Читать книгу Brocksteins letzter Vorhang - Mara Laue - Страница 6

Sonntag, 24. Juni

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„Vater?“ Arian beobachtete, wie Daniel sich an den Bauch griff und nach Luft schnappte. Er ging einen Schritt auf ihn zu. „Was ist denn mit dir?“

Er fasste ihn am Ellenbogen, das Gesicht besorgt. Daniel hatte die Augen weit aufgerissen und brachte es fertig, blass zu werden. Leichenblass. Jetzt brach ihm auch noch Schweiß aus. Fantastisch. Seinem Können hatten sie es zu verdanken, dass die „Komödie am Altstadtmarkt“ wieder bis zum letzten Platz ausverkauft war. Gott, was war der Mann für ein begnadeter Schauspieler! Zumindest die Zuschauer in den ersten beiden Reihen konnten den Schweißausbruch und die plötzliche Leichenblässe sehen. Vielleicht sogar die in der dritten Reihe.

„Du ...“ Daniel keuchte, deutete mit der Hand auf Arian. Sie zitterte. Perfekt!

Arian lächelte maliziös. „Ja. Ich. Hat mir zu lange gedauert, bis du zäher, alter Knochen endlich von selbst ins Gras beißt. Ich brauche mein Erbe jetzt, nicht in wer weiß wie vielen Jahren. Erst recht konnte ich nicht zulassen, dass du diese junge Schlampe heiratest und sie als deine Witwe dann die Hälfte des Geldes bekommt. Deshalb habe ich mir erlaubt, deinem Ableben zu meinen Gunsten ein bisschen nachzuhelfen.“ Er tätschelte Daniels zitternden Arm.

Daniels Hand krallte sich in Arians Schulter; es tat richtig weh. Arian fand das ein bisschen übertrieben, aber Daniel war ein Vollblutmime, der alles gab. Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht. Er rang nach Atem und röchelte, wobei ihm die Augen beinahe aus den Höhlen traten. „Doktor Jäckel ...“ Pfeifendes Keuchen.

... weiß, dass ich kerngesund bin. Damit kommst du nicht durch. Dieser Teil des Textes ging in dem rasselnden Atemzug unter, mit dem Daniel überzeugend den Sterbenden spielte. Da es ohnehin die letzte Vorstellung des Stückes war, machte der Lapsus nichts. Außerdem sah man dem großen Daniel Brockstein beinahe alles nach.

Arian berührte Daniels schweißnasse Wange. Sie fühlte sich wächsern und kalt an. Er ließ die Hand sinken. „Doktor Jäckel wird deinen Totenschein auf Herzversagen infolge deines Alters ausstellen und natürlichen Tod ankreuzen.“ Er verzog das Gesicht zu einem teuflischen Grinsen. „Was glaubst du denn, von wem ich das Gift habe, an dem du gerade verreckst?“ Er pflückte Daniels Hand von seiner Schulter und stieß ihn zurück. „Und jetzt stirb endlich, alter Mann!“

Daniel taumelte Richtung Bühnenrand, keuchte wie ein Asthmatiker, röchelte wie ein Raucher mit Lungenkrebs im Endstadium, ruderte mit den Armen. Brach in die Knie. Fiel zur Seite und rollte auf den Rücken. Mit offenen Augen, offenem Mund, aus dem Speichel floss, blieb er liegen. Brillant!

Der Vorhang fiel, und Arian sprach das letzte Wort des Stückes, bevor er der Sicht der Zuschauer entzogen wurde. „Endlich!“

Applaus brandete auf.

„Klasse, Daniel. Ganz große Klasse! Komm hoch für die Schlussverbeugung.“

Daniel blieb liegen und spielte weiterhin toter Mann. Offensichtlich hatte er sich für die letzte Vorstellung einen besonderen Abgang einfallen lassen. Der Vorhang glitt zur Seite. Arian verbeugte sich, deutete auf Daniel und applaudierte ihm ebenfalls. Er fand, dass jetzt der Zeitpunkt für Daniel gekommen war, aufzustehen und die Huldigungen des Publikums entgegenzunehmen, das in erster Linie seinetwegen gekommen war. Doch Daniel blieb liegen.

„Steh auf, sonst ruinierst du deinen Gag.“ Arian sprach gerade laut genug, dass Daniel ihn hören konnte. Aber der rührte sich nicht. Okay, wahrscheinlich gehörte auch das zu seinem persönlichen Schlussakt. Sein Stück, seine Inszenierung.

Der Vorhang fiel erneut. Arian winkte den Rest des Ensembles auf die Bühne. Sie stellten sich im Halbkreis um Daniel auf. Melanie stieß ihn leicht mit dem Fuß an.

„Komm schon, Danny-Boy, das reicht. Sonst erschreckst du das Publikum.“ Sie runzelte die Stirn, als er nicht reagierte. „Danny?“

Verdammt, da stimmte was nicht. Daniel hatte, seit er zu Boden gefallen war, kein einziges Mal gezwinkert. Ein Mensch konnte nicht so lange die Augen offen halten, ohne zu zwinkern. Der Vorhang öffnete sich erneut.

„Schnell! Stellt euch vor ihn!“

Arian zerrte Melanie nach vorn. Die anderen stellten sich mit Schulterschluss an ihre Seite. Professionell lächelnd verbeugten sie sich. Die Zuschauer hatten sich ausnahmslos von den Sitzen erhoben und klatschten wie verrückt. Diana Felbert, die wie immer in der ersten Reihe gesessen hatte, ging unablässig klatschend nach vorn. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, plante sie, die Bühne zu entern, um ihrem Idol um den Hals zu fallen oder ihn gar zu küssen. Wieder einmal. Zum Glück glitt der Vorhang zu, bevor sie die Bühne erreicht hatte.

