Читать книгу Brocksteins letzter Vorhang - Mara Laue - Страница 8

Montag, 25. Juni

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Simona drehte sich herum und streckte die Hand aus. Wieso war die Betthälfte neben ihr leer? Ja, klar, Antonio fehlte und würde ihr noch eine ganze Weile fehlen. Sie war offenbar eine Niete für ihn: „Mit dir kann man auch sonst nicht allzu viel anfangen.“

Simona brach in Tränen aus. Sie schlug mit der Faust ins Kissen, wo Antonios Kopf hätte liegen sollen, und wünschte sich, der läge dort, damit sie ihm denselben Schmerz zufügen könnte, den er ihr zugefügt hatte. Doch kein Schmerz, mit dem sie ihn gequält hätte, könnte auch nur annähernd so groß sein wie der, den er ihr angetan hatte. Aber er hätte es verdient zu leiden. Für seine Gemeinheit, für seinen Verrat, dafür, dass er sie offenbar nie geliebt hatte und überhaupt!

Sie rollte sich zusammen, zog die Decke über den Kopf, umklammerte das Kissen und heulte eine Weile vor sich hin. Doch so schnell der Anfall gekommen war, so schnell ging er vorüber. Simona neigte normalerweise nicht zu Selbstmitleid und schon gar nicht zum heulenden Elend, aber in den Minuten des Aufwachens, wenn ihre Mechanismen der Selbstbeherrschung noch schliefen, kamen solche Dinge hin und wieder vor. Solange sie nicht passierten, während sie im Dienst war, konnte sie damit leben. War ja niemand da, der sie deshalb hätte verspotten können.

Selbstbeherrschung in Gegenwart anderer war ihr schon lange zur zweiten Natur geworden. Seit ihrer Kindheit, um genau zu sein. Schließlich hatte sie manchen verletzenden Spott und sehr viel Häme ertragen müssen, weil sie nicht wusste, wer ihr Vater war. Nur dass er Spanier war und Manolo hieß; vorausgesetzt, er hatte ihrer Mutter seinen richtigen Namen genannt, für die er nur ein heißer One-Night-Stand in einer heißen spanischen Nacht am Strand von Tossa de Mar gewesen war. Sie hatte ihn nie wiedergesehen, aber ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub festgestellt, dass sie schwanger war. Ihre Versuche, Manolo zu finden, waren erfolglos geblieben. Vielleicht war auch er nur ein Tourist gewesen. Er blieb verschwunden. Es gab nicht mal ein Foto von ihm.

Aber Simona brauchte nur in den Spiegel zu sehen, um ungefähr zu wissen, wie er aussah, denn sie schien ihm ähnlich zu sehen. Was sich nicht nur auf ihr schwarzes Haar und ihre braunen Augen beschränkte. Da ihre Gesichtszüge überhaupt nicht denen ihrer Mutter oder eines anderen ihr bekannten Verwandten ähnelten, glichen sie vermutlich denen ihres Vaters. Simona hatte, als sie während ihrer Ausbildung mit der Gesichtserkennungssoftware vertraut gemacht worden war, angeblich aus Scherz ein Foto ihres Gesichts durch die Software so verändert, dass eine männliche Variante herausgekommen war. Falls ihr Vater auch nur ein bisschen so aussah wie dieses Bild, musste er ein sehr attraktiver Mann gewesen sein. Ihre Mutter hatte jedenfalls nur Gutes über ihn gesagt.

„Er war der zärtlichste Mann, der mir je begegnet ist“, lautete ihr Urteil über ihn. Vielleicht war das der Grund, dass sie nie geheiratet hatte und ihre Männerbekanntschaften selten länger als ein paar Wochen hielten, manchmal nur wenige Tage. Was nicht nur ihre Mutter in Verruf gebracht hatte, sondern auch Simona, die sich mehr als einmal hatte anhören müssen, eine „Hurentochter“ zu sein. Nachdem jedes Mal sie die Schwierigkeiten bekommen hatte, wenn sie sich mit den Fäusten gegen solche Beleidigungen gewehrt hatte, hatte sie schnell gelernt, sich zu beherrschen und ihre Gefühle in Gegenwart anderer nicht zu zeigen; erst recht nicht, wenn sie sich verletzt fühlte.

Sie nahm dem Makel ihrer Herkunft inzwischen schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln, indem sie behauptete, ihr Vater hätte Manolo Sanchez geheißen, was ein in Spanien recht häufiger Name war, hätte aus Tossa de Mar gestammt und ihre Mutter nur deshalb nicht geheiratet, weil er zwei Monate vor der Hochzeit bei einem Unfall ums Leben gekommen wäre. Da niemand, dem sie das Märchen erzählt hatte, die Wahrheit kannte oder überhaupt jemals auf den Gedanken gekommen wäre, auf so ein trauriges Ereignis näher einzugehen, hielt die Story bis heute.

Besonders da sie das Phantombild von damals mit einem Bildbearbeitungsprogramm so perfektioniert hatte, dass es nicht nur lebensecht wirkte. Sie hatte das Phantomgesicht auch in ein Urlaubsfoto eingefügt. Es zeigte ihre Mutter an einem Strand vor tiefblauem Meer, der durchaus in Spanien hätte sein können. Ein Mann, dem sie den Kopf von Manolo verpasst hatte, hielt sie umarmt, und sie lachte in die Kamera. Auf diese Weise hatte sie wenigstens die Illusion, ein Bild ihres Vaters zu besitzen.

Immerhin verdankte sie ihm, dass sie Simona hieß und nicht Simone, wie es in Deutschland gebräuchlich war. Simona klang deshalb nach etwas Besonderem. Ihre Mutter hatte sie auch von Anfang an als etwas Besonderes behandelt und ihr stets das Gefühl gegeben, dass sie ein kostbares Geschenk darstellte, über das sie zutiefst glücklich war. Das hatte ihr darüber hinweggeholfen, ohne Vater aufwachsen zu müssen.

Simona rollte sich aus ihrem Kokon und warf einen Blick auf den Wecker. Kurz vor halb acht. Normalerweise wäre sie längst auf dem Weg zur Dienststelle gewesen, aber sie war erst um halb vier ins Bett gekommen. Die Durchsuchung von Garderobe und Taschen der Schauspieltruppe hatte nichts ergeben. Dafür hatte der Erkennungsdienst im Abfalleimer im Durchgangsraum neben der Bühne mehrere leere Hundert-Milliliter-Fläschchen Rum gefunden, die auf Giftrückstände untersucht werden würden.

Simona schälte sich aus der Decke und ging ins Bad, wo sie erst heiß duschte und sich hinterher von einem eisigen Wasserstrahl quälen ließ, um munter zu werden. Den Rest des Munterwerdens würde der Kaffee besorgen. Sie setzte ihn auf, ehe sie sich anzog und die Braunschweiger Zeitung aus dem Briefkasten holte. Damit ging sie in die Küche, um zu frühstücken: eine dicke Scheibe kaltes Rinderfilet zwischen zwei Scheiben Toast geklemmt. Das Essen von gestern Abend war zu teuer, um es einfach wegzuwerfen. Und ein Scheißkerl wie Antonio war es nicht wert, dass sie gute Lebensmittel vernichtete, nur weil sie die nicht mit ihm hatte genießen können.

Wenn sie die Bohnen und das Fleisch kleinschnitt und mit den Kroketten in die Zwiebelsuppe tat, hätte sie für mindestens drei Tage eine Mahlzeit, die sie nur noch aufzuwärmen brauchte, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie das schmecken würde, aber es würde schon genießbar sein. Notfalls würde der Hunger das Gemisch reintreiben. Und den Obstsalat könnte sie sogar als Zwischenmahlzeit mit zur Arbeit nehmen.

Das Klingeln der Türglocke ließ sie zusammenzucken. Seufzend stand sie auf und öffnete.

Gisbo lächelte sie strahlend an. „Morgen, Mona.“ Er schnupperte in der Luft. „Kann ich bei dir einen Kaffee schnorren?“

„Klar.“ Sie ließ ihn rein, führte ihn in die Küche und stellte ihm einen Becher hin, den sie bis zum Rand füllte.

