Читать книгу 2924 Hunde und 10 Tierheime : Roman - Manuela Dörr - Страница 8
ОглавлениеTierschutzzentrum Dortmund
Stundenlang hatte sie gestern Abend versucht, jemanden im Tierheim zu erreichen. Erst war besetzt gewesen und schließlich konnte die Frauenstimme am anderen Ende ihr keinen Termin geben. Sie sei dafür nicht verantwortlich. Heute Morgen hatte sie vom Frühstückstisch aus, mit Marmeladenbrötchen in der Hand, endlich den zuständigen Pfleger erreicht.
Vielleicht stimmte es, was ihre Kollegen erzählten: In Tierheimen säßen die Mitarbeiter den ganzen Tag nur herum. Dort stolperte man schließlich nicht von der einen in die nächste Sitzung.
Sie parkte ihren silbernen Golf, setzte die Ray-Ban Sonnenbrille auf und betrachtete sich im Rückspiegel. Ihre dunkel gefärbten Haare fielen am Wirbel neben dem Scheitel schon wieder zur falschen Seite. Ihre Gesichtsform glich einer krummen Banane. Natalie schob Strähnen hin und her und seufzte. Sie warf den Henkel ihrer Gucci Handtasche über die Schulter und setzte beide Füße aus der Autotür hinaus, ohne die schmutzige Gummiabdichtung zu berühren, und zog sich am Innengriff hoch.
Es schepperte. Sie drehte sich um. Ihr Handy lag in Einzelteilen auf den Steinplatten am Boden. Das hatte ihr noch gefehlt, sie brauchte es gleich. Sie bückte sich, doch als sie sich wieder aufrichtete, geriet sie ins Schwanken. Gerade rechtzeitig stützte sie sich mit Daumen und Zeigefinger am Auto ab und gewann ihr Gleichgewicht wieder, ohne den Lack mit der Hüfte zu touchieren. Ihr rechter Pfennigabsatz steckte zwischen zwei Pflastersteinen und löste sich nicht.
Ein junger Mann mit kurzen stacheligen Haaren, die von eine zarten Gelschicht in der Sonne glänzten, trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu und stellte sich mit einem Grinsen als Paul vor. Er musste sie schon einige Minuten beobachtet haben. Sein rotes T-Shirt war eine Nummer zu groß und hing schlaff an ihm herab. Dadurch bedeckte es seine dunkelgrüne Latzhose teilweise, die bauschig in schweren Arbeitsschuhen steckte.
Natalie steckte die Teile des Handys zusammen und stopfte es in ihre Tasche, griff die Hand des Mannes und zögerte einen Moment. Kam er ihr nicht bekannt vor?
Hinter ihm erblickte sie das Tierheim. So unscheinbar und marginal, wie sie es sich vorgestellt hatte. Als sie ihren Schuh aus dem Schlitz gezerrt hatte, musterte sie den mintgrünen Farbanstrich. Moderne Gebäude waren grau, weiß oder schwarz, lenkten nicht ab, passten sich an. Jede Farbe musste sich entweder durch die Umgebung rechtfertigen oder einen anderen erklärbaren Ursprung haben. Aber hier …
»Ich bin der leitende Tierpfleger des Tierschutzzentrums. Wir hatten telefoniert. Sie kommen von Hofenkamp & Meyer, richtig?« Leitende Position! Der Mann war kaum älter als sie.
»Ich würde gerne alles anschauen, ein paar Fotos schießen«, sagte Natalie. Das würde vollkommen ausreichen. »Wo ist der Eingang?«
Sie hatte ihre Kollegen häufig begleitet und kannte das Prozedere. Trotzdem waren die anderen Projekte nicht vergleichbar. Da dachte man in Dimensionen, die als Einzelperson nicht zu greifen waren – zu komplex.
Die Fotos würde sie später in ihren Bericht einfügen, denn im Internet war sie nicht fündig geworden. Von den Stararchitekten wusste sie, dass sie auf Reisen stets fotografierten und riesige Bildersammlung zur Inspiration anlegten. Natalie hatte damit zum Ende ihres Studiums begonnen und bereits einige Ordner auf ihrem Computer angelegt.