Melanie beugte sich über Daniel und schüttelte ihn. „Danny?“ Sie fühlte seinen Puls. Am Handgelenk, am Hals. Ihre Augen wurden groß. Sie starrte Arian entsetzt an. „Scheiße! Das ist doch viel zu früh!“

Nicht nur zu früh. Es war eine Katastrophe. Aber im Moment nebensächlich. „Wir tun so, als gehört das zur Abschiedsvorstellung. Aufstellung wie sonst mit Daniel in der Mitte. Nur dass der eben liegt, statt steht. Das Publikum darf nichts merken.“

Sie stellten sich wieder im Halbkreis um Daniel auf. Arian gab Jörn am Technikpult das Zeichen, den Vorhang zu öffnen. Unmittelbar vor der Bühne hielten zwei der extra für diesen Zweck engagierten Security-Leute Diana Felbert in Schach und drängten sie zurück zu ihrem Platz. Die Zuschauer schenkten Daniel eine lange Standing Ovation. Das tat auch Arian mit dem Ensemble, indem sie dem am Boden liegenden Daniel erneut applaudierten. Lächelnd und auf ihn deutend, ehe sie, ohne es vorher abgesprochen zu haben, der Reihe nach umfielen und ebenfalls Leiche spielten. Improvisation lag jedem guten Schauspieler im Blut. Spätestens das überzeugte die Zuschauer, dass Daniels Liegenbleiben zum besonderen Abschluss dieser Vorstellung gehörte. Der Applaus wurde frenetisch und hielt noch lange an, nachdem Jörn den Vorhang wieder geschlossen und die Lichter im Saal eingeschaltet hatte.

Doch Arian hatte längst den Notarzt gerufen – wohl wissend, dass kein Arzt der Welt Daniel Brockstein noch helfen konnte.

*


Simona Heller starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Seit einer gefühlten Ewigkeit. Noch immer weigerte sich ihr Verstand zu begreifen, dass Antonio mit ihr Schluss gemacht hatte. Per Telefon. Gerade eben. Dabei hatte sie sich die größte Mühe gegeben, für heute Abend ein tolles Menü zu zaubern: Zwiebelsuppe als Vorspeise, Rinderfilet mit Prinzessbohnen und Kroketten, Obstcocktail mit einer Haube aus Amaretto-Eis zum Nachtisch. Dazu einen erlesenen – und teuren – Rotwein. Sie hatte sich die Rezepte und vor allem die Weinempfehlung extra von einem Bekannten geben lassen, der in einem Nobelrestaurant kochte. Ihre eigenen Künste auf diesem Gebiet reichten mangels Übung gerade zum Zubereiten von Tiefkühlkost. Doch dieses Menü war ihr bestens gelungen. Sogar exquisit. Ebenso die Dekoration des Tisches mit Kerzen und frischen Blumen. Nur Antonio fehlte.

Dass er sich grundsätzlich zu ihren Verabredungen verspätete, war sie gewohnt. Da sie selbst berufsbedingt auch nicht immer pünktlich war, sah sie es ihm nach. Nicht jedoch den Anruf, der zwanzig Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt gekommen war.

„Sorry, Mona, aber das hat mit dir keinen Sinn. Du hast wegen deiner Arbeit einfach zu selten Zeit für mich. Und wenn wir mal zusammen sind, bist du müde. Oder hast Bereitschaftsdienst. Mit dir kann man nichts unternehmen und, ehrlich gesagt, auch sonst nicht allzu viel anfangen. Und nur mal so als Mann fürs Bett zwischendurch, wenn du – oh Wunder! – mal Lust hast, bin ich mir zu schade.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er aufgelegt. Immerhin hatte das Gespräch lange genug gedauert, um die Geräusche im Hintergrund hören zu können, die Simona sagten, dass Antonio in einem Restaurant saß. Das schadenfrohe Kichern einer Frau, die direkt neben ihm sitzen musste, war ebenfalls nicht zu überhören gewesen. Offensichtlich hatte Antonio nicht nur aus den angeführten Gründen mit ihr Schluss gemacht, sondern auch – oder sogar in erster Linie –, weil er schon eine andere Frau an der Angel hatte. Und bestimmt nicht erst seit heute.

Simona wunderte sich, dass sie nichts fühlte. Keine Wut, keine Verzweiflung, keine Trauer. Dabei war dies schon ihre fünfte Beziehung, die in die Brüche gegangen war. Und alle wegen ihres Berufes. Angeblich. Antonios Vorwurf, dass man mit ihr „auch sonst nicht allzu viel anfangen“ könne, war neu.

Sie zuckte zusammen, als das Telefon in ihrer Hand klingelte. Gisbos Nummer. Und er wollte sie garantiert nicht zum Essen oder ins Kino einladen.

„Was?“

Sie hörte, wie er scharf die Luft ausstieß. „Woher kommt denn diese schlechte Laune?“

„Geht dich nichts an.“ Das klang nicht nur schroff, sondern giftig. „Sag mir einfach, weshalb du anrufst.“

„Störe ich gerade bei irgendwas Wichtigem?“

„Was ist los, Gisbert?“ Dass sie nicht nur jedes Wort betonte, sondern auch seinen richtigen Vornamen gebrauchte, den er nicht ausstehen konnte, signalisierte ihm hoffentlich, das Thema zu wechseln. Da er lange genug mit ihr zusammenarbeitete, funktionierte die Taktik.

„Brockstein ist tot. Auf der Bühne zusammengebrochen. Verdacht auf Fremdverschulden. Wir müssen hin.“

„Wer ist Brockstein?“

„Mensch, Mona, du solltest dir mal was anderes ansehen als Schnulzen im Fernsehen. Oder mal Zeitung lesen. Du hast doch die Braunschweiger abonniert, oder? Dass Daniel Brockstein, der übrigens einer der berühmtesten Theaterschauspieler unseres Landes ist, eins seiner erfolgreichsten Stücke aufführt, ist seit Wochen Hauptthema im Lokalteil. Heute war seine letzte Vorstellung. Im wahrsten Sinn des Wortes.“

„Und was haben wir damit zu tun?“

Gisbo stieß einen leidgeprüften Seufzer aus. Simona vermeinte förmlich zu sehen, wie er dabei die Augen verdrehte.