Gisbo betrachtete interessiert ihr halb gegessenes Sandwich. „Mal was anderes zum Frühstück als dein übliches Müsli. Wie kommt’s?“

„Einfach so.“ Das klang schon wieder bissig. „Tu mir einen Gefallen, Gisbo, und lass mich in Ruhe essen.“

„Wie du willst.“

Er schlürfte etwas vom Kaffee ab, bis der Pegel im Becher genug gesunken war, dass ein Schuss Milch hineinpasste. Es war nicht das erste Mal, dass er morgens bei ihr in der Küche saß. Ihre Wohnung lag auf seinem Weg zur Friedrich-Voigtländer-Straße, wo der Zentrale Kriminaldienst seinen Sitz hatte. Manchmal holte er Simona deshalb ab. Wenn es sich ergab, frühstückten sie bei solchen Gelegenheiten gemeinsam. Doch meistens hatte Gisbo schon etwas gegessen und trank, wenn überhaupt, nur noch eine Tasse Kaffee. Er war schließlich glücklich verheiratet. Beneidenswert.

„Auch ein Sandwich?“, fragte sie ihn, als ihr reichlich spät einfiel, dass er vielleicht auch noch nichts hatte essen können, weil er ebenso spät ins Bett gekommen war wie sie und deshalb das Frühstück mit seiner Frau wohl ausgefallen war.

„Gern.“

Sie toastete zwei weitere Brotscheiben und schnitt eine Scheibe vom Rinderfilet. Als sie ihm das Sandwich hinstellte, sah er sie aufmerksam an.

„Magst du drüber reden?“

„Nee.“ Sie setzte sich wieder und gab vor, sich in die Zeitung zu vertiefen.

Gisbo kannte sie in- und auswendig. Deshalb konnte er sich bestimmt denken, dass zwischen dem gemeinsamen Feierabend gestern Nachmittag und dem Moment, als er sie am Abend abgeholt hatte, etwas Negatives vorgefallen sein musste. Seit Simona vor zwölf Jahren bei der Kripo angefangen hatte, waren sie und Gisbo ein Team und verbrachten mehr Zeit miteinander als jeder für sich zu Hause. Da lernte man sich verdammt gut kennen. Und natürlich beinhaltete eine solche Partnerschaft auch, dass man hin und wieder über private Probleme sprach. Schließlich mussten sie sich in manchen Situationen blind aufeinander verlassen können. Wenn einer abgelenkt war, weil ihn irgendwelche Sorgen plagten, konnte das im schlimmsten Fall tödliche Folgen haben.

„Schmeckt gut“, meinte Gisbo, nachdem er den ersten Bissen gegessen hatte. „Was immer der Grund für dieses Mona-untypische Frühstück ist, es schmeckt.“

„Danke.“ Sie hüstelte. „Mir ist gestern Abend mal wieder eine versuchte Beziehung in die Brüche gegangen. Und von dem Event ist das ganze Essen übrig geblieben.“

„Oh Scheiße.“ Gisbo legte ihr die Hand auf den Arm. „Aber der Kerl ist ein Idiot. Genau wie die anderen Kerle vor ihm, die dich nicht wollten. Die wissen gar nicht, was ihnen entgeht. Ganz ehrlich, Mona, wenn ich nicht verheiratet wäre und du nicht meine Kollegin wärst, hätte ich dich schon längst geangelt.“

Sie lächelte und schnitt ihm eine Grimasse. „Du glaubst, dass ich dich genommen hätte? Träum weiter.“

Er grinste und nahm den Scherz nicht krumm.

„Ist nett, dass du das sagst, Gisbo, aber wir wissen beide, das stimmt nicht. Mit uns ginge das niemals gut. Mit mir hält es nun mal kein Mann aus.“ Und das lag garantiert nicht nur an ihren Arbeitszeiten, denn laut Antonio konnte man auch sonst nichts mit ihr anfangen. Bestimmt hatten ihre anderen Verflossenen das genauso gesehen und waren nur zu höflich gewesen, ihr das ins Gesicht oder ins Telefon zu sagen. Scheiße, tat das weh!

„Blödsinn, Mona. Rede dir das nicht ein. Vor allem, lass dir das nicht einreden. Ich habe mal so ähnlich gedacht, bis ich Jasmin kenngelernt habe. Sie ist die erste Frau, die mich so liebt, wie ich bin. Ich bin sicher, dass du irgendwann einem Mann begegnen wirst, der eine Frau wie dich sucht.“

Sie schnaubte nur und schüttelte den Kopf.

Gisbo gab ihr einen Klaps auf die Hand. „Schüttele nicht den Kopf, sondern glaub daran. Sonst wird das vielleicht wirklich nichts.“

Im Moment hatte sie sowieso keine Ambitionen, einen weiteren Versuch zu starten. „Fahren wir erst ins Präsidium?“, wechselte sie das Thema. „Oder übernehmen wir vorher noch die undankbare Aufgabe, Frau Brockstein vom Tod ihres Mannes zu informieren?“

„Ich habe schon mit Brunner telefoniert. Wir sollen die Witwe trösten, bevor wir zur Dienstbesprechung antanzen. Und Doktor Krone erwartet uns heute Nachmittag mitsamt dem Staatsanwalt – wir haben die Ehre mit Hengest – zur Obduktion.“

Dienststellenleiter Thorsten Brunner hatte die Leitung der Mordermittlung übernommen, da einige Kollegen im Urlaub waren. Dass aber Wolf Hengest in einem Mordfall ermittelte, kam eher selten vor. Sein Metier war die Wirtschaftskriminalität.

Simona und Gisbo frühstückten schweigend zu Ende und machten sich anschließend auf den Weg. Simona war auf Brocksteins Frau gespannt. Ob sie tatsächlich die gierige Schlampe war, als die Arian Haak sie porträtiert hatte?

*


Die Brocksteins wohnten in einem Haus am Inselwall, das sich als eine kleine, aber feine Villa entpuppte, die von einem hohen Gitterzaun umgeben war. Bis auf den Bereich hinter dem Tor verdeckten hohe Hecken verschiedener dorniger Gewächse die Sicht auf das Haus. Außerdem standen sie so, dass man, selbst wenn man das Gitter hätte überklettern können, um auf das Grundstück zu gelangen, danach unweigerlich im stacheligen Grün gelandet wäre. Eine Kamera nahm jeden Besucher in den Fokus, der am Tor klingelte.

Doch auf Simonas Klingeln rührte sich im Haus nichts. Kein Summen signalisierte, dass das Tor geöffnet werden könnte, keine Frage, wer vor der Tür stehe, kam aus der Gegensprechanlage.

„Madame schläft wohl noch“, vermutete Gisbo, als auch der vierte Versuch keine Reaktion erbrachte.

„Sie ist wohl eher nicht zu Hause. Die Klingel hört man aus dem Haus bis hierher. Wenn sie da wäre, hätte spätestens mein Dauerläuten sie aufwecken müssen.“

Hinter ihnen quietschten Bremsen, und eine laute Hupe ertönte. Simona und Gisbo drehten sich um. Ein silberfarbener Lexus mit einer brünetten Frau am Steuer stand keinen halben Meter von ihnen entfernt. Die Frau machte eine scheuchende Handbewegung und drückte erneut auf die Hupe. Schon das machte sie Simona unsympathisch. Auf dem Beifahrersitz saß ein junger Mann mit Sportlerfigur und starrte Simona und Gisbo finster an.

Simona zog ihren Dienstausweis heraus und hielt ihn der Frau hin, die daraufhin endlich die Hand von der Hupe nahm und das Fenster herunterließ. „Sind Sie Frau Brockstein?“

„Ja. Wieso?“

„Oberkommissarin Heller und Oberkommissar Eichenberg vom Zentralen Kriminaldienst, Fachkommissariat Eins. Wir müssten dringend mit Ihnen sprechen.“

Die Frau wurde blass. „Weswegen? Wurde bei uns eingebrochen?“

„Es geht um Ihren Mann. Und wir sollten das nicht hier auf der Straße besprechen.“

„Wieso nicht? Was ist mit ihm?“

„Das sollten wir wirklich nicht hier besprechen. Lassen Sie uns bitte rein?“

Die Frau strich sich mit gespreizten Fingern das Haar nach hinten, ehe sie einen Signalgeber betätigte, der das Tor zum Grundstück öffnete. Simona und Gisbo traten zur Seite. Der Lexus brauste an ihnen vorbei und stoppte abrupt vor der Garage neben dem Haus, ehe Brocksteins Frau und der Mann ausstiegen. Simona und Gisbo gingen zu ihnen, aber die Frau beachtete sie nicht, sondern schloss die Haustür auf und ging hinein, ohne sie hineinzubitten. Ihr Begleiter folgte ihr, und Simona und Gisbo schlossen sich ihm an.

