsende ein Erfolg: 5,25 Millionen Westeuropäer wurden im Mai und Juni 1945 repatriiert und 2,3 Millionen sowjetische DPs bis Ende September 1945, allerdings häufig gegen ihren Willen. Der Transfer solch großer Bevölkerungsteile gelang nur, weil die Alliierten ihre militärische Logistik für diesen Zweck zur Verfügung stellten.
Erst im Herbst 1945 begann sich die Haltung der Westalliierten zu wandeln und die Zwangsrepatriierung sowjetischer DPs wurde eingestellt. Bereits vorher war die Behandlung der jüdischen DPs revidiert worden. Der Anlass dafür war der im August 1945 an den amerikanischen Präsidenten gerichtete „Harrison Report“, der die Zustände in den jüdischen DP-Lagern anprangerte. Der Autor Earl G. Harrison argumentierte, für die Juden habe sich mit Kriegsende nichts verändert, außer dass sie nicht mehr umgebracht würden. Ansonsten waren sie noch in denselben Lagern unter militärischer Bewachung inhaftiert wie vor der Befreiung. Daraufhin wurden die Lager entweder der jüdischen Selbstverwaltung oder der UNRRA unterstellt.
Im Laufe des Jahres 1946 wurde immer deutlicher, dass die Politik der Repatriierung an ihre Grenzen stieß. 1947 hausten noch ca. 1 Million DPs in Deutschland und Österreich, die nicht repatriiert werden konnten oder wollten. Um sie sollte sich die 1946 gegründete Internationale Flüchtlingsorganisation kümmern. Die meisten Flüchtlinge dieser „letzten Million“ verließen Europa und kamen in den USA, Australien, Israel und Kanada unter. Ca. 140.000 DPs waren 1951 noch in der Bundesrepublik und blieben dort. Das letzte DP-Lager in Wehnen bei Oldenburg wurde erst 1959 geschlossen.
Die Integration der DPs in den westeuropäischen Herkunfts- oder Aufnahmeländern erwies sich als schwierig. Das gilt sogar für diejenigen, die in ihr Heimatland zurückkehrten. Besonders die ehemaligen Zwangsarbeiter hatten mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie seien eigentlich als Kollaborateure nach Deutschland gegangen. Die Nachkriegserinnerung konzentrierte sich in Frankreich, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern wie Belgien, den Niederlanden und Italien auf den verklärten Widerstand und die Opfer im Kampf gegen die deutschen Besatzer. Demgegenüber stießen viele ehemalige Zwangsarbeiter auf Desinteresse oder Ablehnung. Auf der anderen Seite war die berufliche und familiäre Eingliederung vergleichsweise unproblematisch. Angestrebt wurde besonders in Frankreich, die ehemaligen Zwangsarbeiter in ihre alten Betriebe zu reintegrieren. Wo dies nicht gelang, genossen sie Vorrang bei der Zuweisung von Arbeitsplätzen. Schwieriger war naturgemäß die Integration der ausländischen, meist osteuropäischen Flüchtlinge. Viele, insbesondere qualifizierte Arbeiter oder Akademiker, mussten einen Statusverlust hinnehmen und fanden lediglich in niedrig qualifizierten Bereichen Arbeit.
Ähnliche Integrationsprobleme zeigten sich bei den deutschen Vertriebenen. Insgesamt handelte es sich bei den summarisch „Vertreibungen“ genannten ethnischen Säuberungen der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und Ungarn um die größte Zwangsmigration der europäischen Geschichte. Man schätzt, dass 12 bis 14 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen mussten. Ca. 8 Millionen siedelten sich in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands an, ca. 4 Millionen in der SBZ. Der prozentuale Anteil der Vertriebenen an der Bevölkerung lag also im Osten Deutschlands höher als im Westen. Allerdings war dort die öffentliche Thematisierung der Vertreibung (offiziell „Umsiedlung“) tabuisiert, im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo besonders die Vertriebenenverbände die Erinnerung bis heute wachhalten. Die Zahl der Todesopfer ist umstritten, aber neuere Schätzungen gehen eher von ca. 30.000 (Tschechoslowakei) bzw. 400.000 (Polen) Toten aus, als von den in der älteren Literatur häufig genannten 2 Millionen.