„Zuhören ist wohl heute nicht deine Stärke, wie? Ich sagte, es liegt ein Verdacht auf Fremdverschulden vor. Und wir haben Bereitschaft. Schon vergessen? Ich hole dich in zehn Minuten ab.“

Er wartete nicht auf ihre Bestätigung, sondern unterbrach die Verbindung. Wieder starrte Simona das Telefon an wie einen Fremdkörper. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es bereits nach zehn Uhr war. Sie hatte über zwei Stunden auf der Couch gesessen und auf das Telefon in ihrer Hand gestarrt. Und das nur wegen Antonio.

Sie legte es zur Seite und stand auf. Bei näherer Betrachtung war es gut, dass er schon um acht mit ihr Schluss gemacht hatte. Andernfalls hätte er das spätestens jetzt getan. Wäre der Abend gelaufen wie geplant, wären sie um diese Zeit wahrscheinlich miteinander im Bett gewesen; oder beim Vorspiel. Da Simona Bereitschaftsdienst hatte, hätte sie sich wieder tausendmal wegen der Unterbrechung entschuldigen müssen, woraufhin Antonio enttäuscht und verärgert gegangen wäre.

Okay, das Leben ging weiter.

Sie blies die weit heruntergebrannten Kerzen aus und schaltete in der Küche den Backofen aus, der immer noch die Zwiebelsuppe und das Rinderfilet warm hielt, ehe sie sich im Bad abschminkte. Als Gisbo an ihrer Tür klingelte, hatte sie das dunkelblaue Seidenkleid gegen Jeans und Bluse getauscht, war einsatzbereit und froh, sich auf einen neuen Fall konzentrieren zu können.

Denn Antonios „Mit dir kann man auch sonst nicht allzu viel anfangen“ begann langsam richtig wehzutun.

*


„Ich wollte wirklich nicht solche Umstände machen.“ Dr. Andreas Bender war sichtbar verlegen angesichts der Leute um ihn herum, die ihn, ihren finsteren Blicken nach zu urteilen, am liebsten zum Teufel gejagt hätten. Die Schminke in ihren Gesichtern sowie ihre Kleidung verrieten Simona, dass sie zum Ensemble gehörten. Einige trugen Perücken. Auf der Bühne lag die Leiche hinter einem Paravent, mit dem jemand sie zum Zuschauerraum hin abgeschirmt hatte. Eine elegant gekleidete Frau saß in der ersten Reihe. Sie hatte die mit schwarzen Spitzenhandschuhen umhüllten Hände vors Gesicht geschlagen und weinte in ein Taschentuch. Wahrscheinlich die Frau des Toten.

„Aber die Sache ist mir merkwürdig vorgekommen“, riss Dr. Bender Simona aus ihrer Betrachtung. „Zwar deuten die meisten Anzeichen auf einen Herzinfarkt hin, aber Herr Brockstein hat sich, wie die Zeugen mir sagten, zuerst an den Bauch gefasst und gewürgt, nicht ans Herz oder überhaupt die Brust, was typisch gewesen wäre. Kaltschweiß ist ebenfalls ein Symptom, aber nicht in diesem heftigen Maß. Und ganz und gar untypisch ist der Geruch aus seinem Mund. Ich war jahrelang Arzt in den Tropen und kenne mich mit Vergiftungen aus. Ich müsste mich schwer täuschen, wenn das nicht alles Anzeichen für eine Vergiftung sind. Deshalb habe ich die Polizei angerufen.“

„Kein Problem“, versicherte ihm Simona. „Rufen Sie uns lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.“ Aber bitte nicht gerade dann, wenn ich Bereitschaft habe, damit nicht auch noch meine nächste Beziehung durch den Job ruiniert wird. Falls ich jemals wieder eine eingehen sollte.

Sie schüttelte die düsteren Gedanken ab, stieg auf die Bühne und nahm die Leiche in Augenschein. Einen der nach Gisbos Aussagen „berühmtesten Theaterschauspieler unseres Landes“ hatte sie sich anders vorgestellt. Irgendwie pompöser mit einem gewissen Flair, das selbst im Tod noch spürbar war. Nicht relativ klein mit Bauchansatz, grauem Haar und im Ganzen eher unscheinbar. Aber sie sollte fair bleiben. Tote strahlten nun mal nichts anderes aus als Tod.

Während sie sich die Einweghandschuhe überzog, nahm sie das Bild des Toten in sich auf. Da ihm niemand die Augen geschlossen hatte, schienen sie Simona direkt anzustarren. Braune Augen wie dunkle Schokolade. Sie kniete sich neben die Leiche und brachte ihr Gesicht dicht neben das des Toten. Dr. Bender hatte recht. Aus dem halb offenen Mund strömte immer noch ein ungewöhnlicher Geruch. Es stank, als hätte Brockstein eine halbe Tabakplantage gekaut. Zumindest roch es verdächtig wie das nikotinhaltige Ungeziefervertilgungsmittel, das ihre Großmutter früher benutzt hatte, bevor das Zeug verboten wurde. Ob der Geruch wirklich ein Hinweis auf Gift war oder Brockstein nur geraucht hatte wie ein Schlot, vermochte Simona nicht zu sagen, denn er roch auch nach Alkohol.

„Hat er zuletzt wenigstens was Gutes gegessen?“ Gisbo sah ihr über die Schulter.

Simona mochte seinen Galgenhumor nicht; jedenfalls nicht, wenn er sich auf einen Toten bezog. Für sie waren auch Tote immer noch Menschen, die man mit gebührendem Respekt zu behandeln hatte. Doch jeder hatte seine eigene Methode, mit dem Tod umzugehen.

„Wir brauchen unseren Rechtsmediziner“, entschied sie. „Und die Kollegen vom Erkennungsdienst.“ Sie stand auf und überließ es Gisbo, die Anrufe zu tätigen.

Normalerweise waren ihre Kollegen und sie sehr wohl in der Lage, auch ohne Hilfe eines Mediziners festzustellen, ob jemand Selbstmord begangen hatte, eines wahrscheinlich natürlichen Todes gestorben oder umgebracht worden war. Der Rechtsmediziner musste nur persönlich am Tatort erscheinen, wenn sie sich der Todesursache nicht sicher waren. Dies war so ein Fall. Auch wenn Dr. Bender der Meinung war, dass eindeutig Gift im Spiel sei, könnte er sich irren.