Die Witwe hatte im Wohnzimmer ein Fenster aufgerissen, um frische Luft hereinzulassen, denn im Raum roch es nach kaltem Zigarrenrauch. Sie setzte sich auf die Couch und blickte Simona und Gisbo auffordernd an.

„Was ist nun mit Daniel?“

„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann gestern Abend verstorben ist. Unser aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust.“

Die Witwe starrte sie an. Ihre Mundwinkel zuckten. Dann blickte sie an ihr vorbei auf ein Poster an der Wand, das einen jungen Daniel Brockstein in einem mittelalterlichen Kostüm zeigte, einen Totenschädel in der Hand, mit dem er augenscheinlich sprach. Laut Aufschrift auf dem Poster handelte es sich um eine Hamlet-Inszenierung am New Yorker Broadway Theatre. Da es das einzige Poster oder Bild von Brockstein im Zimmer war, vermutete Simona, dass dies das Stück sein musste, mit dem er berühmt geworden war.

„Frau Brockstein?“

Die Witwe blickte sie wieder an. „Was ist denn passiert? Daniel hat doch nicht wieder zu viel getrunken? Er trinkt gern einen über den Durst, müssen Sie wissen.“ Sie verzog das Gesicht. „Von diesem widerlichen Rum, der meilenweit gegen den Wind stinkt, wenn man nur die Flasche aufmacht. Dabei verträgt sein Herz den Suff gar nicht.“

Ihr Begleiter, der unschlüssig im Raum gestanden hatte, setzte sich neben sie, legte den Arm um sie und streichelte ihre Schulter.

„Wer sind Sie bitte?“, fragte Gisbo.

„Boris Keiser. Ein Freund des Hauses.“ Er tätschelte der Witwe die Hand. „Ich bleibe bei dir, Clio.“ Er blickte Simona und Gisbo an. „Das darf ich doch?“

„Von unserer Seite aus spricht nichts dagegen. Wenn Frau Brockstein damit einverstanden ist.“

Clio Brockstein nickte und lehnte sich an Boris Keiser, den Kopf auf seiner Schulter, den Arm um seiner Taille. Dass der kein „Freund des Hauses“ war, sondern Clio Brocksteins Liebhaber, war angesichts dieser Vertrautheit nicht zu übersehen. Die Art, wie er sie im Arm hielt und wie sie sich an ihn drückte, zeugte von einer Intimität zwischen den beiden, die man nicht mit einem platonischen Freund teilte.

„Was ist mit Daniel passiert?“, wollte sie wissen und verzichtete darauf, Simona und Gisbo einen Platz anzubieten. „Tot, schon klar. Aber wie?“ Sie schüttelte den Kopf. „Er ist – war doch im besten Alter. Gerade erst sechzig.“ Sie blickte Simona und Gisbo gespannt an.

Simona lauschte ihrer Stimme nach. Eine alte Angewohnheit, denn der Tonfall, besonders die Untertöne, die nicht auf Anhieb auffielen, verrieten in der Regel eine Menge über das, was jemand meinte, auch wenn er es nicht aussprach. Clio Brocksteins Worte hörten sich für Simona bemüht an; als wenn sie Betroffenheit vortäuschen wollte, die sie nicht empfand. Und in Anbetracht des jungen Liebhabers, der nur wenig älter war als sie, war wohl von ihrer Liebe zu ihrem Mann nicht mehr viel übrig. Falls Clio Brockstein ihren Mann jemals geliebt hatte. Was Brockstein an ihr gefunden hatte, war dagegen offensichtlich. Abgesehen von ihrer Jugend, vielleicht auch in Verbindung mit ihrer „Heldenverehrung“ für ihn, umgab Clio Brockstein das Flair eines Models mit gestylter Figur, gestyltem Gesicht und gestyltem Outfit. Jede ihrer Bewegungen stellte eine subtile Verführung dar.

„Herr Brockstein ist auf der Bühne zusammengebrochen“, beantwortete Simona ihre Frage. „Nach unseren bisherigen Erkenntnissen ist er an einer Vergiftung gestorben. Die genaue Todesursache wird durch die Obduktion ermittelt.“

Clio Brockstein schaute sie entsetzt an. „Obduktion? Dürfen Sie das überhaupt ohne meine Einwilligung?“

„Wenn der Arzt eine unnatürliche Todesursache feststellt, sind wir dazu vom Gesetz verpflichtet“, erklärte Gisbo. „Falls Ihr Mann wirklich vergiftet wurde, wollen Sie doch bestimmt wissen, warum und wie.“

„Ja, schon.“ Clio machte eine entschuldigende Handbewegung. „Aber der Gedanke, dass Sie Daniels wunderbaren Körper aufschneiden und ausschlachten wie ein Stück Vieh, ist mir sehr, sehr unangenehm.“

Obwohl sie versuchte zu zeigen, wie unangenehm ihr das angeblich war, wirkte das wenig glaubhaft. Und das mit dem „wunderbaren Körper“ war wirklich mehr als zu dick aufgetragen. Simona hatte Brocksteins Körper gesehen; in seiner ganzen schonungslosen Nacktheit, als er vorschriftsmäßig vor Ort vollständig entkleidet worden war, um nach möglichen Verletzungen oder anderen Spuren unter der Kleidung zu suchen, zum Beispiel Einstichstellen einer Spritze. Ein wunderbarer Körper sah in Simonas Augen anders aus.

„Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“

Clio Brockstein machte eine unbestimmte Handbewegung. „Irgendwann gestern am frühen Nachmittag. Daniel ist wie immer Stunden vor seinem Auftritt ins Theater gefahren, um letzte Dinge zu regeln. Da es die Abschlussvorstellung war und er danach immer bis in die Puppen mit seinem Ensemble feiert, habe ich mit Boris einen Zug um die Häuser durch ein paar Locations gemacht, wo echt was abgeht. Wir waren im Privileg Club und in einem anderen. Wie heißt der doch gleich?“, wandte sie sich an Keiser.

„Cube 11. Und im Fifty. Da waren wir zuerst, weil er schon ab halb sieben geöffnet hat. Die anderen machen erst um elf auf. War echt toll.“ Er grinste. „Wir haben gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht.“

„Wenn ich das richtig verstanden habe, waren Sie die ganze Nacht unterwegs“, vergewisserte sich Simona.

Clio Brockstein zögerte. Sie blickte von Simona zu Gisbo und überlegte vermutlich, welche Antwort angemessen und vor allem glaubhaft war. Simona hatte so ein Taktieren schon oft bei Zeugen oder Tatverdächtigen erlebt. Sie mussten entscheiden, mit welcher Antwort sie die geringsten und am besten gar keine Schwierigkeiten bekämen. Hatte Clio Brockstein etwas zu verbergen?

„Mehr oder weniger“, antwortete sie schließlich. „Wie Sie sich sicher schon gedacht haben, waren wir auch miteinander im Bett. Bei Boris zu Hause.“

Keiser blickte sie überrascht an, ehe er nickte. „Ja, wir waren die ganze Nacht zusammen.“

„Sie müssen das verstehen“, fügte Clio Brockstein hinzu. „Daniel war Künstler. Schauspieler eben. Wir hatten eine Vereinbarung, dass ich bereitstehe, wenn er eine Ehefrau zum Repräsentieren braucht, aber ansonsten jeder frei ist, sich zu vergnügen, mit wem er will. Glauben Sie bloß nicht, er hat was anbrennen lassen.“

Das deckte sich mit Arian Haaks Behauptung, Brockstein sei kein Kind von Traurigkeit gewesen.

„Die Details Ihrer Ehe gehen uns nichts an“, sagte Simona. Obwohl sie natürlich hochinteressant waren und vielleicht das Motiv für einen Mord beinhalteten. Sollte sich dafür im Laufe der Ermittlungen ein Anhaltspunkt ergeben, war es immer noch Zeit genug, danach zu fragen. „Sie erwähnten, dass Ihr Mann dem Alkohol gut zugesprochen habe.“

Clio Brockstein nickte und öffnete die Minibar, die in einem der Wohnzimmerschränke eingebaut war. „Da steht das Zeug. Er hat es überall mit hingeschleppt. Seine persönliche Marke. War er richtig stolz drauf.“

Ein Teil des Barfaches war vollgestopft mit kleinen Fläschchen Rum von genau der Marke und Größe, wie das, was im Theater gefunden worden war: DanBrock Rum, sechzig Prozent. Auf dem Etikett prangten ein Foto von Brockstein und ein Autogramm von ihm.