Generell muss man, was die zeitliche Abfolge angeht, zwischen Flucht in den letzten Kriegstagen, Vertreibung nach Kriegsende und vertraglich geregelter Zwangsaussiedlung nach dem Potsdamer Abkommen (August 1945) unterscheiden. Vor allem die ersten beiden Phasen, Flucht und Vertreibung, waren von massiver Gewalt und hohen Opferzahlen begleitet. Das Potsdamer Abkommen legitimierte zwar einerseits die Vertreibungen, versprach aber auch einen „geordneten und humanen“ Bevölkerungstransfer. Auch wenn dies nicht in jedem Fall eingehalten wurde, sanken die Opferzahlen nach dem Potsdamer Abkommen deutlich. In der Ikonografie dominiert das Bild der Flüchtlingstrecks mit Planwagen, aber wahrscheinlich sind mehr Vertriebene mit der Eisenbahn gekommen (allerdings nicht in bequemen Personenwaggons, sondern in Vieh- oder Güterwaggons).
Abb 4Ein Flüchtlingstreck nach Deutschland im Juli 1944 (Quelle: Bundesarchiv 183-W0402–500).
Bei den Motiven für die ethnischen Säuberungen überschnitten sich populäre Rachegelüste und ethnischer Hass mit den Zielen und Planungen der Alliierten. Es ist wohl nicht zutreffend, dass die Westalliierten den ethnischen Säuberungen nur widerwillig zugestimmt hätten. Vielmehr sahen sie in der Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten ein Mittel zur Verhinderung von neuen Konflikten in der Zukunft. Das Motiv der kollektiven Bestrafung spielte ebenfalls eine Rolle.
Die Integration dieser großen Zahl an Vertriebenen wird nicht zu Unrecht als große Leistung der jungen Bundesrepublik angesehen. Sie wurde begünstigt durch die Ende der vierziger Jahre einsetzende gute Konjunktur, die die Integration in den Arbeitsmarkt erheblich erleichterte. Im Übrigen aber hat die neuere Forschung gezeigt, dass die Integration nicht so reibungslos verlief wie früher gedacht. In vielen Teilen Deutschlands wurden die Vertriebenen nicht als bemitleidenswerte (noch dazu deutsche) Opfer gesehen, sondern als „Polacken“ beschimpft und ausgegrenzt. Auch sozioökonomisch mussten viele einen Statusverlust hinnehmen. In sozialhistorischer Hinsicht bemerkenswert ist, dass die Vertreibungen erheblich zum Strukturwandel der bundesdeutschen Wirtschaft von der Landwirtschaft zur Industrie beitrugen. Viele der Neuankömmlinge hatten vorher in der Landwirtschaft gearbeitet und fanden in der neuen Heimat Arbeit in der Industrie. Das entlastete die einheimische Bevölkerung, die somit nicht oder doch sehr viel langsamer zur Abwanderung in die Industrie gezwungen wurde.
1.3.3Die Geburt des modernen Flüchtlings
Was waren die Ergebnisse dieser wohl größten Flüchtlingskrise der europäischen Geschichte? Auf internationaler Ebene die UN-Flüchtlingskonvention von 1951, die noch heute die Grundlage für den internationalen Flüchtlingsstatus bildet. Ursprünglich war sie beschränkt auf europäische Flüchtlinge, die aufgrund von Ereignissen vor 1951 fliehen mussten. Diese Einschränkungen wurden 1967 aufgehoben. Die Konvention konstituierte einen individuellen Flüchtlingsstatus, der auf begründeter Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischer Meinung beruht. Dieser individuelle Schutzanspruch war neu; in der Zwischenkriegszeit waren lediglich Flüchtlingskontingente von einigen Staaten aufgenommen worden.
Die Veränderung des Flüchtlingsstatus war aber nicht der entscheidende Grund, warum die Flüchtlingskrise in der europäischen Nachkriegszeit doch in den meisten westeuropäischen Staaten relativ glimpflich verlief. Vielmehr wurde die Eingliederung erleichtert durch den wirtschaftlichen Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre. Zwar mussten viele Flüchtlinge sozialen Abstieg hinnehmen, aber eine dauerhafte Konfliktlinie entstand aus dem Flüchtlingsproblem nicht. Allerdings trugen die Flüchtlinge einen überproportionalen Teil der Kosten des Strukturwandels und der Modernisierung der westeuropäischen Gesellschaften.