Sie wandte sich an die neunköpfige Gruppe der Kostümierten, die inzwischen auf den Sitzen in der ersten Zuschauerreihe Platz genommen hatten, weit weg von der immer noch weinenden Frau. Sie alle wirkten betroffen.

„Ich nehme an, Sie sind die Kollegen des Toten?“

Ein schlanker Mann in den Vierzigern stand auf und reichte ihr die Hand. „Arian Haak. Ich bin der Intendant und auch derjenige, der bis zum Schluss unmittelbar bei Daniel war. Wir haben die letzte Szene zusammen gespielt. Er als Vater, ich als sein Sohn. Da er in der letzten Szene stirbt, habe ich zunächst gar nicht mitbekommen, dass es ihm wirklich schlechtgeht und er das nicht nur spielt. Auch als er liegen geblieben ist, nachdem der Vorhang zugegangen war, habe ich – haben wir alle – gedacht, dass er sich für seinen letzten Auftritt was Besonderes ausgedacht hat und das zur Show gehört. Erst als wir für die Schlussverbeugung raus sind und er sich immer noch nicht gerührt hat, haben wir begriffen, was los ist.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber dass er vergiftet worden ist, wie dieser Quacksalber behauptet“, er nickte zu Dr. Bender hinüber, „ist einfach absurd.“

„Ich muss doch sehr bitten!“, entrüstete sich Bender.

„Nur keinen Streit, meine Herren“, beschwichtigte Gisbo. „Vergiften heißt nicht zwangsläufig, dass dem Toten das Gift von einem Dritten beigebracht wurde. Er kann es versehentlich oder absichtlich selbst eingenommen haben. Wird sich zeigen.“

Arian Haak reagierte auf diese Bemerkung auffallend nervös, wie Simona fand. Sein Blick huschte von ihr zu Gisbo, zum Toten und wieder zurück zu ihr. Er rieb sich die Hände an den Oberschenkeln, ehe er sie vor dem Bauch faltete, nur um sich Sekunden später mit ihnen durch das dunkle Haar zu fahren. Wie auch eine Frau im Hippiekostüm, die Haak einen betroffenen Blick zuwarf und sich mit gespreizten Fingern über die stoppelkurze Frisur strich. Eine blonde Langhaarperücke lag neben ihr. Immerhin hatte Bender nicht behauptet, der Tote sei von jemandem vergiftet worden, sondern lediglich festgestellt, dass Gift eine mögliche Todesursache sein könnte. Wussten Haak und die Frau mehr? Oder reagierten sie nur so, weil sie die negativen Schlagzeilen fürchteten, die garantiert übermorgen in der Braunschweiger Zeitung zu lesen sein würden: „Daniel Brockstein auf der Bühne der Komödie am Altstadtmarkt gestorben!“ So ein Vorfall war für ein Theater keine gute Publicity. Und waren Theaterleute in solchen Dingen nicht furchtbar abergläubisch?

Haak setzte sich wieder neben die Hippiefrau und blickte mit einem todtraurigen Gesichtsausdruck auf die Leiche.

„Brauchen Sie mich noch?“, fragte Bender, warf einen frostigen Blick auf Haak und verabschiedete sich, als Simona verneint und er versprochen hatte, ihr seinen Bericht ins Präsidium zu schicken.

„Ich brauche von Ihnen allen die Personalien“, bat Simona. „Name und Anschrift genügen fürs Erste.“

Sie reichte Arian Haak einen Notizblock und einen Stift; beides hatte sie für solche Fälle immer dabei. Er dankte ihr mit einem Nicken und einem automatischen Lächeln und begann zu schreiben. Sie zog ihr persönliches Notizbuch heraus, dessen Einband ein zigfach vergrößertes Foto vom Querschnitt durch einen Knochen zeigte. Simona fand die Komposition der Rot-, Orange- und Rosatöne schön, die wie ein abstraktes Gemälde wirkten. Sie schlug das Notizbuch auf und blickte die Schauspieler der Reihe nach an.

„Ist Ihnen an Herrn Brockstein etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

Allgemeines Kopfschütteln.

„Daniel war wie immer“, sagte Arian Haak und reichte Block und Stift an die Hippiefrau neben ihm weiter. „Die Schlussszene sieht vor ...“ Er winkte ab. „Ich erzähle Ihnen am besten kurz, worum es in dem Stück geht.“

Alle zuckten zusammen, als die elegante Frau aus der ersten Reihe laut aufheulte wie ein verwundetes Tier, theatralisch die Arme in die Luft reckte und zur Bühne stürzte.

Haak sprang auf. „Halten Sie bloß das Weib fern!“, verlangte er nachdrücklich in einem Ton, als wäre er der Frau gegenüber mit seiner Geduld am Ende.

„Ist das die Frau des Toten?“

„Himmel, nein!“

Gisbo fing sie ab und zog sie zurück zu den Sitzen. „Bitte, beruhigen Sie sich.“

Die Frau hatte offensichtlich nicht die Absicht, seinem Rat zu folgen. Sie streckte die Arme nach Brockstein aus, dessen Körper teilweise durch den Spalt zwischen Paravent und Bühnenboden zu sehen war. „Daniel! Mein Daniel!“

Haak brummte. Es klang wie das drohende Knurren eines Hundes. „Nicht mal im Tod lässt sie ihm seine Ruhe“, zischte er. Erklärend fügte er hinzu: „Das ist Diana Felbert. Sie nennt sich Daniels größten Fan, ist aber eher eine Stalkerin. Sie ahnen nicht, wie oft wir sie schon rauswerfen mussten, weil sie sich Zugang zur Garderobe verschafft hatte oder durch den Hintereingang reinschleichen wollte. Und wie oft sie nach einer Vorstellung oder in der Pause die Bühne geentert hat, kann ich schon nicht mehr zählen.“ Er schüttelte den Kopf und seufzte leidgeprüft, ehe er Simona flehend ansah. „Bitte, schaffen Sie die Furie hier raus. Und den Kerl da gleich mit. Die beiden haben hier nichts zu suchen.“ Er deutete mit dem Kinn zum Ausgang, wo ein junger Mann mit Goldrandbrille stand, der die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte und herüberstarrte.