„Der Rumhersteller hatte damals – das war noch vor meiner Zeit mit Daniel – eine neue Marke hergestellt und Daniel fürstlich dafür bezahlt, sie nach ihm benennen zu dürfen: DanBrock – Daniel Brockstein. Er hat auch ein paar Werbefilme mit ihm für die Marke gemacht. Und Daniel hat das Zeug geliebt. Kaum ein Tag ohne seine Fläschchen.“

Zumindest die Menge der Fläschchen deutete darauf hin, dass sie die Wahrheit gesagt haben könnte. Da Brockstein das Gift oral eingenommen hatte, wie Dr. Krone festgestellt hatte, lag der Verdacht nahe, es habe sich in dem Glas Rum befunden, das Brockstein auf der Bühne getrunken hatte. Offenbar hatte er den Rum immer selbst ins Theater mitgebracht, also bestand die Möglichkeit, dass sich das Gift schon bei ihm zu Hause darin befunden hatte. Und vielleicht nicht nur in einer Flasche.

„Trinken Sie auch davon?“, fragte Simona.

„Um Himmels willen!“, wehrte Clio Brockstein entrüstet ab und verzog das Gesicht. „Mir reicht es, wenn Daniel die Dinger bloß aufmacht und ich den ekelhaften Geruch riechen muss. Schon davon wird mir schlecht. Ich glaube nicht, dass ich das Zeug runterbrächte, selbst wenn ich wollte.“

„Wir werden die Flaschen mitnehmen“, entschied Simona. „Gibt es noch mehr davon?“

„Gegenwärtig nicht. Die stammen alle aus der letzten Lieferung. Als Bonus für die Werbung bekommt Daniel jeden Monat einen Karton mit diesen Fläschchen. Und er machte immer ein Ritual daraus, sie wie die Zinnsoldaten im Barfach aufzureihen: immer sechs Reihen zu je fünf Stück. Dabei durfte ihn niemand unterbrechen, sonst wurde er fuchsig. War schon irgendwie lustig, ihn dabei zu beobachten.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die nächste Lieferung kommt in drei Wochen. Nehmen Sie alle mit. Und von mir aus können Sie die behalten.“

Simona nahm zwei Asservatenbeutel aus ihrer Jackentasche und benutzte den einen anstelle eines Handschuhs, um die Flaschen in den anderen zu tun. Fünfzehn Stück, und sie passten gerade alle hinein.

Clio Brockstein blickte Simona mit großen Augen an. „Glauben Sie, der Rum ist vergiftet?“ Das klang besorgt. Sie blickte nachdenklich auf die Flaschen im Beutel, ehe sie den Kopf schüttelte. „Ich kann nicht glauben, dass er so weit gehen würde.“

„Wer?“, fragte Gisbo.

„Helmuth van Toon. Der Rumhersteller. Es gab in letzter Zeit richtig Zoff zwischen ihm und Daniel, weil Daniel den Werbevertrag kündigen wollte. Van Toon war damit natürlich nicht einverstanden. Daniels Name ist sein bestes Zugpferd. Ich glaube, Daniel wollte ihm sogar gerichtlich verbieten lassen, ihn weiterhin zu verwenden. So genau weiß ich das nicht. Wir haben nicht im Detail darüber gesprochen.“

„Warum wollte Ihr Mann aus dem Vertrag aussteigen?“

Clio Brockstein schüttelte den Kopf. „Alles, was mit dem Zeug zu tun hat, hat mich nicht groß gekümmert. Und Daniel hat das nicht mit mir diskutiert.“ Sie blickte wieder nachdenklich auf die Fläschchen. „Wenn der Namensgeber tot ist, kann er die Verwendung seines Namens nicht mehr untersagen, nicht wahr?“

„Wir werden dem nachgehen. Können Sie uns sagen, in welcher Stimmung Ihr Mann in letzter Zeit war?“

„Wie immer. Bestens drauf. Nur wegen der Proben manchmal etwas müde. Und ich glaube, er hat auch an einem neuen Stück gearbeitet. Warum fragen Sie?“

„Glauben Sie, Ihr Mann hätte einen Grund für einen Selbstmord gehabt?“

„Daniel?“ Clio Brocksteins Stimme schnellte bei der letzten Silbe in eine schrille Höhe. Heftiges Kopfschütteln, das abrupt stoppte. Sie runzelte die Stirn, ehe sie erneut den Kopf schüttelte. „Ich wüsste keinen Grund.“

Ihr Zögern und ihr Stirnrunzeln könnten das Gegenteil bedeuten, aber Simona ließ die Sache erst einmal auf sich beruhen. Je nachdem, was die Obduktion ergab, war später immer noch Zeit genug, genauer nachzuhaken. „Wenn Sie mir bitte Ihre Handynummer geben würden, damit wir Sie erreichen können. Sie auch, Herr Keiser; und Ihre Adresse bitte.“

Clio Brockstein schrieb die Nummer auf einen Notizblock, der auf dem Beistelltisch lag, riss den Zettel ab und reichte ihn Simona. Boris Keiser tat das ebenfalls.

„Was machen Sie eigentlich beruflich, Frau Brockstein?“

„Ich bin auch Schauspielerin. Beim Film. Gegenwärtig habe ich aber kein Engagement.“

„Und Sie, Herr Keiser?“

„Ich bin Student. Sport.“ Er zögerte. „Ich ... ich nehme aber gerade eine kreative Auszeit.“

Mit anderen Worten, er schwänzte entweder die Vorlesungen oder hatte das Studium bereits abgebrochen. Weil Clio Brockstein ihn aushielt? Nicht ausgeschlossen.

„Frau Brockstein, nach unseren Informationen hat Ihr Mann einen Sohn.“

Sie nickte. „Enno. Er wohnt hier irgendwo in Braunschweig. Ich habe keinen Kontakt zu ihm. Der Bursche kann mich nicht leiden. Keine Ahnung wieso.“

„Dann legen Sie wohl keinen Wert darauf, ihn vom Tod seines Vaters in Kenntnis zu setzen?“

Sie hob abwehrend die Hände. „Nein, danke! Machen Sie das. Ist das nicht sowieso Ihre Aufgabe?“

Simona lächelte gezwungen. „Wir geben Ihnen Bescheid, wenn die Leiche Ihres Mannes zur Bestattung freigegeben wird. Auf Wiedersehen.“

„Ja. Danke. Ich hoffe, das dauert nicht allzu lange.“

„Wir beeilen uns“, versprach Simona und konnte einen sarkastischen Unterton nicht verhindern. Sie nickte Keiser zu und verließ mit Gisbo das Haus.

„Das nenne ich mal eine lustige Witwe.“ Gisbos Stimme klang spöttisch. „Hieß es doch zuerst, er sei ein Freund des Hauses, dieser Hausfreund. Du kennst doch den Unterschied?“ Er grinste und beantwortete seine Frage selbst. „Der Freund des Hauses kommt, wenn er will, aber der Hausfreund will, wenn er kommt – nämlich mit der Frau des Hauses ins Bett.“

Es hätte des Nachsatzes nicht bedurft, Simona hatte den Witz auch so verstanden. Ihr war allerdings nicht nach Lachen zumute, was Gisbo zu einem erstaunten Seitenblick veranlasste. Sie war bestimmt kein Moralapostel, aber Clio Brocksteins Mangel an wenigstens einem winzigen bisschen Trauer oder Betroffenheit und somit Achtung vor dem Toten, der immerhin ihr Ehemann gewesen war, fand sie widerlich. Sie musste nur aufpassen, dass sie sich nicht von ihrer Abneigung gegen die lustige Witwe bei ihrer Arbeit beeinflussen ließ. Selbst die routiniertesten Ermittler waren immer noch Menschen mit Fehlern und Schwächen. Anderseits wusste sie aus Erfahrung, dass jeder Mensch anders auf eine Todesnachricht reagierte. Von Schockstarre über Leugnen, Hysterie und sogar Angriff auf den, der die Trauerbotschaft überbrachte, bis hin zur Ohnmacht hatte sie alles schon erlebt. Und heute zur Abwechslung eine lustige Witwe. Die ganz locker zugab, die Nacht mit ihrem Lover verbracht zu haben – zu einem Zeitpunkt, als ihr Mann bereits tot gewesen war.