Zwar gab es tausende Aufnahmen von Tierheimtieren im Internet, aber die nutzten ihr nicht. Entweder versanken die abgebildeten Tiere, zu hunderten in enge Käfige gepfercht, in ihren eigenen Exkrementen, oder es waren einzelne Hunde auf saftigen Wiesen zu sehen, um die sich eine Horde Bezugspersonen drängte. Niemanden schien die Architektur zu interessieren.
»Gut, also, wir befinden uns in unserem Eingangsbereich.« Paul deutete auf den gepflasterten Platz. »Wir sind ein städtisches Tierheim. Im Gegensatz zu Vereinen haben wir ein festes Budget zur Verfügung und unsere Mitarbeiter sind verbeamtet. Wir müssen nicht so viele Spenden einwerben und können uns ganz auf die Tiere konzentrieren.«
»Ist das nicht immer so?« Natalie trat auf die Eingangstür zu. Dabei blickte sie auf den Boden, noch einmal wollte sie nicht stolpern.
»Nein, viele Tierheime sind privat. Die brauchen Spenden, weil die Kommunen sie nur teilweise unterstützen.«
»Na, wenn man keine Geldsorgen hat, dann stimmt doch alles.« Natalie atmete ein. Anders als sie erwartet hatte, roch es hier nicht nach Exkrementen.
»Nicht ganz. Zum Beispiel dauert es Ewigkeiten, bis endlich mal Baugenehmigungen erteilt werden. Der neue Zwinger hinten steckt seit einem Jahr in der Planung. Dabei brauchen wir ihn dringend, bevor die Sommerferien beginnen.« Stille kehrte ein auf dem Vorplatz. Nur der Wind rauschte durch die Bäume und Autos über die nahegelegene Bundesstraße. Aus der Ferne drang ein Bellen zu ihnen. Würde Paul am Ende des Rundgangs etwa eine Spende von ihr verlangen? Dafür war sie nun wirklich nicht hier.
Er deutete auf einen angebauten Raum neben dem Haupteingang. »Das ist der Raum für Feuerwehr und Polizei. Die haben einen Schlüssel. Wir stellen abends, bevor wir das Tierheim verlassen, Futter und Wasser für Fundtiere rein.« Paul zog die Tür mit einem Ruck auf und stellte sich wie ein Portier dahinter. Natalie warf einen Blick hinein. Der komplett beige geflieste Raum war mit Käfigen bestückt, durch ein Oberlicht drang Licht hinein. Ob es den Hunden etwas ausmachte, eine Nacht in einem fremden Verschlag zu sitzen?
»Wieso kann die Polizei nicht bis zum Morgen warten?« Sie trat wieder zurück und ging seitlich in Richtung Eingangstür. In dieser Geschwindigkeit würden sie Ewigkeiten brauchen.
»Naja, die haben ja noch andere Aufgaben. Erst gestern lief ein Labrador mitten in der Nacht alleine über eine Kreuzung in der Innenstadt. In der Nähe vom Dortmunder U. Da wurde die Feuerwehr gerufen. Und, was sollen die mit einem Labrador auf der Wache?« Er ließ die Metalltür ins Schloss schnappen.
»Wer lässt denn seinen Hund mitten in der Nacht alleine rumlaufen?«
»Ach, Sie können sich gar nicht vorstellen, was alles passiert. Tiere laufen nun mal auch weg.«
»Das ist doch gefährlich.« Nathalie schauderte es. Was, wenn ihr eines nachts ein fremder Hund begegnete? Womöglich ein schwarzer Riese mit funkelnden Augen und gefletschten Zähnen.
»Wir geben den Besitzern immer vier Wochen Zeit, das Tier wieder abzuholen. Achtzig Prozent der Hundehalter kommen vorbei, aber nur zwanzig Prozent der Katzen werden wieder mitgenommen. Die Tiere kommen dann in unsere Vermittlung. Erst nach sechs Monaten dürfen wir sie endgültig an neue Besitzer übergeben. Steht so im Gesetz.«
Natalie war erneut auf die Eingangstür zugetreten und zog sie nun auf. Paul folgte ihr. Eine Frau versank in Stapeln aus bunten Zetteln, Stiften und einem alten Computer hinter der Holztheke der Rezeption. Neben ihr türmte sich ein palmenähnliches Gewächs in die Höhe. Zu ihrer Linken standen zwei Tierpfleger, die die gleiche Kleidung wie Paul trugen und sich über eine Katze namens Lulu unterhielten.