„Wer ist das?“

„Noch einer von Daniels Stalkern“, antwortete Haak leise genug, dass der Mann ihn nicht hören konnte. „Ein Stückeschreiber. Pseudonym: Yannik York. Neidhard Neidhammel wäre aber ein sehr viel passenderer Name für ihn.“

Simona hätte beinahe gelacht. Doch das wäre in dieser Situation völlig unpassend gewesen.

Haak winkte ab. „Was der schon alles angestellt hat, um ein Stück von Daniels Kuchen zu ergattern ...“ Er schüttelte den Kopf.

Lag hier vielleicht ein Mordmotiv? Schon mancher Stalker war vom ursprünglichen Bewunderer zum Gewalttäter und sogar Mörder mutiert, wenn er von seinem verfolgten Idol nicht bekam, was er sich erhofft hatte oder von ihm nicht beachtet wurde. Simona setzte im Geiste Yannik York und auch Diana Felbert auf die Liste der Personen, die befragt werden mussten, falls sich herausstellte, dass bei Brocksteins Tod ein Fremdverschulden vorlag.

Gisbo hatte es geschafft, Diana Felbert auf ihren Platz zu verfrachten, was ein bisschen schwierig gewesen war, da es sich um Klappsitze handelte und Gisbo die Frau mit einem Arm festhalten und gleichzeitig den Sitz runterdrücken musste. Das Theater war früher ein Kino gewesen, das vor ungefähr zehn Jahren seinen Betrieb eingestellt hatte. Danach hatten es engagierte Leute in ein Privattheater umgewandelt, das nicht nur in Braunschweig einen ausgezeichneten Ruf genoss, sondern auch Größen wie Daniel Brockstein anzog.

„Gisbo, begleite die Dame bitte hinaus. Und den Herrn da auch.“ Sie deutete auf Yannik York. „Beide sind weder Angehörige des Toten, noch gehören sie zum Ensemble.“

Das löste einen neuen Aufschrei von Diana Felbert aus. „Oh Daniel! Daniel!“

Schmerzvoll verzog Gisbo das Gesicht, weil sie direkt neben seinem Ohr gekreischt hatte. Diana Felbert sprang auf und versuchte auf übertrieben theatralische Weise, zu Brockstein zu gelangen. Gisbo hielt sie zurück.

„Zeigen Sie mir bitte Ihren Personalausweis. Und geben Sie freundlicherweise Ruhe.“ Seine kalte Stimme ernüchterte sie.

Simona unterdrückte ein Lächeln. Gisbo konnte, wenn es angebracht war, der verständnisvollste Beamte sein und hatte dadurch schon so manchem Täter oder Zeugen Aussagen entlockt, die sie gar nicht hatten machen wollen. In Situationen wie dieser konnte er aber knallhart werden.

Von der staatlichen Autorität eingeschüchtert, wühlte Diana Felbert in ihrem schwarzen, mit Spitzen besetzten Täschchen und zog ihren Ausweis hervor, den sie Gisbo reichte. Er notierte ihre Adresse und fragte nach dem Hotel, in dem sie wohnte. Offenbar stammte sie nicht von hier. Anschließend reichte er ihr den Ausweis zurück und deutete zum Ausgang.

„Sie verlassen jetzt das Haus, Frau Felbert. Und zwar ohne weitere Kommentare und Theatralik.“

Empört warf sie Gisbo einen bitterbösen Blick zu, gehorchte aber und ließ sich von ihm zum Ausgang begleiten. Dabei blickte sie unablässig auf den Paravent zurück, der Brocksteins Leiche ihren Blicken entzog. Yannik York war inzwischen verschwunden.

Simona wandte sich wieder an den Intendanten. „Sie wollten mir von dem Stück erzählen, Herr Haak.“

„Ein Kriminalstück: Denn trügerisch ist der Schein. Daniel hat es geschrieben. Darin geht es um einen älteren Mann, der glaubt, dass er verfolgt wird und ihm jemand nach dem Leben trachtet. Er verdächtigt seine gesamte Familie und seine Nachbarn“, Haak deutete auf seine Kollegen, „aber alles, was in dieser Hinsicht passiert, ist Zufall oder hat völlig harmlose Ursachen. Doch gerade als er am Schluss davon überzeugt ist, sich geirrt zu haben – die Zuschauer glauben das schon nach dem ersten Akt –, wird er von seinem Sohn vergiftet, der mit dem Hausarzt unter einer Decke steckt. Der Vorhang fällt in dem Moment, in dem auch der alte Mann fällt.“ Haak blickte auf den Toten. Tränen traten in seine Augen. „Heute war die letzte Vorstellung. Wir wollten nachher feiern.“

Simona bemerkte, dass der Hippiefrau Tränen über ihre Wangen rannen, aber sie machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Möglicherweise hatte sie dem Toten nahegestanden. Vielleicht war sie sogar mehr gewesen als nur seine Kollegin.

„Die Vergiftung im Stück findet auf welche Weise statt?“

Haak deutete auf ein Glas auf dem Tisch, der auf der Bühne stand und zu einem im Stil der Siebzigerjahre eingerichteten Wohnzimmer gehörte. „Der Held trinkt jeden Abend seinen Rum. Daniel nimmt stilecht immer seinen eigenen DanBrock Rum mit sechzig Prozent Alkoholgehalt. Das letzte Glas ist vergiftet. Natürlich nur im Stück“, betonte er nachdrücklich. „Der Rum ist echt. Daniel mochte ihn und hat immer in der Abendvorstellung das letzte Glas mit echtem Rum gefüllt.“

Simona stieg auf die Bühne und roch an dem Glas. Ein stechender Geruch nach Alkohol mit dem typischen Duft von Rum stieg ihr in die Nase. Sie glaubte aber, darunter noch den Hauch einer anderen Note wahrzunehmen, war sich aber nicht sicher. Der Rumgeruch war zu intensiv. Sie zog einen Asservatenbeutel aus der Jackentasche, von denen sie gewohnheitsgemäß immer ein paar bei sich trug, obwohl das Asservieren von potenziellen Beweismitteln am Tatort Aufgabe der Leute von der Kriminaltechnik war. Doch bis die eintrafen, konnte ein Beweismittel vom Tatort entfernt oder kontaminiert worden sein. Was man gesichert hatte, hatte man gesichert.