„Glaubst du das mit der vereinbarten freien Liebe in der Ehe?“, riss Gisbo sie aus ihren Gedanken.

Simona wiegte den Kopf. „Könnte möglich sein. Brockstein war immerhin um die dreißig Jahre älter als seine Frau. Vielleicht hat es bei ihm nicht mehr so richtig geklappt im Bett, und er hat ihr einen Freibrief erteilt. Solche Fälle gibt es. Brockstein können wir leider nicht mehr danach fragen. Aber vielleicht hat er dem Intendanten was erzählt, falls der wirklich so ein guter Freund war, wie er behauptet hat.“

Gisbo nickte und öffnete das Auto mit der Fernbedienung. „Übrigens, das Fifty, in dem die beiden ab halb sieben gewesen sein wollen, liegt am Altstadtmarkt – in unmittelbarer Nähe zum Theater. Das kann viel oder nichts zu bedeuten haben.“

„Es könnte auch Zufall sein.“

Ob überhaupt ein Mord vorlag, würden sie heute Nachmittag erfahren, wenn Dr. Krone die Obduktion vornahm. Erst danach würden sie mit den Ermittlungen beginnen oder sie sich sparen, sollte sich herausstellen, dass Brockstein Selbstmord begangen hatte. Es gab natürlich auch noch die Möglichkeit einer versehentlichen Vergiftung. Dann mussten sie herausfinden, wie es dazu hatte kommen können und ob sich jemand einer fahrlässigen Tötung schuldig gemacht hatte.

In der Zwischenzeit gab es andere Kriminalfälle zu bearbeiten, die nichts mit Mord zu tun hatten. Zunächst jedoch galt es, Enno Brockstein vom Tod seines Vaters in Kenntnis zu setzen.

*


Clio schloss das Fenster und wartete, bis die beiden Kripobeamten das Grundstück verlassen hatten. Dann konnte sie nicht mehr an sich halten und stieß einen Jubelschrei aus. Tanzte im Kreis herum und warf sich neben Boris auf die Couch. Sie drückte ihm einen heftigen Kuss auf den Mund.

„Ich bin reich, Boris! Reich, reich, reich, reich!“ Sie küsste ihn erneut und lachte. Breitete die Arme aus, um die Welt zu umarmen.

„Wir sind reich“, korrigierte Boris. „Ach, Clio, das ist wundervoll!“ Er interpretierte ihre ausgebreiteten Arme als Einladung, drückte Clio an sich und küsste sie ebenfalls. „Wann heiraten wir?“

Sie lachte und wuschelte ihm durch das Haar. „Damit müssen wir noch eine Weile warten. Wenn ich zu schnell nach Daniels Tod heirate, sähe das in der Öffentlichkeit reichlich blöd aus. Erst mal werde ich eine Weile die trauernde Witwe spielen.“

Spielen – denn ihre Trauer hielt sich in sehr engen Grenzen. Seit Daniel ihr vor ein paar Tagen den Geldhahn zugedreht hatte, fühlte sie nur noch Wut auf ihn.

Boris blickte sie finster an, die Stirn in Falten gelegt. „Und wie lange müssen wir warten?“ Seine Stimme klang ungeduldig und hatte einen schmollenden Unterton.

Clio lächelte entschuldigend und streichelte seine Wange. „Also, ein halbes Jahr mindestens.“

„Was?“ Er fuhr empört hoch.

Sie sah ihn betrübt an. „Tut mir wirklich leid, Boris. Aber, hey, das macht doch keinen Unterschied. Sobald ich offiziell das Geld geerbt habe, kommt es doch nicht darauf an, ob wir sofort oder ein paar Monate später heiraten. Wir werden mit oder ohne Trauschein wie im Schlaraffenland leben.“

„Ja, schon, aber mir gefällt es nicht zu warten.“

„Wirst du wohl müssen. Ebenso wie ich.“ Sie gab ihm einen innigen Kuss, den er zögernd erwiderte. Sie spürte seine Enttäuschung und seinen Ärger.

„Wieso hast du den Bullen eigentlich gesteckt, dass wir ein Paar sind, Clio? Musste das sein?“

Sie warf die Arme hoch, verdrehte die Augen und lehnte sich zurück. „Mensch, Boris, das haben die sich doch sowieso schon gedacht, als wir ihnen gesagt haben, dass wir die halbe Nacht durch die Clubs gezogen sind. Und dann bin ich mit dir hergekommen, das spricht auch Bände. Glaubst du, die können nicht zwei und zwei zusammenzählen? So zu tun, als hätten wir nichts miteinander, hätten die uns gar nicht geglaubt. Also spielen wir mit offenen Karten, sonst verdächtigen die uns noch am Ende, was mit Daniels Tod zu tun zu haben.“

Er blickte sie betroffen an. „Glaubst du wirklich?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Bei der Polizei weiß man nie.“ Sie stand auf und zog Boris von der Couch hoch. „Aber das ist mir im Moment so was von egal.“ Sie küsste ihn und ging gleichzeitig rückwärts in Richtung Schlafzimmer.

Er brauchte keine weitere Einladung, sondern folgte ihr und begann schon auf dem Weg, sich auszuziehen. Es störte Clio nicht im Geringsten, dass sie ihren Lover im Ehebett vögelte, noch ehe Daniels Leiche kalt war. Daniel hatte sowieso schon lange nicht mehr mit ihr geschlafen. Was ganz in ihrem Sinn gewesen war, denn so toll war es mit ihm nie gewesen. Boris dagegen ... Clio genoss das Liebesspiel und Boris’ Leidenschaft und ließ das äußerst befriedigende Erlebnis langsam ausklingen, ehe sie sich wieder praktischen Dingen zuwandte.

„Bei näherer Betrachtung sollten wir uns eine Weile besser nicht sehen.“

„Wie bitte?“ Boris setzte sich ruckartig auf. „Spinnst du jetzt total?“

„Nein, ich spinne nicht. Ich habe nur keine Lust, von der Presse als Flittchen durchgehechelt zu werden. Sobald die von Daniels Tod erfahren, kommen garantiert die Interviewanfragen, und ich stehe im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Wenn die Pressefuzzis dann rauskriegen, dass ich mit dir zusammen bin ... Die werden denken, dass ich Daniel schon vorher mit dir betrogen habe. Dann werde ich in aller Öffentlichkeit als Schlampe dastehen. Darauf habe ich keinen Bock. Und ein paar Wochen wirst du ja wohl ohne mich auskommen können. Danach ...“ Sie fuhr verheißungsvoll mit den Fingerspitzen über seine Brust und lächelte verführerisch.

Boris seufzte frustriert. „Das gefällt mir nicht.“

„Mir auch nicht. Ich werde dich entsetzlich vermissen.“ Sie schlang die Arme um ihn und gab ihm einen innigen Kuss. „Aber es ist besser so. Ich hoffe, du verstehst das.“

Er seufzte erneut und wiegte den Kopf. „Ja, klar. Aber es gefällt mir trotzdem nicht. Wann sehen wir uns denn wieder?“

„Sobald die Beerdigung vorbei ist. Und wenn die Presse Daniels Tod und mich nicht mehr durchhechelt. Erst muss ein wenig Gras über die ganze Sache gewachsen sein. Ich schätze, das wird so vier bis sechs Wochen dauern. Dann ist alles geregelt. Spätestens.“ Sie strich ihm federzart über die Wange. „Ich kann es kaum erwarten.“

Er umarmte sie wieder, küsste sie und seufzte ein drittes Mal. „Ich auch nicht. Und zum Glück können wir ja telefonieren.“

Sie nickte lächelnd. Er stand auf und ging ins Bad. Clio ließ sich zurück aufs Kissen fallen und schwelgte in dem wunderbaren Gefühl, eine reiche Frau zu sein. Was musste sie eigentlich tun, um an das Erbe zu kommen? Darum würde sie sich als Nächstes kümmern. Boris war sie erst mal für eine Weile los. Bis er begreifen würde, dass sie nicht vorhatte, ihn jemals zu heiraten, hatte sie Ruhe. Er konnte doch nicht ernsthaft geglaubt haben, sie würde ihn weiterhin aushalten. Er war nur Mittel zum Zweck gewesen, in das sie investiert hatte, solange sie ihn brauchte. Jetzt war er nicht mehr von Nutzen. Sobald er das erkannt hatte, würde er die Beziehung, die für sie bereits nicht mehr existierte, von selbst beenden.

