Читать книгу Hier keine Kunst - Marc Degens - Страница 6

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Vielen Dank, daß Sie dieses Buch gekauft haben. Ich kann mir schon ausmalen, wie viel Überwindung es Sie gekostet hat, für das Romandebüt eines unbekannten und dazu auch noch deutschsprachigen Schriftstellers auf einen Schlag so viel Geld auszugeben. Sie standen in der kleinen, engen Kellerbuchhandlung vor dem Tisch mit den Neuerscheinungen, und der Vollbart hinter dem Tresen beäugte Sie mißtrauisch. Er nahm seine Brille ab, putzte sie, doch seine Maulwurfblicke klebten an Ihnen wie die vier Tapetenschichten an der Küchenwand. Sie hatten Angst, daß er gleich seine Stimme erhebt, Sie anspricht und unverbindlich berät. Seine Meinung kundtut und Urteile fällt, weil er all die Bücher hier gelesen hat und es einfach loswerden muß: Dieses ist gut … Jenes ist schlecht … Das da geht so. Aber nein, natürlich konnte er nicht all die vielen Bücher hier gelesen haben, das geht schon rein zeittechnisch gar nicht. Sollte er Sie trotzdem angesprochen haben, dann bloß deshalb, um Sie besser beobachten und unauffälliger kontrollieren zu können. Seien Sie ihm aber bitte nicht böse, er meint es nicht persönlich, vielmehr kennt er seine Kundschaft. All die bildungsbürgerlichen Bücherwürmer und verkopften Leseratten, immer schön etepetete und ach so kultiviert. Doch wehe, der Vollbart gibt einen Moment nicht acht, zum Beispiel weil das Telefon klingelt oder die Computerkasse spinnt, schon verschwindet der Umbrien-Reiseführer in der Handtasche oder der Helmut-Newton-Fotoband im Mantelinneren. Bevor die Dame oder der Herr gehen, kaufen sie noch ein billiges Krimitaschenbuch oder ein Mängelexemplar aus der Grabbelkiste, für das der Vollbart eigens eine Quittung ausstellen muß: Fachliteratur. Der Buchhändler hat wirklich allen Grund, derart branchenkrisig aus der Wäsche zu gucken. Oder er will bloß eine rauchen.

Jedenfalls fühlten Sie sich bedrängt und auch ein wenig verpflichtet, und so wogen und wendeten Sie das eingeschweißte Buch gewissenhaft in ihren Händen, lasen den Klappentext: Ein nahezu perfektes Debüt … Mitreißende Geschichte … Doppelbödige Spannung … Voll zärtlicher Bosheit … Rasante Prosa … Virtuose Sprache … Präzise erzählt mit Lust am Detail … Schnoddrig, schwermütig, scharfsinnig … Sexy, witzig, weltgewandt … Sätze, die tief ins Dekolleté der Großstadt schauen … Eigensinnig beobachtet … Farbige Episoden … Utopischer Vielklang … Stimmungsvolle Phantastik … Psychologisch verschlungen mit einer Portion Selbstironie … Erstaunliche Wärme … Verblüffende Wendungen … Lebendiger Rhythmus … Glaubhafte Dialoge … Frisch und kraftvoll … Mutig, poetisch, klar … Elegant, stark, unverwechselbar … Die deutsche Antwort auf. Doch fünfzig Mark sind eine Menge Holz. Im Lebensmitteldiscounter bekommt man dafür drei bis oben hin gefüllte Plastiktüten, inklusive Zigaretten und Kaffee, und im Winterschlußverkauf vielleicht einen schicken, warmen Wollpullover, an dem hat man jahrelang Freude. Oder verwöhnen Sie sich: Gehen Sie in die Sauna, anschließend ins Kino und köpfen Sie daheim vor dem Zubettgehen noch eine Flasche Prosecco. In literarischer Währung sind fünfzig Mark gar ein kleines Vermögen. Zehn Zentimeter Hermann Hesse, fünfzehn Zentimeter Heinrich Böll, bestimmt sogar zwanzig Zentimeter Thomas Mann bekommt man dafür – und diese Herren sind durch die Bank Nobelpreisträger. Macht also unsere Bücher billiger. Na klar, ich unterstütze diesen Plan, doch es ist nur ein frommer Wunsch, denn bitte versetzen Sie sich einmal in meine Lage. Letzten Monat war der Abfluß in der Küche kaputt, das Spülwasser wollte nicht abfließen, Mutter probierte wirklich alles aus. Sie kippte einen Liter Chemiereiniger in das Becken, versenkte ein Stoßgebet nach dem anderen im Himmel und hantierte stundenlang mit dem Saugpümpel herum – dieser an einem Holzstab befestigten roten Gummiglocke, die man ansonsten zum Dämpfen von Trompeten benutzt. Doch alle Mühen waren umsonst, Mutter mußte den Installateur kommen lassen. Und der kam zehn Tage später endlich auch, trank einen Eimer Kaffee, hantierte eine halbe Stunde unter der Spüle herum und verlangte dafür am Schluß sage und schreibe einhundertfünfzig Deutsche Mark ohne An- und Abfahrt. Wieviel Stunden werde ich dagegen für diesen Roman aufgewendet haben? Unzählige … Ich tippe hundert. Und im Gegenzug erhalte ich von Ihnen fünfzig Mark. Das macht fünfzig Pfennig pro Stunde! Dafür würde der Installateur noch nicht einmal seine Tasse heben. Um also eine Handwerkerstundezu bezahlen, müßte ich drei komplette Romane schreiben. Trotzdem möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal bei Ihnen für den Kauf dieses Buches bedanken, denn ginge es mir nur ums Geld, dann wäre ich Scheich oder Spice Girl geworden. Jetzt wird es aber Zeit, daß ich mich vorstelle, schließlich wurde ich gut erzogen.