Literatur
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Gatrell, Peter: The Making of the Modern Refugee, Oxford 2013
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Ther, Philipp: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011
1989 erschien ein Aufsatz des britischen Historikers Ben Pimlott unter dem Titel „Is the post-war consensus a myth?“ Die zugrunde liegende These ist, dass es, anders als damals angenommen, keinen überparteilichen Nachkriegskonsens gegeben habe. Die damals unter britischen Zeithistorikern und Politikwissenschaftlern vorherrschende Meinung war, dass die Zeit zwischen 1945 und Mitte der siebziger Jahre von einem breiten parteienübergreifenden Nachkriegskonsens geprägt worden sei, der erst durch den Neoliberalismus und die entsprechenden Reformen der Regierung Thatcher aufgebrochen wurde. Beide Ansichten lassen sich heute nicht mehr halten. Es gab in der Tat einen Nachkriegskonsens, der alle Parteien von den Kommunisten bis zu den Konservativen oder Christdemokraten umfasste (allerdings nicht die Faschisten oder Nationalsozialisten), aber er hielt nicht bis Mitte der siebziger, sondern zerbrach schon Ende der vierziger Jahre.
Im Grunde genommen war es nicht verwunderlich, dass es diesen Nachkriegskonsens gab. Politisch beruhte er auf der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Faschismus und Nationalsozialismus. In Ländern wie Italien oder Frankreich resultierte er direkt aus den Widerstandsbewegungen, in denen Kommunisten, Sozialisten und bürgerliche Kräfte zusammengearbeitet hatten. Hinzu kam aber etwas anderes. Bis weit in die Mittelschichten hinein war die Überzeugung verbreitet, dass der Kapitalismus eigentlich am Ende sei und dass die Zukunft einem wie auch immer gearteten Sozialismus gehören werde. Vor allem die Weltwirtschaftskrise nach 1929 hatte zu dieser Stimmung beigetragen. Hinzu kam, dass die Unternehmer durch die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und Faschismus belastet waren. „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, erklärte das Ahlener Programm der CDU in der britischen Besatzungszone im Februar 1947. Es forderte eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ und die Vergesellschaftung der Kohlenbergwerke. Das Ergebnis waren Bemühungen, den Sozialstaat auszubauen und die Wirtschaft generell einer mehr oder weniger starken Steuerung zu unterwerfen. Diesem Ziel diente bereits vor Kriegsende die Konferenz von Bretton Woods (USA) im Juli 1944, die ein festes Wechselkurssystem mit gewissen Schwankungsbreiten etablierte.
1.4.1Widerstand und Volksfrontregierungen
Die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten, Sozialisten und bürgerlichen Kräften gegen faschistische oder andere rechtsdiktatorische Bewegungen (z. B. Frankismus in Spanien) ging auf die Zwischenkriegszeit zurück. Nach der leidvollen Erfahrung des Scheiterns der „Sozialfaschismus“-Strategie der Weimarer Republik, nach der nicht die Nationalsozialisten, sondern die Sozialdemokraten den Hauptfeind der Kommunisten darstellten, hatte sich auch die Kommunistische Internationale solchen breiten Bündnissen geöffnet. In Frankreich und in Spanien existierten Volksfrontregierungen aus linken und liberalen Parteien 1936/37 und während des Spanischen Bürgerkriegs 1936–1939. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt erfolgte zwar eine Abkehr Stalins von der Volksfrontpolitik, die jedoch im Zweiten Weltkrieg wieder aktuell wurde.
Der Widerstand gegen die faschistischen und nationalsozialistischen Regime war vielfältig. An ihm nahmen Männer und Frauen ganz unterschiedlicher politischer Überzeugung teil, von Kommunisten bis Nationalkonservativen. In Frankreich hatte Charles de Gaulle bereits nach der militärischen Niederlage 1940 zum bewaffneten Widerstand aufgerufen. In der Folgezeit gründeten sich mehrere Gruppen, die gegen die deutsche Besatzung und das Vichyregime kämpften. Sie vereinigten sich 1943 im Nationalen Widerstandsrat, in dem mit André Mercier auch ein Vertreter der kommunistischen Partei saß. Und am 5. September 1944 bildete de Gaulle eine provisorische Regierung, die auch kommunistische Vertreter einschloss. Ähnlich verhielt es sich in Italien, wo die Kommunisten unter Palmiro Togliatti im April 1944 in die postfaschistische Regierung Badoglio eintraten. Die Kommunisten stellten im Sommer 1944 ca. 50.000 von insgesamt 80.000 italienischen Partisanen. In Belgien war sogar schon im Herbst 1941 eine „Unabhängigkeitsfront“ gegen die Nationalsozialisten aus Kommunisten, Sozialisten und Liberalen gebildet worden. Auch hier wurde die kommunistische Partei an der Regierung beteiligt.