Sie lächelte zufrieden und ging in Gedanken durch, was sie alles mit Daniels Geld anfangen würde. Nein, korrigierte sie sich, mit ihrem Geld!

*


„Tot?“ Enno Brockstein blickte von Simona zu Gisbo. „Wie – tot?“

Brockstein junior wohnte in einer Eigentumswohnung in Melverode. Die hatte zwar nur ein großes Zimmer, dafür vom Balkon einen Blick auf den Südsee. Das Zimmer wurde von einem Mini-Fitnessstudio dominiert, das in Form aller möglichen Geräte einschließlich einer Sprossenwand die Hälfte des Raums einnahm. Die Geräte wirkten jedoch nur wenig abgenutzt und hatten teilweise eine leichte Staubschicht angesetzt. Nicht nur die Hantelbank diente als Ablage für Kleidungsstücke, die dort wohl schon seit Monaten herumlagen, denn unter T-Shirts, Pullovern und einer Jeans lugten schwarze Fingerhandschuhe aus dem Haufen hervor, auf deren Handrücken ein neongrüner Blitz prangte. Da Hochsommer war, hatte Enno Brockstein sie garantiert seit mindestens März nicht mehr benutzt.

Insgesamt erweckte der junge Mann nicht den Eindruck, als wäre er sehr diszipliniert und würde regelmäßig an Sportgeräten gleich welcher Art trainieren. Stattdessen sah Enno Brockstein übernächtigt aus und hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich vollständig anzuziehen oder gar zu kämmen. Er trug nur eine Jogginghose und ein Unterhemd und ging barfuß. Immerhin hatte er Simona und Gisbo einen Platz angeboten.

„Ihr Vater ist auf der Bühne zusammengebrochen, möglicherweise infolge einer Vergiftung“, sagte Gisbo. „Näheres wird die Obduktion ergeben.“

„Vergiftung“, wiederholte Enno Brockstein in einem Tonfall, als müsste er überlegen, was das Wort bedeutete. „Soll das heißen, jemand hat ihn umgebracht?“

Schon zum zweiten Mal vermutete ein Angehöriger, dass Brockstein einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Normalerweise dachten die Leute, wenn sie etwas von Vergiftung hörten, an verdorbene oder durch den Hersteller mit Gift versehentlich verunreinigte Lebensmittel oder einen Haushaltsunfall mit Chemikalien; bei Kindern als Opfer häufig auch an das Essen von Giftpflanzen aus dem Garten oder dem Wald. Allerdings wunderte es Simona auf den zweiten Blick nicht, dass bei dem Überangebot von Krimis im Fernsehen der Gedanke an ein Verbrechen als Todesursache immer häufiger auch in der Realität aufkam.

„Hätte Ihrer Meinung nach jemand einen Grund, Ihren Vater absichtlich zu vergiften?“, hakte Simona nach.

Enno nickte. „Die Schnepfe vom Theater. Mit der hatte er mal was. Die war mordsmäßig sauer, als er sie für Clio hat sitzen lassen.“ Er schnaubte verächtlich, „Klar, Clio ist eine Klasse für sich, gegen die die Schnepfe nicht anstinken kann. Aber das hat sie nicht daran gehindert, meinen Vater immer noch zu belästigen. Darum hat er ja nicht mehr so oft hier in Braunschweig gespielt.“

„Von welcher Schnepfe sprechen wir bitte?“

„Melanie Löwe.“

„Und die hatte ein Verhältnis mit Ihrem Vater?“, vergewisserte sich Simona. Falls das stimmte, erklärte das ihre Tränen umso mehr.

Enno Brockstein nickte. „Sie hat sogar vorübergehend in seinem Haus gewohnt. Wie gesagt, bis Clio kam.“ Er verzog das Gesicht. „Welcher Mann will schon eine alte Vierzigjährige mit Militärhaarschnitt, wenn er eine Sahneschnitte wie Clio haben kann.“

Irgendetwas hatte Brockstein offenbar an ihr gefallen, falls das mit dem Verhältnis stimmte. Ein Schauspieler, dem die Frauen zu Füßen lagen und der sich die schönsten von ihnen hatte aussuchen können, den musste an einer eher burschikosen Frau wie Melanie Löwe etwas anderes als Schönheit angezogen haben.

„Ihre Stiefmutter hat behauptet, Sie könnten sie nicht ausstehen“, wagte Gisbo einen Vorstoß. Ihm war also auch aufgefallen, dass man die Bezeichnung „Sahneschnitte“ nicht für jemanden wählen würde, den man nicht leiden konnte.

Enno Brockstein verzog das Gesicht. „Nennen Sie die bitte nicht meine Stiefmutter. Die ist ja noch jünger als ich. Und ja, ich mag sie nicht besonders, weil sie sich meinem Vater nur an den Hals geschmissen hat, um sich in seinem Ruhm zu sonnen und davon zu profitieren. Sie hat gehofft, wenn sie mit dem großen Daniel Brockstein verheiratet ist, verhilft ihr allein schon sein Name zu Engagements. Ich glaube, sie hat auch darauf spekuliert, dass er ihr welche gibt oder sich bei den Filmproduzenten für sie verwendet. Das hat er aber nicht getan. Und daraufhin hat sie angefangen, ihn zu betrügen. Das Miststück.“

Enno Brockstein stützte die Unterarme auf die Knie, starrte ins Leere und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht fassen, dass mein Vater tot ist. Er war doch so lebendig, so ...“ Erneutes Kopfschütteln, ehe er Gisbo und Simona eindringlich ansah. „Finden Sie den, der dafür verantwortlich ist. Bitte.“

„Das haben wir vor“, versicherte Gisbo. „Fassen Sie die Frage bitte nicht falsch auf, aber gibt es einen Grund, weshalb Ihr Vater sich umgebracht haben könnte?“

Enno Brockstein starrte ihn an. Mehrere Sekunden lang. Dann schüttelte er den Kopf und wiegte ihn gleich darauf hin und her. „Also eigentlich gibt es dafür keinen Grund.“

„Und uneigentlich?“, fragte Simona.

„Na ja, wie ich schon sagte, hat Clio ihn permanent betrogen. Mein Vater hat schon zwei Ehen hinter sich. Er hat sehr an Clio gehangen. Vielleicht hat er ihre Untreue nicht mehr ausgehalten. Und bevor er noch eine Trennung durchsteht, hat er sich vielleicht gedacht, dass er lieber freiwillig aus dem Leben scheidet. Meine Stiefmutter – also seine zweite Frau – hat ihn nach der Scheidung nämlich kräftig geschröpft. Das hat ihn sehr mitgenommen. Und nicht nur das.“ Er überlegte, ehe er den Kopf schüttelte. „Dass er sich umbringt, passt eigentlich nicht zu ihm.“ Wieder dachte er nach. „Aber dieser Theaterfuzzi – Haak – der hatte auch einen Rochus auf ihn.“

Simona notierte das. „Weswegen?“

„Der hat meinen Vater ständig angepumpt. Und der wiederum hat ihm oft unter die Arme gegriffen. Fragen Sie mich nicht warum. Aber Haak hat den Hals nicht vollgekriegt, und mein Vater hat ihm kürzlich den Geldhahn zugedreht. Daraufhin ist Haak ziemlich ausfallend geworden.“

Falls das stimmte, bestätigte das Simonas Eindruck, dass man Schauspielern nicht trauen durfte, weil sie auch im realen Leben nicht aufhörten zu schauspielern. „Das wissen Sie woher?“

„Ich war gerade zu einem Besuch bei meinem Vater, als Haak ihn angerufen hat. Das Gespräch wurde ziemlich schnell heftig.“ Er runzelte die Stirn. „Wenn ich mich recht erinnere, hat Haak ihm wohl gedroht. Jedenfalls hat mein Vater ihn angeschnauzt, dass er sich nicht erpressen lässt und Haak keinen Cent mehr bekommt. Dann hat er das Gespräch beendet.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber deswegen bringt man doch niemanden um. Oder?“

Simona hatte schon Tötungsdelikte bearbeitet, bei denen die Opfer für ein paar lumpige Euro ermordet worden waren, die nicht mal ausreichten, ein Essen in einem Restaurant zu bezahlen. Und wenn jede verschmähte Geliebte ihren Ex-Lover umbringen würde, gäbe es nur noch halb so viele Männer auf der Welt. „Wann war das?“