Meinen Namen kennen Sie bereits, man kann ihn sich nicht aussuchen, es ist der auf dem Umschlag. Ich bin ledig, zweiunddreißig Jahre jung und beruflich … Sagen wir es so: ungebunden. Ich bin in einer westdeutschen Kleinstadt geboren und aufgewachsen, in der ich bis gestern noch lebte, und habe ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen, das ist genetisch bedingt. Ansonsten aber geht es mir prächtig, und mein Äußeres hat, ohne mir schmeicheln zu wollen, nichts Abstoßendes. Wie gesagt wohne ich seit gestern aber nicht mehr in meiner Heimatstadt, sondern in Berlin, dem finsteren Moloch, der pulsierenden Spreemetropole, Deutschlands Herzkammer. Und was soll ich sagen? In Berlin herrscht ein anderes Klima, es ist tierisch kalt hier, selbst in der Wohnung, die Scheiben sind beschlagen, und mein Atem dampft … Angeblich ein typischer Januartag für Berliner Verhältnisse. Warum ich hier hingezogen bin, ist ebenfalls rasch erzählt. Vor nicht einmal achtundvierzig Stunden faßte ich den Entschluß, Schriftsteller zu werden. Neues Jahrtausend, neues Glück. Eine Münze gab den Ausschlag, die Alternative hieß Verbrecher. Ich bin froh, daß es so gekommen ist, obwohl mir bewußt war, daß die Entscheidung eine Vielzahl persönlicher Veränderungen mit sich bringen würde. Denn als Schriftsteller wandelt sich unweigerlich der Blick auf die Umwelt, er wird schärfer, fokussierter, man beobachtet genauer und hält ständig Ausschau nach lohnenswerten Geschichten. Aus diesem Grund hielt ich es für ratsam, meinen geistigen gleich mit einem räumlichen Wechsel zu verbinden und die Gelegenheit beim Schopf zu packen und alte Zöpfe abzuschneiden. Meine Eltern sind zwar eigentlich recht angenehme Mitbewohner, doch nach ihrem Tod werde ich noch genug Zeit in ihrer Doppelhaushälfte zubringen.