Der militärische Beitrag der Partisanen und das Ausmaß der Widerstandsbewegungen sollten nicht überschätzt werden. Nur ca. 2 Prozent der französischen Bevölkerung beteiligten sich an der Résistance. Die Alliierten weigerten sich zumeist, ihre militärischen Pläne mit den Partisanen zu koordinieren, selbst wo dies möglich gewesen wäre. Im November 1944 empfahl der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Italien den italienischen Partisanen gar, den Kampf bis zum Frühjahr einzustellen. Aber symbolisch hatte der militärische Widerstand eine wichtige Bedeutung, da er zum Gründungs- und Einigungsmythos der europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte.
Nicht in allen Ländern waren Kommunisten an der Regierung beteiligt, aber überall gab es die Suche nach einem übergreifenden Konsens, der nur die Kollaborateure, Nationalsozialisten und Faschisten ausschloss (sofern sie sich nicht reumütig zeigten). Gleichzeitig gab es in den ersten Wahlen nach dem Krieg einen bemerkenswerten Linksruck. So gewann die Labour Party unter Clemens Attlee überraschend die Unterhauswahl von 1945 und schickte den Kriegshelden Winston Churchill in die Opposition. In Frankreich wurde noch Anfang 1947 der Sozialist Vincent Auriol mit den Stimmen der Kommunisten zum Staatspräsidenten gewählt.
Abb 5Westeuropäische Länder mit kommunistischer Regierungsbeteiligung, 1945–1949 (eigene Grafik).
1.4.2Die Anfänge des Sozialstaats
Vielleicht die wichtigste Folge dieser kurzen Phase der Kooperation waren soziale Reformen. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in den ehemals Krieg führenden Ländern eine Stimmung, die weitreichende soziale Reformen befürwortete, zum Teil als Belohnung für die heimkehrenden Soldaten (wie in den USA die „GI-Bill“), zum Teil aus grundsätzlichen kapitalismuskritischen Erwägungen heraus. Die Folge war der Beginn des modernen Sozialstaats, der freilich in den fünfziger Jahren noch weiter ausgebaut werden sollte.
In vielen Ländern wurden die Sozialleistungen erweitert oder erst eingeführt, der wichtigste Impuls kam jedoch aus Großbritannien. Dort war schon 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, mit dem Beveridge-Bericht eine konzeptionelle Grundlage für die Reformen der Nachkriegszeit entstanden. William Beveridge war eigentlich ein Liberaler, aber sein Bericht beeinflusste vor allem die Labour-Regierung der Nachkriegszeit. Sein Plan sah eine umfassende Sozialversorgung für alle vor, also nicht nur für Beitragszahler wie in dem Bismarck’schen Sozialversicherungsmodell. Zudem lehnte Beveridge eine Beschränkung der Leistungen auf Bedürftige ab, da dies seiner Meinung nach die Anreize zur Arbeitsaufnahme verringere und somit in eine Armutsfalle führe. Die Leistungen sollten entweder umsonst oder für einen geringen Beitrag zu erhalten sein, müssten aber ausreichend sein, d.h. ein angemessenes Lebensniveau garantieren. Die Finanzierung sollte entweder aus dem allgemeinen Steueraufkommen oder aus gesonderten, aber nicht nach Einkommen gestaffelten Beiträgen erfolgen. Das bekannteste Resultat dieser Politik war der 1948 eingeführte „National Health Service“, der eine kostenlose umfassende Gesundheitsversorgung für alle mit sich brachte. Später wurden jedoch aufgrund der Kostensteigerung auch hier Gebühren eingeführt.
Auch in Frankreich wurden direkt nach dem Krieg größere Sozialreformen durchgeführt. Hier ging es im Wesentlichen darum, bereits vorhandene Sozialversicherungen zu vereinheitlichen und auszuweiten. Dazu dienten mehrere Verordnungen 1945 und 1946, die ein umfassendes System der „Sécurité Sociale“ schufen, das vor allem Arbeitnehmer gegen die Risiken von Krankheit, Alter, Tod und Unfällen absichern sollte. Anders als das britische System beruhte es aber auf dem Versicherungsprinzip, d. h. die Finanzierung erfolgte über die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, und nicht alle Gruppen der Bevölkerung wurden erfasst. Federführend bei der Erarbeitung dieses Systems war der kommunistische Gewerkschafter und Arbeitsminister Ambroise Croizat.