Bei Hofenkamp & Meyer hatte alles seine Ordnung. Wirklich alles. Die Tische waren in einem einheitlichen Grau furniert, Zettel und Stifte gehörten in Schubladen und Rollcontainern verstaut. Pflanzen gab es nicht – jemand musste schließlich die Zeit aufwänden, sich um sie zu kümmern.
»Bei gechippten Tieren können wir die Besitzer herausfinden und einfach anrufen«, erzählte Paul weiter.
»Gechippt?« Natalie bereute ihre Frage, denn die drei verstummten und musterten sie von oben bis unten. Sie schob die Sonnenbrille wie einen Haarreif auf den Kopf und richtete den Seidengürtel ihres Trenchcoats.
»Dem Hund wird im Nackenbereich ein Mikrochip mit einer Art Spritze injiziert. Der ist so mikroskopisch, dass er den Hund im Alltag nicht einschränkt. Der Chip funktioniert ein Hundeleben lang. Wenn er ausgelesen wird, sendet er die nötigen Infos. Das ist aber nicht überall in Deutschland Pflicht. Oft nur für als gefährlich eingestufte Hunde, also Listenhunde.« Der Tierpfleger nahm einen Flyer über Hundechips und reichte ihn Natalie. Sie wies sofort ab. Weder hatte sie einen Hund, noch benötigte sie einen Chip. Außerdem wollte sie die Architektur betrachten.
»So könnte man all die Hunde, die bei uns vor dem Tierheim ausgesetzt werden, direkt ihren Besitzern zuordnen. Mittlerweile haben wir zwar Kameras installiert, aber das hat sich rumgesprochen. Jetzt binden die Menschen ihre Hunde an einer Laterne vor dem Parkplatz an.«
»Tja, so ist das. Können Sie mir jetzt die Gehege zeigen? Ich muss gleich weiter.«
»Alle Gehege? Vielleicht fangen wir hier mit den Nagern an.« Er ging einige Schritte weiter und legte seine Hand auf eine silberne Türklinke. Natalie blieb stehen.
»Nein, ich muss nur die Hundezwinger sehen. Und vielleicht die Katzen.«
»Dann erst zu den Katzen, die sind gleich hier vorne. Die meiste Einrichtung, also Kratzbäume, Matten, Decken und Spielzeuge, sind gespendet.« Er öffnete eine andere Tür, sie gingen an einem Vogelhaus vorbei, in dem zwei Mitarbeiter die Wände schrubbten, und betraten den Innenhof.
»Wir bekommen pro Woche circa ein bis sieben Katzen, etwa fünfhundert pro Jahr. Zuerst finden wir heraus, ob sie Krankheiten haben und spezielles Futter oder Medizin benötigen. Wir hatten zum Beispiel eine Insulinkatze. Sie lebt jetzt in einer Pflegestelle. Wir haben hier kaum Kapazitäten für Spezialfälle.«
Sind doch nur Tiere, dachte Natalie und schaute sich die Katzengehege an. Die Boxen waren sehr geräumig, hatten einen Außen- und Innenbereich und boten den Tieren zahlreiche Rückzugsorte. Dabei teilten sich mehrere Katzen einen Raum. Ansonsten konnte Natalie nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Später gebe ich Ihnen den Bauplan vom Tierheim«, versprach der Pfleger. Sie griff nach ihrem Handy und sag auf das Display. Es war gesprungen. Das hatte ihr noch gefehlt. Ausgerechnet jetzt. Sie fummelte am Einschaltknopf, doch es blieb tot. Sie fluchte, sodass eine Katze aufsprang und sich unter einer Wolldeckenkonstruktion versteckte. Dann würde sie eben nicht fotografieren.