„Und nachdem Herr Brockstein aus dem Glas getrunken hat, geschah – was?“

„Das Übliche“, antwortete Haak. „Er hat den Sterbenden gespielt, wie immer perfekt. Nur noch intensiver.“

„Und sonst ist Ihnen ist nichts aufgefallen?“ Simona kam die Sache ungewöhnlich vor. Hätten die Schauspieler nicht merken müssen, dass mit dem Mann etwas nicht in Ordnung war? Vor allem Haak, der mit Brockstein auf der Bühne gestanden hatte.

Der Intendant schüttelte den Kopf. „Wie ich schon gesagt habe, bin ich davon ausgegangen, dass Daniel sich für die allerletzte Vorstellung einen besonderen Gag hat einfallen lassen. Das wäre nicht das erste Mal gewesen. Darum haben wir erst gemerkt, dass was nicht stimmt, als er nicht aufgestanden ist, während wir alle auf die Bühne gegangen sind. Wir haben das aber in die Verabschiedung integriert und so getan, als gehörte es zur letzten Vorstellung, dass nicht nur Daniel, sondern wir alle am Schluss tot umfallen und liegen bleiben. Damit das Publikum nichts merkt.“

The Show must go on, kam Simona spontan in den Sinn. Offenbar stimmte dieses Klischee über Menschen, die im Theater arbeiteten.

„Hat Herr Brockstein Familie?“, wandte sie sich wieder an Arian Haak.

Er nickte. „Frau und Sohn. Die sind aber nicht zur Vorstellung gekommen. Sind sie nie. Es sei denn, sie wollten was von ihm.“

Simona blickte ihn fragend an. „Und was bitte?“

„Geld.“ Mit einer immensen Verachtung im Tonfall spuckte er das Wort förmlich aus, als sei es etwas Unanständiges. „Seine Frau ist erheblich jünger als Daniel, sogar jünger als sein Sohn. Ist seine dritte Ehe. Junior stammt aus der ersten. Und beide betrachten ihn nur als Goldesel.“

Simona notierte das. „Was macht Sie so sicher?“

Haak blickte auf die Leiche. „Wir kannten uns schon seit meiner Schulzeit.“ Er schüttelte den Kopf. „Dass es so enden musste ... Noch dazu auf unserer Bühne.“

„Einen schöneren Tod gibt es für einen Schauspieler nicht“, sagte die kurzhaarige Frau im Hippiekostüm, die inzwischen aufgehört hatte zu weinen.

„Sie sind?“, fragte Simona.

„Melanie Löwe, die Sekretärin und Prokuristin des Theaters. Wenn ich nicht gerade mit auf der Bühne stehe.“

Simona schrieb auch das auf, ehe sie die Theaterleute der Reihe nach ansah. „Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen? Oder können?“

Allgemeines Kopfschütteln.

„Wir waren in der Garderobe“, sagte Melanie Löwe und deutete auf eine Tür, die rechts neben dem Pult für Ton und Beleuchtung lag, das durch einen Vorhang vor den Blicken des Publikums verborgen war. „In der Schlussszene sind nur Ari und Danny auf der Bühne.“

Das genügte Simona erst einmal. „Ich muss Sie alle bitten, sich für weitere Fragen zu unserer Verfügung zu halten. Und solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, ist die Bühne ein Tatort. Das heißt, Sie können hier vorläufig keine Vorstellungen geben.“

Arian Haak nickte. „Das habe ich mir schon gedacht.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist kein Problem. Was sein muss, muss sein.“ Das klang resigniert.

„Ich hätte mir gern den Hinterausgang angesehen.“

Haak nickte wieder und stand auf. „Kommen Sie.“

„Können wir uns wenigstens in der Garderobe umziehen?“, fragte Melanie Löwe.

„Damit müssen Sie noch eine Weile warten.“

„Worauf?“, fragte ein junger Mann mit durchtrainierter Sportlerfigur. Es klang aggressiv.

„Darauf, dass unser Rechtsmediziner kommt und entscheidet, ob es sich um eine fremdverschuldete Vergiftung handelt. Falls ja, müssen wir die Garderobe und auch alle Ihre Sachen durchsuchen.“

„Wie bitte?“ Der Mann stand auf und funkelte Simona ärgerlich an. „Sie glauben doch nicht etwa, einer von uns hätte Daniel umgebracht, nur weil der dämliche Notarzt was von Vergiftung gefaselt hat. Das ist doch absurd.“

„Nein, sondern weil, falls es sich um eine Vergiftung handelt, dieses Gift irgendwo hergekommen sein muss. Wir sind laut Strafprozessordnung in so einem Fall verpflichtet, dem nachzugehen. Übrigens auch, um Unschuldige zu entlasten. Das dürfte doch ganz in Ihrem Sinn sein. Bis wir mit allem fertig sind, behalten Sie bitte Platz.“ Sie deutete auf die Sitzreihen im Zuschauerraum.

Der junge Mann seufzte und setzte sich wieder. „Nichts für ungut, aber Daniels Tod geht uns verständlicherweise an die Nieren.“

Gisbo kehrte zurück und übernahm es, der Truppe noch ein paar Fragen zu stellen. Simona wandte sich an Haak. „Wenn Sie mir bitte den Hinterausgang zeigen würden.“

Er nickte und deutete auf die Tür neben dem Tonpult, ehe er voranging, sie öffnete und Simona mit einer angedeuteten Verbeugung den Vortritt ließ. Sie fand sich in einem kleinen Raum wieder, der kaum mehr als eine Art Durchgang war, an dessen rechter Wand ein schmaler Einbautisch mit integriertem Unterschrank stand, auf dem Wasserflaschen, Trinkgläser und ein Geschirrtuch deponiert waren. Daneben stand ein Abfalleimer. Am Ende des Gangs führte eine Tür zu einem Flur, ihr direkt gegenüber lag der Garderobenraum. Er war offen, sodass Simona einen Blick hineinwerfen konnte.