Wieder dachte Enno Brockstein eine Weile nach. „Vor zwei Wochen. Am Tag bevor ich nach Rom geflogen bin. Kurzurlaub. Ich hatte ihn besucht, um mich zu verabschieden. Ich bin letzte Nacht erst zurückgekommen.“

Deshalb sein übernächtigtes Aussehen. Simona hätte zwei Wochen allerdings nicht als Kurzurlaub bezeichnet. „Was machen Sie beruflich, Herr Brockstein?“

„Ich bin Musiker. In einer Band. Rock ’n’ Roll.“

Offenbar erfolgreich genug, um davon zu leben, wenn er sich diese kleine, aber sicherlich nicht billige Studiowohnung in bester Lage leisten konnte. Simona blätterte in ihrem Notizbuch und las sich durch, was sie vorhin bei Clio Brockstein aufgeschrieben hatte. Obwohl noch lange nicht feststand, ob es sich bei Brocksteins Vergiftung um Fremdverschulden handelte, hatten beide Angehörige jemanden genannt, der möglicherweise ein Motiv hatte, den Schauspieler umzubringen. Wie es aussah, war der große Brockstein nicht bei allen beliebt gewesen. Damit wurde Mord immer wahrscheinlicher.

„Danke, Herr Brockstein.“ Simona stand auf, Gisbo ebenfalls. „Wir finden allein hinaus. Auf Wiedersehen.“

Enno Brockstein nahm das Angebot, sitzen zu bleiben, dankbar an und sah ihnen lediglich nach.

*


„Was hältst du davon?“, fragte Gisbo, als sie im Wagen saßen und zum Präsidium fuhren.

Sie seufzte. „Das Einzige, was wir bisher sicher wissen, ist, dass Brockstein auf der Bühne gestorben ist und ein Verdacht auf Fremdverschulden im Raum steht. Alles andere wäre Spekulation. Und davon haben uns die bisher Befragten schon mehr als genug geliefert. Warten wir ab, was die Obduktion ergibt.“ Der sie und Gisbo wie bei allen ihren Fällen beiwohnen würden, obwohl sie dafür nach Göttingen fahren mussten.

Schade, dass man „Mit dir kann man auch sonst nicht allzu viel anfangen“ nicht mit dem Skalpell aus ihrem Kopf entfernen konnte.

*


Staatsanwalt Wolf Hengest wirkte nicht sehr begeistert, als er Simona und Gisbo begrüßte. Nicht dass er nicht gern mit ihnen zusammenarbeitete. Aber er fühlte sich angesichts dessen, was ihm nun bevorstand, sichtbar unwohl. Manche Menschen steckten das schwerer weg als andere.

Dr. Krone erwartete sie bereits zusammen mit zwei Assistenten. „Guten Tag, die Herrschaften. Und Damschaften“, begrüßte er sie und lächelte Simona zu. Heute hatte er erheblich bessere Laune als gestern Abend. „Ich habe mir bereits erlaubt, eine toxikologische Untersuchung machen zu lassen. Das Ergebnis müsste jede Minute vorliegen. Dann wollen wir mal. Herr Siebert, Sie öffnen den Kopf. Frau Nemet, Sie übernehmen den Bauch. Ich kümmere mich um die Brust.“

Simona, Gisbo und Hengest stellten sich in die „zweite Reihe“, um den dreien beim Obduzieren nicht im Weg zu sein, aber so, dass sie die Vorgänge gut beobachten konnten. Simona und Gisbo hatten bereits eine gewisse Routine entwickelt. Für Hengest war es wohl das erste Mal, denn obwohl er wie sie alle einen Schutzkittel trug und sich einen Geruchshemmer unter die Nasenlöcher geschmiert hatte, merkte man ihm an, wie flau ihm war. Als Siebert, der ebenso wie Nemet im letzten Semester Medizin studierte, den Skalp über das Gesicht klappte und die Schädelsäge ansetzte, blickte Hengest zur Seite. Als Nemet den Bauchraum öffnete und sich der Gestank des Innenlebens eines Menschen trotz des Geruchshemmers deutlich bemerkbar machte, wurde er bleich. Als Dr. Krone wenig später die Rippenschere ansetzte und das Knacken der durchtrennten Knochen ertönte, hastete Hengest würgend mit einer gemurmelten Entschuldigung hinaus.

Dr. Krone blickte ihm kurz nach. „Er gewöhnt sich schon noch dran“, meinte er.

Das konnte Simona bestätigen, denn als sie ihrer ersten Obduktion beigewohnt hatte, war es ihr ähnlich ergangen. Da sie aber die einzige Frau unter einem Haufen Männern gewesen war, hatte sie ihre gesamte Selbstbeherrschung aufgewendet, um nicht wie Hengest zu reagieren. Und so hatte sie es geschafft, das große Kotzen bis zu dem Zeitpunkt hinauszuzögern, als alles vorbei war und sie Blasendruck glaubhaft als Grund anführen konnte, die Toilette aufzusuchen.

Simona beobachtete die Arbeit und machte sich Notizen zu den Dingen, die Dr. Krone in das über dem Obduziertisch angebrachte Mikrofon sprach. So zeichnete er seinen mündlichen Bericht für die spätere Abschrift durch die Sekretärin auf. Was er jedoch entdeckte, als er die inneren Organe untersuchte, veranlasste ihn zu einer mitfühlenden Bemerkung.

„Der arme Kerl. Da hätte es das Gift nicht mehr gebraucht.“ Er winkte Simona und Gisbo näher und hielt ihnen die Leber hin. „Sehen Sie das?“ Er deutete auf eine Reihe weißlicher Knubbel an dem Organ.

„Fett?“, vermutete Gisbo.

„Krebs.“ Er schnitt die Leber auf einem Seitentisch auf und betrachtete die Schnittfläche. „Die ganze Leber ist zerfressen. Mit Sicherheit finden wir auch in den Nachbarorganen Karzinome. Der Mann war todkrank.“

Das sprach für die Selbstmordtheorie. Bei diesem Stadium der Erkrankung musste Brockstein höllische Schmerzen gelitten haben. Wie hatte er die nur ausgehalten? Er wäre aber in Anbetracht dessen nicht der erste Todkranke, der sein Ende selbst herbeiführte, ehe er unter menschenunwürdigen Umständen und unmenschlichen Schmerzen starb. Dazu passte auch Melanie Löwes Äußerung, dass es für einen Schauspieler keinen schöneren Tod gab, als auf der Bühne zu sterben. Simona notierte das und lauschte weiter Dr. Krones Ausführungen.

Die Obduktion war nach knapp zwei Stunden beendet. Inzwischen war auch das Ergebnis der toxikologischen Untersuchung hereingereicht worden. Krone bat Simona und Gisbo in sein Büro, nachdem er Kittel und Handschuhe ausgezogen und sich die Hände gewaschen hatte. Hengest hatte die Zeit vor der Tür des Obduktionssaals verbracht. Er wirkte verlegen.

„Ich bitte um Entschuldigung, dass ich gekniffen habe. Aber ...“

„Kein Problem“, unterbrach Krone. „Damit befinden Sie sich in bester Gesellschaft. Sogar Medizinstudenten kneifen oder kippen gleich um, wenn sie zum ersten Mal einer Obduktion beiwohnen. Manche auch noch beim zweiten und dritten Mal. Aber spätestens beim vierten Mal halten sie durch. Das ist, wie so vieles, Gewöhnungssache. Vertragen Sie einen Kaffee? Oder lieber ein Mineralwasser?“

„Wasser bitte.“

„Kaffee“, entschied Gisbo, der die Einladung selbstverständlich auf sich und Simona ausdehnte.

In seinem Büro bat Krone sie, Platz zu nehmen, und servierte ihnen die gewünschten Getränke, ehe er sich hinter seinen Schreibtisch setzte und den Bericht des toxikologischen Gutachtens studierte. Simona und Gisbo tranken inzwischen ihren Kaffee und Hengest sein Mineralwasser.

„Also, verstorben ist Herr Brockstein an akuter Vergiftung mit Nikotinextrakt, das ihm oral verabreicht wurde, wie eindeutige Verätzungen im Mund- und Rachenbereich belegen“, resümierte Krone den Bericht. „Der Mann hatte die dreifache Menge der für einen Erwachsenen normalerweise tödlichen Dosis im Magen und nicht die geringste Chance zu überleben.“

„Also handelt es sich um Mord?“, vergewisserte sich Hengest.