»Gerade ist das Tierheim zum Glück sehr leer. Zu Hochzeiten haben wir mehr als einhundert Katzen hier. Obwohl wir sehr gute Hygienestandards haben, breiten sich dann schnell ansteckende Keime aus. Katzenschnupfen war auf unserer Quarantänestation einmal ein Problem. Ach so, wollen Sie die sehen?«
Natalie hörte ihm nur mit einem Ohr zu und nahm ihr schlichtes scharzes Notizbuch aus dem Seitenfach ihrer Handtasche. Sicherlich, die Viecher sind arm dran. Sie schlug die nächste freie Seite mithilfe des Lesebändchens auf. Die Katzengehege waren sauberer als sie gedacht hatte. Vom Boden könnte man essen, so gewienert war er. Die Gitter selbst? Weder verrostet, noch mitleidige Tierblicke dahinter. Einige Katzen kletterten jetzt sogar auf sie zu, andere räkelten sich im Hintergrund. Es roch frisch; keine Exkremente, keine Angst.
Paul hatte sich an die Säule zwischen den Gehegen gelehnt und betrachtete einen mehrfach geknickten Zettel. Irgendwoher kannte sie den jungen Mann. Die Art, wie er das Papier an sich drückte, um etwas zu notieren. Natalie konnte eine Tabelle mit Uhrzeiten und Texten darauf entdecken. Er fuhr mit dem Kugelschreiber Zeile für Zeile entlang. Zwischen den ordentlichen Linien prangten etliche hastig notierte Hinweise und weitere Uhrzeiten in blau, schwarz und grau.
Im Glashaus gegenüber verteilte eine Frau neues Stroh und wischte sich die Hände an ihrer grünen Latzhose ab.
»Sollen wir weiter? Ich habe noch einige Kennenlerntermine heute. Gehen wir zu den Hunden«, sagte der Tierpfleger. Natalie folgte ihm. Das Haus war größer als sie es sich vorgestellt hatte. Jeder Raum wurde genutzt – als Lagerkammer für Käfige und Decken, als Futterkammer, als Ruheraum für Katzenmütter mit ihren Kitten oder als Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter. Die Ausschreibung gab keine Räume vor, die geplant werden sollten. Einzig das Grundstück stand bereits fest.
Paul öffnete eine Tür. Sofort hallte das Kläffen der Tiere von den Wänden wider und steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Lärmpegel. Natalie steckte sich die Finger in die Ohren. Dabei rutschte ihre Handtasche von der Schulter. Sie fing sie rechtzeitig auf. Paul ging weiter und schwang einen Schlüsselbund hin und her. Am Ring baumelte die Miniatur einer Discokugel. Die Spiegel waren ganz verkratzt.
Er war das! Jetzt wusste sie es. Paul! Im Klassenzimmer hatte er die Kugel immer in die Sonnenstrahlen gehalten und die Lehrer mit den blitzenden Lichtreflexionen irritiert. Hinten links hatte er gesessen und in den Pausen lautstark an seiner Schokomilch geschlürft. Ob er sie schon erkannt hatte? Im Herbst stand das nächste Ehemaligentreffen in der Gesamtschule an. Dann würden alle erfahren, dass sie nicht, wie sie im Internet vorgab, ausschließlich Museen plante, sondern auch unnütze Dinger wie Tierheime.
»Gonzo, mein großer«, Paul kniete sich hin. Vor ihm lief ein Schäferhund aufgeregt am Gitter auf und ab und beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. Vielleicht hatte er noch nichts bemerkt. Natalie schob die Sonnenbrille wieder ins Gesicht. Sie war in der Mitte des Ganges stehen geblieben und hatte die Handtasche vor ihre Hüfte gedrückt, um bloß keine Gitter zu berühren.
Sie betrachtete das Exemplar neben sich. Ein Speichelfaden floss aus dem rosa Maul heraus und tropfte in Zeitlupe auf den Boden, wo sich ein Rinnsal gebildet hatte. Was Miriam sich nur gedacht haben muss, als sie ihr riet, sich einen Hund anzuschaffen. Wahrscheinlich wollte sie wieder darauf hinaus, dass sie einen Freund brauchte.
Der Pfleger streichelte Gonzo durch die Gitter des künstlich beleuchteten Stalltrakts. Warum verwehrte man den Tieren die Aussicht? Bodenlange Fenster würden ihnen mehr Freiheit suggerieren. Sie dachte an Panoramaküchen in modernen Einfamilienhäusern. Der Hund drückte sich fest gegen Pauls Fingerspitzen.