Sie hatte ihn sich erheblich größer vorgestellt. Zumindest in Filmen, die im Theatermilieu spielten, waren sie groß, und die Stars hatten ihre eigenen Zimmer. Dieser Raum war so klein, als hätte man eine Abstellkammer umfunktioniert. Sechs kleine Tischplatten waren an die Wände gedübelt, darüber hingen viereckige, verspiegelte Badezimmerschränkchen, davor standen Stühle, über deren Rückenlehnen Kleidung hing. Auf den Tischen lagen Schminkutensilien, Kämme und andere Dinge, unter den Tischen sah Simona Nylontaschen, Rucksäcke, kleine Koffer, in denen die Ensemblemitglieder wohl ihre Sachen transportierten, die sie für ihren Auftritt brauchten. Neben dem Eingang war ein Papierkorb aufgestellt.

Auf einem Tisch lag eine Klarsichtmappe, in die Computerausdrucke geheftet waren. Obenauf stand: „Denn trügerisch ist der Schein von Daniel Brockstein (2010)“. Das Textbuch, nahm Simona an. Den Knickspuren und Kaffeeflecken nach zu urteilen, war es rege gebraucht worden.

Ein paar Schritte links neben dem Eingang zur Garderobe ging eine Treppe nach unten. „Wohin kommt man da?“, wollte Simona wissen.

„Zum Hof.“

„Wer hat alles Zugang dazu?“

Arian Haak zuckte mit den Schultern. „Jeder, der einen Schlüssel zur Tür hat. Das sind das Ensemble, die Gastspielleute, das Theaterteam, ich, und im Büro haben wir noch ein paar Ersatzschlüssel. Weil der Ausgang auch als Notausgang fungiert, ist die Tür während der Vorstellungen nicht abgeschlossen. Aber es steht immer jemand hier beziehungsweise unten und hat ein Auge darauf, dass Unbefugte sich nicht reinschleichen.“ Er verzog das Gesicht. „Und zwar nicht erst, seit die Felbert in Daniels Kielwasser aufgetaucht ist.“

„Kennen Sie die Frau näher?“

„Gott bewahre!“ Haak hob abwehrend die Hände. „Die Frau ist die Pest. Keine Ahnung, woher sie kommt, aber sie reist Daniel seit Jahren überallhin nach. Egal wo in der Welt er einen Auftritt hat, sie ist dabei und himmelt ihn an und versucht alles, ihm richtig nahezukommen.“

Simona schaute ihn aufmerksam an. Er erwiderte offen ihren Blick. Die Art, wie er das tat, strahlte eine gewisse Wärme aus. „Inwiefern?“

„Daniel hat mir von Fällen berichtet, in denen sie sich unter Vortäuschung, seine Frau zu sein, Zutritt zu seinem Hotelzimmer verschafft und ihn nach der Vorstellung nackt in seinem Bett erwartet hat.“ Er schüttelte den Kopf. „Daniel ist ... war bestimmt kein Kind von Traurigkeit, aber die Felbert war ihm zuwider. Nicht nur wegen ihrer Aufdringlichkeit.“

„Weshalb noch?“

Haak atmete tief ein und zögerte, ehe er antwortete. „Sie ist schuld am Scheitern seiner zweiten Ehe. Sie hat Daniels damaliger Frau einen Brief geschrieben, in dem sie von einer Liebesnacht mit ihm schwärmte, die nie stattgefunden hatte, und behauptete, Daniel hätte ihr versprochen, sich scheiden zu lassen und sie zu heiraten. Leider hat seine Frau das geglaubt.“ Er zögerte wieder, fuhr dann aber fort. „Als er die Felbert das nächste Mal gesehen hat – sie wohnte einer Generalprobe bei –, ist er ausgerastet und auf sie losgegangen.“ Er schüttelte den Kopf. „Hat leider nichts genützt. Daniel ist dann dazu übergegangen, sie zu ignorieren. Er hat es zumindest versucht.“

„Was offensichtlich auch nichts genützt hat“, vermutete Simona und dachte an Diana Felberts übertriebenes Gebaren vorhin.

„Sie sagen es.“ Er blickte sie wieder intensiv an und machte einen Schritt auf sie zu. „Daniel war unser Freund. Unser Theater verdankt ihm viel. Wenn er vergiftet wurde, dann hat ganz sicher keiner von uns etwas damit zu tun.“

Er sagte das sehr ernst und überzeugend. Aber er war Schauspieler. Konnte man einem Schauspieler trauen, dass Wahrheit war, was bei ihm nach Wahrheit aussah? Waren nicht alle Männer Schauspieler, die sich eine überzeugende Fassade errichteten, einen glauben ließen, die Beziehung wäre vollkommen – na ja, weitgehend – in Ordnung und dann Knall auf Fall aus einem Restaurant an der Seite einer anderen Frau anrufend mit verletzenden Worten Schluss machten? „Mit dir kann man auch sonst nicht allzu viel anfangen.“ Scheiße! Das hatte ihr noch kein Mann gesagt.

Vielleicht war auch das nur eine Lüge gewesen, mit der Antonio rechtfertigen wollte, dass er Simona ohne Vorwarnung hatte sitzen lassen. Als ob es dafür eine Entschuldigung gäbe! Sie sollte ihn wegen seelischer Grausamkeit verhaften und einsperren, bis er verrottet war. Leider war seelische Grausamkeit kein Straftatbestand. Höchst bedauerlich.

Arian Haak sah sie immer noch ernst und mit aufrichtigem Blick an. Arian. Welche Eltern gaben ihrem Sohn so einen Namen? Mit dem als lebenslänglicher Last hatte er ja nichts anderes werden können als Schauspieler. Oder Opernsänger, aber vielleicht fehlte ihm dazu das Talent.