1.4.3Der Beginn des Kalten Krieges
Der Nachkriegskonsens hielt allerdings nicht lange. Die Kommunisten in Frankreich, Italien, Belgien und Österreich schieden 1947 aus der Regierung aus. Auch in den meisten anderen Staaten erfolgte früher oder später die Rückkehr zu einem Parteienwettbewerb, meist zwischen sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien einerseits und christdemokratischen oder konservativen Parteien andererseits. Ausnahmen bildeten die Schweiz und, bis zum Ende der fünfziger Jahre, die Niederlande. Der Sozialstaat blieb in den fünfziger Jahren nicht nur erhalten, sondern er wurde weiter ausgebaut. Allerdings ging die ursprüngliche Motivation, der antikapitalistische Konsens, verloren. Die deutsche CDU wandte sich vom Ahlener Programm ab und den „Düsseldorfer Leitsätzen“ (1949) zu, die nunmehr ein eindeutiges Bekenntnis zur Marktwirtschaft enthielten. Entscheidend hierbei war die Währungsreform vom 20. Juni 1948, die für viele Zeitgenossen den Beginn des „Wirtschaftswunders“ markierte.
Der Verlust des Nachkriegskonsenses wird meist ursächlich mit dem beginnenden Kalten Krieg in Verbindung gebracht. Durch die zunehmenden Spannungen zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion stieg der Druck auf die politischen Akteure, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Das machte Bündnisse zwischen Kommunisten und bürgerlichen Parteien schwierig, wenn nicht unmöglich, und eine Politik des „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus aussichtslos. Diese Sichtweise ist nicht ganz falsch. Sie übersieht aber, dass es teilweise umgekehrt war: Innere Spannungen in den Nachkriegsgesellschaften verschärften den sich bereits 1946 abzeichnenden Kalten Krieg.
Am besten lässt sich dies anhand der so genannten Trumandoktrin zeigen, die auf eine Rede des amerikanischen Präsidenten am 12. März 1947 vor dem US-Kongress zurückgeht. In ihr formulierte er die Strategie der „Eindämmung“ („containment“): Die USA würden freien Völkern zu Hilfe kommen, die sich gegen eine Unterwerfung von außen oder durch eine bewaffnete Minderheit zur Wehr setzten. Gemeint waren Griechenland und die Türkei, und den Kontext bildete ein Ersuchen der griechischen Regierung um Militär- und Wirtschaftshilfe im Bürgerkrieg. In gewisser Weise stand also der griechische Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 am Beginn des Kalten Krieges. Im Westen interpretierte man ihn, auf entstellten Informationen der griechischen Regierung fußend, als von Moskau gestützten kommunistischen Putschversuch. In Wirklichkeit war er ein Ergebnis der nach dem Krieg ausgebliebenen politischen Säuberungen, die in dem Versuch der rechtsgerichteten Regierung resultierten, ihrerseits alle ihre als Kommunisten diffamierten Gegner aus Verwaltung, Justiz und Militär zu entfernen. Unterstützung erhielten die Aufständischen von der slawischsprachigen Minderheit in Nordgriechenland sowie von Titos Jugoslawien, nicht jedoch von Stalin. Der Bürgerkrieg endete 1949 mit dem Sieg der von den USA unterstützten griechischen Regierungsarmee.
Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten in den westeuropäischen Ländern scheiterte nicht in erster Linie an außenpolitischen Erwägungen. Ausschlaggebend für den Bruch der großen Regierungskoalitionen 1947 waren jeweils innenpolitische Themen: ein Hafenarbeiterstreik in Belgien, ein Streik in den Renaultwerken in Frankreich, ein Massaker an Gewerkschaftern in Sizilien und die Währungsreform in Österreich. Alle diese Ereignisse führten dazu, dass die kommunistischen Parteien unter den Druck von enttäuschten Anhängern und noch radikaleren Kräften (Trotzkisten und anderen) kamen, so dass eine Beteiligung an einer Regierung, die schwere Entscheidungen treffen musste, als Hypothek angesehen wurde. Die zunehmenden außenpolitischen Spannungen kamen sicherlich erschwerend hinzu, aber noch Ende 1947 arbeiteten die aus der Regierung ausgeschiedenen italienischen Kommunisten an der Verabschiedung der neuen Verfassung mit. Den endgültigen Bruch zwischen Ost und West signalisierte erst die durch die Währungsreform ausgelöste Berlinblockade durch die Sowjetunion, die am 24. Juni 1948 begann.
Literatur
Flora, Peter (Hg.): Growth to Limits. The Western European Welfare States since World War II. 4 Bände, New York 1986–88
Jansen, Christian: Italien seit 1945, Göttingen 2007
Requate, Jörg: Frankreich seit 1945, Göttingen 2011
Richter, Heinz A.: Griechenland 1940–1950. Die Zeit der Bürgerkriege, Wiesbaden 2012
Ritter, Gerhard A.: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 3. Aufl. 2010
1Zit. nach Gries, Rationen-Gesellschaft, S. 11.