»Ich kenn von allen den Namen. Manche habe ich selbst getauft«, lächelte er. »Der hier ist ein ganz Lieber. Mag aber keine Katzen, deshalb wurde er abgegeben.« Er ging zu einem etwas wuchtigeren beigen Hund. Der unterbrach sein Gebell und stellte sich ebenfalls nah ans Gitter.
»Wir analysieren unsere Tiere. Hat ein Hund Angst vor Radfahrern, spazieren wir mit dem zukünftigen Besitzer und dem Tier zu einem Radweg. Außerdem muss der neue Besitzer den Hund erst einmal kennenlernen. Für den Hund ist das hier schließlich sein Zuhause. Seit dieser Methode haben wir deutlich bessere Vermittlungschancen und fast keine Rückläufer.« Der Pfleger zeigte auf den Gang mit den Zwingern, die teilweise leer standen. Auch hier waren alle Boxen sauber. Sicherlich lag das nur an der deutschen Ordnung und Perfektion. In anderen Tierheimen musste es vor Kot und Urin nur so wimmeln. Natalie überlegte, das in ihrem Bericht zu vermerken, befürchtete aber, dass ihr Chef sie dann erst recht ins Ausland schickte. Der träumte schließlich davon, einmal den Pritzker-Preis zu erhalten. Der höchste Preis, mit dem ein Architekt ausgezeichnet werden kann. Aussichtslos. Solange er sich auf solche Projekt einließ, würde er niemals einen Preis dieser Größenordnung gewinnen.
»Er ist gerne hier.« Der Hund neben Paul ließ die Augenlieder flackern und schubbelte seine Seite an den Händen des Mannes. »Wenn wir mit den Hunden vom Spaziergang zurückkommen, freuen sie sich auf ihren Käfig. Manche ziehen richtig an der Leine.«
»Wirklich? In dem Gefängnis hier kann man sich wohlfühlen?« Natalie zuckte zusammen. Hatte sie das wirklich ausgesprochen?
»Gefängnis, das stimmt. Aber sehen Sie es mal so, die Tiere bekommen Futter und Wasser, haben ein Dach über dem Kopf, Bewegung und werden nicht misshandelt. Es ist ihr Zuhause. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen noch den Außenbereich und die Ausläufe.« Draußen saß in jedem Zwinger ein einziger Hund. Manche sprangen gegen die Gitterwände, knurrten sich an oder wiederholten ihre Bewegungen ununterbrochen in immer demselben Schema. Jeder schien auf seine Art um Aufmerksamkeit zu buhlen. Sie blieben vor einem kleingewachsenen Hund stehen. Er hob immer wieder sein Vorderbein und humpelte zu ihnen herüber.
»Das ist Lilly, sie wird bestimmt nicht lange hier bleiben. Mitleidstiere werden zuerst adoptiert. Vielleicht, weil die Menschen denken, dass sie etwas besonders Gutes tun. Selbstbestätigung. Danach kommen die Jungen, Hübschen und nach Aufmerksamkeit Gierenden. Das hat zur Folge, dass schüchterne und aggressive Tiere am längsten im Tierheim sitzen, weil sie sich nicht zeigen und präsentieren«, erklärte Paul.
Nein, er konnte sie unmöglich erkannt haben, so sachlich wie er blieb.
»Das da vorne sind die Auslaufflächen. Da darf jeder Hund einige Stunden pro Tag rein. Aber wenn das Tierheim sehr voll ist, reichen die Gehege kaum aus. Neben dem Füttern und Säubern, stellen wir auch die Gruppen zusammen. Da kommen wir schnell an unsere personellen Grenzen.«
Im Gehege raste ein schwarzer Hund an ihnen vorbei, direkt in die Arme eines Mannes. Daneben sprang ein Besenförmiger mit dreieckig abstehenden Ohren wie ein Reh über die Wiese und jagte den dicken Schwarzen. Der schnaufte und schaute durch seine Glubschaugen zum Besitzer hinüber. Schließlich knurrte er das haarige Wesen an und ergriff die Flucht.