Mein Entschluß, nach Berlin überzusiedeln, ist gleichfalls das Resultat künstlerischer Überlegungen. Ich möchte hier einen Roman abfassen, den alle Menschen auf der ganzen Welt verstehen können. Der verfilmbar ist, global, umfassend und universal, etwa so wie das Internet. Ein Werk, das eine klare Geschichte erzählt: Klug und gewandt, flüssig und einfach, spannend und unterhaltsam. Ich bin fest davon überzeugt, daß mir die Weltstadt Berlin dabei helfen wird. Natürlich hätte ich auch nach New York ziehen können, nach Buenos Aires, Barcelona oder Tokio. Für den Anfang hielt ich es allerdings für ratsamer, mich in einer deutschsprachigen Metropole niederzulassen. So schrumpfte sich die Auswahl rasch gesund, und außerdem wohnt in Berlin mein alter Schulkamerad Stefan Weber. Der lange Stefan, ein ungemein netter Zeitgenosse. Mehr kann ich im Grunde auch nicht über ihn sagen, denn der lange Stefan war zwei Klassen über mir, und deshalb hatten wir kaum Kontakt miteinander, eigentlich gar keinen. Doch meine Heimatstadt ist ein Dorf, und so drang auch an mein Ohr die Nachricht, daß der lange Stefan geheiratet hat und noch vor der Wiedervereinigung in die Mauerstadt gezogen ist, um sich auf diese Weise seiner Vaterlandspflicht zu entledigen. Kurzentschlossen rief ich vorgestern die Telefonauskunft an und ließ mir siebzehn Berliner Rufnummern diktieren. Schon bei der ersten hatte ich Glück. Der lange Stefan konnte sich zwar nur noch schemenhaft an mich erinnern, was nach so vielen Jahren auch nicht überraschte, doch nachdem ich seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen und mich als der kleine dicke Junge mit Brille und Augenpflaster zu erkennen gegeben hatte, schien es, als hätte jemand die Uhr zurückgedreht. Der lange Stefan freute sich sehr, daß ich mich bei ihm gemeldet hatte, und fand es eine prima Idee, wenn ich ihn in Berlin besuchen käme. Er sah auch überhaupt kein Problem darin, wenn ich übergangsweise, bis ich eine eigene Bude gefunden hätte, bei ihm wohnen würde … Gesprächsstoff sei ja zur Genüge vorhanden. Der lange Stefan gab mir seine Adresse und eine kurze Wegbeschreibung, insgesamt dauerte das Gespräch nicht länger als fünf Minuten. Nachdem ich aufgelegt hatte, holte ich meinen Koffer vom Dachboden, packte ihn und überbrachte meinen Eltern die frohe Kunde. Ich bin ein Berliner. Schon morgen.

Wider Erwarten nahmen Vater und Mutter die Neuigkeit ausgesprochen tapfer entgegen, ich hatte es mir schwerer vorgestellt. Meine Eltern sind alte Leute, und ich bin ihr einziger Sproß. Doch es flossen keine Tränen, es fielen auch keine bösen Worte. Mutter schien sich sogar ein bißchen für mich zu freuen – jedenfalls witzelte sie die ganze Zeit über albern und töricht herum. Ha ha, der Junge wird flügge, Vögel müssen ziehen, einen Fluß kann man nicht aufhalten. Das ist ihre Art, mit Schmerzen umzugehen. Vater wollte wissen, wann genau ich am anderen Tag abreise. Danach rief er Großmutter an und berichtete ihr, daß mein Zimmer frei werde und sie bereits am nächsten Nachmittag einziehen könne. Obwohl ich wußte, daß der Frohsinn meiner Eltern bloß gespielt war, war ich erleichtert.

Die letzte Nacht in meinem Elternhaus war traumlos – wie unter einem Schleier verlebte ich die restlichen Stunden. Am anderen Morgen konnte ich mich nicht mehr von Mutter verabschieden, da sie in aller Herrgottsfrühe einen Termin beim Radiologen wahrnehmen mußte. Vater richtete mir ihre Grüße und Wünsche aus, toi, toi, toi, Hals- und Beinbruch. Ich solle mich ruhig einmal melden. Ohne Koffein, da weder Vater noch ich wußten, wie man die Kaffeemaschine bedient, fuhr mich Vater mit dem Kadett zum Bahnhof. Der Morgen verdämmerte, ich löste eine Fahrkarte, stieg in den Zug, lief in den Speisewagen und bestellte ein Bier. Am Tisch gegenüber saß ein grauer Anzugträger und spielte mit seinem Schoßcomputer. Und plötzlich erschien sie, stand vor mir und lächelte mich an: Meine Romanidee! Sie nahm Platz, ich lud sie zu einem weiteren Pils ein, und wie aus dem Nichts bildeten sich Buchstaben, Worte, Seiten … Dieses Werk inklusive Titel: …

Hier keine Kunst

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