Krone schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gesagt. Der Mann hatte Leberkrebs im Endstadium. Er wäre in ein paar Wochen sowieso gestorben. Leberkrebs ist tückisch. Man bemerkt ihn meistens erst, wenn es zu spät ist. Lange Zeit hat man überhaupt keine Symptome, dann nur diffuse Bauchschmerzen, die die meisten Erkrankten als Magenbeschwerden interpretieren oder der Galle die Schuld geben. Sie gehen erst zum Arzt, wenn es schmerzhaft wird, aber dann ist der Krebs oft schon so weit fortgeschritten, dass eine Heilung nicht mehr möglich ist. Bei Herrn Brockstein hatte der Krebs bereits gestreut und die umliegenden Organe befallen. Absolut inoperabel. Dass er überhaupt noch auf der Bühne stehen und spielen konnte, wundert mich, ehrlich gesagt. Aber auch wieder nicht, denn in seinem Blut war auch eine hohe Konzentration von Schmerzmitteln.“

Er blickte vom Bericht auf. „Sie sagten, er sei bei der letzten Vorstellung gestorben, in einem Stück, in dem die Figur, die er verkörperte, an eben der Stelle stirbt?“ Krone wiegte den Kopf. „Das sieht mir nach Selbstmord aus, um einen würdigen Abgang zu machen. Aber das herauszufinden, ist Ihre Aufgabe. Ich kann nur sagen, dass er das Gift zusammen mit genug hochprozentigem Rum zu sich genommen hat. Wenn er es in einem Zug gekippt hat, hat er wahrscheinlich erst was davon mitbekommen, als das Zeug schon in seinem Magen war und zu wirken begann. Ob er wusste, dass sein letzter Drink vergiftet war, kann ich nicht sagen. Angesichts seiner Krankheit ist das zumindest nicht auszuschließen.“

„Was ist mit seinem Herzen?“, fragte Simona. „Seine Witwe hat angedeutet, er hätte ein schwaches Herz.“

Krone blickte sie strafend an. „Wenn Sie mir vorhin aufmerksam zugehört hätten, wäre Ihnen nicht entgangen, was ich diktiert habe: Das Herz weist keine krankhafte Veränderung auf.“

Simona sah ihn zerknirscht an. Er hatte Recht. Ihre Gedanken waren wieder einmal von Antonios verletzenden Worten abgelenkt worden. „Verzeihen Sie mir, Doktor. Aus demselben Grund habe ich auch nicht mitbekommen, ob Sie Anzeichen für Alkoholmissbrauch gefunden haben. Auch den hat die Witwe angedeutet.“

Krone schüttelte den Kopf. „Zwar wird Leberkrebs zu über achtzig Prozent durch Zirrhose ausgelöst, die ihre Ursache in Alkoholmissbrauch hat, aber darauf deutet nichts hin. Herr Brockstein litt unter Hämochromatose, einem angeborenen Gendefekt, durch den der Körper zu viel Eisen speichert, wodurch die Organe, besonders die Leber geschädigt werden. Wenn jemand diese Veranlagung in sich trägt, dann treten die Krankheitssymptome zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Lebensjahr auf, von Ausnahmen abgesehen. Herr Brockstein war sozusagen im passenden Alter. Alkoholmissbrauch: ein klares Nein. Er hat vielleicht gern mal einen getrunken, vielleicht auch regelmäßig, aber nicht bis zum Stadium des Missbrauchs.“

„Noch mal klar und eindeutig, Doktor“, bat Hengest. „Hat der Mann Selbstmord begangen oder nicht?“

Dr. Krone lächelte liebenswürdig. „Klar und eindeutig: vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie ich schon sagte, ist sowohl das eine wie auch das andere möglich. Vom rein medizinischen Standpunkt aus kann ich keines von beiden ausschließen. Von der Logik her spricht aber mehr für einen Selbstmord. Denn welcher Mörder würde einen Todkranken umbringen, bei dem er nur noch ein paar Wochen Geduld haben müsste, bis das Opfer an seiner Krankheit stirbt?“

„Ein Mörder, der es eilig hat“, antwortete Gisbo.

„Ein Mörder, der gar nicht weiß, dass sein Opfer todkrank ist“, ergänzte Hengest und warf Simona einen Blick zu, als müsste sie eine dritte Möglichkeit nennen.

Ihr fiel spontan keine ein. Deshalb nickte sie. „Dazu würde passen, was die Witwe angedeutet hat. Der Rum, den Brockstein wohl ausschließlich getrunken hat, trägt seinen Namen, und er hat sich angeblich mit dem Hersteller wegen der weiteren Verwendung des Namens überworfen. Da der Hersteller ihm jeden Monat seine Ration geschickt hat, hätte zum Beispiel er den Rum vergiften können, denn ein toter Brockstein kann einen bestehenden Vertrag nicht mehr aufkündigen. Und ich vermute, dass Brockstein wohl kaum seinem Rumlieferanten gesagt hat, dass er todkrank ist.“

Dr. Krone winkte ab. „Das herauszufinden, ist nicht mein Metier.“

Hengest nickte Simona und Gisbo zu. „Sondern Ihres. Machen Sie sich an die Arbeit. Solange wir einen Selbstmord nicht zweifelsfrei nachweisen können, gehen wir von Mord aus. Überprüfen Sie den Rumhersteller und halten Sie mich auf dem Laufenden. Wiedersehen allerseits.“

*


Auf der Rückfahrt nach Braunschweig hatte Simona genug Zeit, den Fall zu überdenken. Während Gisbo den Wagen steuerte, ging sie ihre Notizen durch und stellte fest, dass es einige Ungereimtheiten gab. Würde ein Rumhersteller jemanden mit seinem eigenen Rum vergiften? Das gäbe verdammt schlechte Publicity und vor allem Verkaufseinbrüche, sobald bekannt würde, dass in einer Flasche Gift gewesen war. Selbst wenn man dem Hersteller oder einem seiner Angestellten nichts beweisen könnte, schnitt die Firma sich damit ins eigene Fleisch. Es würde dauern, bis der Gifttod in Vergessenheit geraten wäre, besonders wenn er mit einem so berühmten Namen wie Brockstein verknüpft war.

Aber auch das Verhalten von Clio Brockstein kam Simona seltsam vor, nicht nur wegen der mangelnden Trauer. Ihre erste Reaktion darauf, dass die Polizei mit ihr über den Tod ihres Mannes sprechen wollte, war die Überlegung gewesen, ob er an übermäßigem Alkoholgenuss infolge eines schwachen Herzens, das gar keine Schwäche aufwies, gestorben sei. Nicht, ob er infolge seiner Krankheit gestorben sei. Überhaupt hatte sie seine Krankheit nicht erwähnt. Stattdessen hatte sie als zweite Möglichkeit eine Vergiftung durch den Rumhersteller in Betracht gezogen, statt wegen der Krankheit auf Selbstmord zu tippen. Seltsam. Aber darauf würden sie im Laufe der Ermittlungen wahrscheinlich eine Antwort finden.

Gisbo schaltete das Radio ein. Auf NDR KULTUR lief ein Musical-Potpourri. Eine Sängerin, die Eliza Doolittle aus „My Fair Lady“ verkörperte, schmetterte: „I could have danced all night, I could have danced all night ...“ Es klang so fröhlich und glücklich, dass Simona sich brennend wünschte, ebenfalls in einer Stimmung zu sein, die sie tanzen ließ, wenn schon nicht die ganze Nacht hindurch, dann doch wenigstens einen einzigen Tanz. Oder zwei. Sie rief sich energisch zur Ordnung. Antonio war Geschichte und hatte sich als mieses Schwein entpuppt. Er war es nicht wert, dass sie auch nur eine Sekunde länger Trübsal blies.

Ihre Mutter hatte in ähnlichen Situationen immer ganz pragmatisch reagiert. Nach einem ausgiebigen Anfall von Wut und Trauer, der zumindest nach außen hin nie länger als eine Stunde gedauert hatte, hatte sie sich mit einem Augenzwinkern daran erinnert, dass auch andere Mütter schöne und vor allem nette Söhne hatten, und sich ein paar Tage, höchstens zwei Wochen später auf die Suche nach einem von ihnen gemacht. Simona beschloss, es ihr gleichzutun, sobald der Fall Brockstein abgeschlossen war.

Brocksteins letzter Vorhang

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