»Wir testen gerade, ob die beiden sich vertragen. Die Hündin aus dem Tierheim kennt den Besitzer schon, seinen Mops aber noch nicht. Wenn bei den ersten Begegnungen alles gut läuft, lassen wir den Besitzer mit seinen Hunden alleine.«
»Und die Ausläufe?« Natalie schaute auf die Uhr. Ein wenig Zeit konnte sie sich noch nehmen. Vielleicht stieß sie noch auf eine von diesen Innovationen, an die ihr Chef glaubte. Bisher war die Ausbeute eher ernüchternd.
»Die Ausläufe sind da hinten, auf der anderen Seite vom Tierheim. Folgen Sie mir.« Sie überquerten das gesamte Gelände, passierten das Haupthaus und die Katzengehege. Natalie bemerkte einen Hund, der hinter einem Zaun entlang trottete. Er sah aus wie einer der Schlittenhunde, die sie im Fernsehen gesehen hatte. In einer Szene wurden die Weißen mit Fleischbrocken gefüttert. Der Schnee glich einem blutigen Schlachtfeld.
»Ich sehe die Gehege. Ich glaube, das reicht mir von hier«, bemerkte sie und blieb stehen.
»Das ist nicht weit, sie dürfen sie auch mal streicheln. Eine ganz junge Quirlige ist das«, sagte der Tierpfleger und schloss das Tor auf. Natalie blieb einige Schritte hinter Paul stehen und zögerte.
»Wir brauchen nicht rein … es reicht mir so. Ich sehe alles von hier.«
»Na, zum Hund dürfen Sie sowieso nicht rein. Versicherungen … Aber wir können in den Gang gehen, da hat man einen besseren Überblick. Das brauchen Sie doch für Ihr Projekt.«
Natürlich musste sie die Ausläufe sehen, ihr blieb nichts anderes übrig. Sie drückte die Handtasche vor ihre Brust und folgte Paul.
Der Husky sprang neben ihnen am Gitter auf und ab. Er hastete wieder los und nahm Anlauf. Als er den Sand bei einer Vollbremsung zu einer Staubfontäne aufwirbelte, blitzten seine Zähne scharf hervor. Natalie hob die Arme vor das Gesicht. Sie griff nach den Henkeln der Handtasche und trat zwei Schritte rückwärts, bevor sie die Sandkörner von ihrem Marccain Trenchcoat strich. Das dürften die ersten Dreckflecken sein, noch besser. Sie zog den Taillengürtel enger.
»Die Besitzer haben nicht daran gedacht, dass ein Husky viel Bewegung und Auslauf braucht. Wohnen in einer Dreizimmerwohnung im Stadtzentrum.« Er verzog das Gesicht und rief die Hündin. Unbeeindruckt entfernte sie sich weiter, nur um im nächsten Moment wieder loszusprinten. Diesmal wich Natalie rechtzeitig aus und der Dreck flog ins Leere.
»Ich muss jetzt los«, sagte sie. Sie durchquerten das Gebäude und gingen zurück zum Eingangstor. Natalie setzte die Sonnenbrille auch zum Abschied nicht ab.
»Kann ich mehr über Ihr Projekt erfahren?«
»Es ist erstmal nur eine Ausschreibung.«
»Gut, dann bis in ein paar Wochen. Ich freue mich schon«, sagte Paul und verschwand wieder im Tierheim.
Ein Schäferhund und sein Pfleger stürmten durch die Tür. Der Köter zog den Mann hinter sich her.
»Ist das Gonzo?«, fragte Natalie.
»Ja, genau. Sind Sie die Architektin?« Der Mann versuchte bei jedem Schritt zu bremsen, verringerte das Tempo des Tieres aber nur unbedeutend.
»Ja, bin ich«, antwortete sie, drehte ihm den Rücken zu und hastete zum Wagen. Sie grub den Schlüssel aus der Tasche und stocherte im Schloss.
»Ich bin hier Ein-Euro-Jobber und gehe regelmäßig mit den Hunden Gassi. Damit die Bewegung haben und mal was anderes zu Gesicht bekommen«, fügte er hinzu, doch Natalie schwang sich schon in ihren Wagen und knallte die Tür gerade rechtzeitig vor Gonzos Nase zu. Er schreckte zurück und schnupperte an den Reifen.
Genug Tierheim, dachte Natalie und startete den Motor. Zeit für das Museumsprojekt.