Simona rief sich zur Ordnung. Der Mann hatte ihr nichts getan. Und ob er Daniel Brockstein etwas getan hatte, stand noch lange nicht fest. „Was genau verdankt Ihr Theater ihm denn?“

Haak machte eine ausholende Handbewegung. „Als wir das Haus gekauft und in ein Theater umgewandelt haben, brauchten wir Sponsoren. Daniel hat sich mit dem größten Batzen beteiligt. Ohne ihn hätten wir diesen Traum nicht so schnell verwirklichen können. Wir werden nämlich nicht subventioniert, sondern finanzieren uns vollständig selbst aus Eintrittsgeldern und Spenden.“

„Das war sehr großzügig von Herrn Brockstein.“

Haak nickte. „Ich sagte doch, wir waren Freunde. Schon lange, bevor Daniel berühmt wurde.“

Simona sah sich noch einmal um. „Also, Frau Felbert hätte hier nicht reinkommen können?“

Er schüttelte den Kopf. „Alle Angestellten kennen sie und wissen, was sie zu tun haben, wenn sie auftaucht. In den letzten Tagen hat sie es zumindest nicht über die Backstage probiert, sondern nur versucht, vorn auf die Bühne zu klettern, um ihrem Idol die Füße zu küssen.“

Wieder musste Simona sich das Lachen verbeißen. Arian Haaks Humor war erfrischend, obwohl er diese Bemerkung spürbar sarkastisch gemeint hatte. „Warum ist sie eigentlich so hinter ihm her?“

Er verdrehte die Augen. „Weil sie der Überzeugung ist, in einem früheren Leben Julia gewesen zu sein und in Daniel ihren wiedergeborenen Romeo sieht, mit dem sie jetzt endlich das glückliche Leben nachholen will, das ihnen damals verwehrt wurde.“

Zum dritten Mal verkniff sich Simona das Lachen.

Haak merkte es. „Im Ernst. Sie bildet sich ein, dass sie und Daniel in einem früheren Leben ein Paar waren und Seelenpartner durch alle Leben hindurch sind, weshalb sie die einzig richtige Frau für ihn ist. Wenn Sie mich fragen, gehört sie in psychiatrische Behandlung. Dringend.“

Es gefiel Simona, dass er nicht abwertend „Klapsmühle“ oder „Irrenanstalt“ gesagt hatte.

„Sie sagten, Frau Felbert reist ihm zu jeder Aufführung nach. Das muss doch eine Stange Geld kosten.“

Er nickte. „Sie verfolgt ihn sogar ins Ausland. Nach allem, was ich mitbekommen habe, bringt sie damit das Geld ihres verstorbenen Mannes durch. Ich glaube nicht, dass sie irgendeinem Broterwerb nachgeht. Kein Arbeitgeber würde es mitmachen, wenn jemand dauernd Urlaub nimmt, um seinem Idol hinterherzujetten.“ Er blickte sie nachdenklich an. „Ich will niemanden anschwärzen, aber Daniel hatte ihr vor ein paar Tagen gedroht, eine richterliche Verfügung gegen sie zu erwirken, wenn sie ihn nicht endlich in Ruhe lässt. Daraufhin hat sie erst das heulende Elend inszeniert – Sie haben vorhin eine Kostprobe erlebt – und danach gedroht, sich das nicht bieten zu lassen. Daniel gehöre ihr und sie würde nicht eher ruhen, bis sie beide auf ewig vereint wären.“

Falls das der Wahrheit entsprach, hätte auch Diana Felbert ein Mordmotiv. Simona neigte immer mehr dazu, wie Dr. Bender von einer vorsätzlichen Vergiftung auszugehen. Aber das würde der Rechtsmediziner entscheiden, wenn er kam.

Gisbo blickte um die Ecke des Durchgangs zur Bühne. „Doktor Krone ist da.“

Aufs Stichwort. „Ich komme.“ Sie wandte sich an Haak. „Das Textbuch dort“, sie deutete auf die Klarsichtmappe auf dem ersten Tisch in der Garderobe, „kann ich das mitnehmen?“

„Klar. Wir alle kennen den Text auswendig. Außerdem glaube ich nicht, dass wir das Stück in absehbarer Zeit noch mal aufführen werden.“ Er holte die Mappe und reichte sie ihr. „Vielleicht nie mehr.“

Simona ging auf die Bühne zurück und bedeutete Haak mit einer Handbewegung, sich zu seinen Kollegen zu setzen. Dr. Krone hatte sich bereits über die Leiche gebeugt. Sie kannte den Mittdreißiger als dynamischen Mann, den nichts erschüttern konnte. Jetzt aber wirkte er missmutig und müde. Der Missmut rührte wahrscheinlich daher, dass er aus dem wohlverdienten Feierabend geholt worden war, weil er Bereitschaft hatte. Seine Müdigkeit wiederum lag mit größter Wahrscheinlichkeit daran, dass er sich nach einem langen Arbeitstag aufs Bett gefreut hatte. Vielleicht hatte er sogar schon geschlafen, denn es war inzwischen weit nach elf Uhr. Simona gesellte sich zu ihm.

„Guten Abend, Doktor.“

„’n Abend“, brummte er. „Wo der gut sein soll, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber wem sag ich das. Sie hat man schließlich auch aus dem Feierabend geholt. Und für den armen Teufel hier“, er deutete auf die Leiche, „war der Abend definitiv nicht gut.“

„Tut mir leid.“ Es tat ihr wirklich leid. „Ich hätte Sie nicht rufen lassen, wenn ...“

„Ich weiß“, unterbrach er und reichte ihr eine kleine Stablampe. „Halten Sie mal und leuchten Sie.“

Er öffnete den Mund des Toten. Simona leuchtete hinein. Er brachte sein Gesicht näher an das der Leiche und blickte in die Mundhöhle. Schnupperte, wie es auch Simona getan hatte. Schließlich nickte er.

„Eindeutig Gift. Nicht nur wegen des Geruchs. Im Mund befinden sich leichte Verätzungen.“

Simona seufzte. Damit war die unnatürliche Todesursache bestätigt. Es würde eine lange Nacht werden. Lange vor ihrem Ende würde Simona sich mitsamt ihren Kollegen vom Erkennungsdienst, die inzwischen ebenfalls eingetroffen waren, bei dem Ensemble sehr unbeliebt gemacht haben.

„Meine Damen und Herren, wir müssen die Garderobe und Ihre Sachen durchsuchen. Leeren Sie bitte als Erstes die Taschen Ihrer Kleidung. Und danach werden wir von Ihnen Fingerabdrücke nehmen.“

Brocksteins letzter Vorhang

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