Читать книгу Hier keine Kunst - Marc Degens - Страница 7
ОглавлениеDIE SCHWARZE WELT
Zehn. Die Erde ist ein in Brand gestecktes, nach und nach verglimmendes Zündholz. Neun. Ohne Eile breitet sich die Feuersbrunst aus. Acht. Der Kopf schnürt sich zusammen, welkt und schrumpelt. Knisternd, Millimeter für Millimeter. Sieben. Die ersten Feuerwerksraketen zerbersten strahlend und lauthals in der klirrend kalten Nacht. Sechs. Robert schaut auf die Fernsehuhr und zählt die verrinnenden Sekunden innerlich mit. Fünf. Er greift das verkohlte Streichholzende, es ist noch heiß. Vier. Zwischen zwei Fingerspitzen hält Robert eine sterbende Welt. Drei. Alles wird ein Raub der Flammen, lodert auf, lichterloh, und vergeht. Zwei. Zurück bleibt ein verkrümmter, verkrüppelter Leichnam. Eins. Schwarz, finster, berußt. Schutt und Asche. Yeah! Robert schließt die Augen und umarmt seine Frau. Sie küssen sich. Das Fernsehbild erstickt im Schneegestöber.
»Ich liebe dich, Baby. Alles Gute für die nächsten tausend Jahre.«
»Ich liebe dich auch.«
Als Robert die Augen wieder öffnet, verlöscht der Deckenfluter und verglimmen die Signalanzeigen an der Stereoanlage, am Anrufbeantworter und am Fernsehgerät. Iris lacht und packt Robert am Arm.
»Komm mit raus, mein Schatz.«
Iris öffnet die Balkontüre. Robert sucht nach seinem Sektglas, findet es in der plötzlichen Dunkelheit des Wohnzimmers aber nicht. Ohne Getränk tritt er auf den Balkon. In den Nachthimmel zischen Schwärmer, Raketen und Heulfontänen. Rot, grün, blau, gelb: In allen Farben des Regenbogens. Männer, Frauen und Kinder bevölkern die Gehwege und lassen Chinakracher und Knallfrösche explodieren. Ein junger Mann feuert mit seiner Leuchtkanone auf das Portal der Polizeiwache. Alle Straßenlaternen sind ausgeblasen, in keinem Fenster brennt ein Licht. »Das ist so schön«, sagt Robert. Iris drückt sich fest an ihn. Robert zieht sein Handy aus der Jackettasche und tippt auf die grüne Taste. »Ich ruf mal kurz Mutter an.«
Das Display bleibt leer. Robert wundert sich und legt das Mobiltelefon auf die Balkonbrüstung.
»Süßer, ich hol mir noch ein Glas Sekt. Willst du auch noch was?«
Robert schüttelt den Kopf. Iris verschwindet im Inneren der Wohnung. Robert schaut auf die Straße, die Ampelanlage an der Kreuzung ist ausgefallen. Zwei Frauen winken aus dem Fenster der Nachbarwohnung und prosten ihm zu.
»Seltsam«, sagt Iris, als sie auf den Balkon zurückkehrt, »der Kühlschrank funktioniert nicht. Anscheinend haben wir einen Stromausfall.«
»Hauptsache du bist bei mir.«
Robert nimmt ihre Hand. Iris ist das Beste, was ihm auf seine alten Tage geschehen konnte. Mögen die Zeitungen schreiben, was sie wollen: Er liebt sie, und sie liebt ihn.
»Mein Gott, Robert, sieh nur!«
Iris zeigt in den Himmel. Über den Dächern schwebt ein unbeleuchtetes Passagierflugzeug. Es ist ganz nah, vielleicht zwei, drei Kilometer entfernt. Mit einem Mal kippt es nach vorne über und fällt wie ein Stein zur Erde.
»O nein!«
Das Flugzeug rast in einen Häuserblock, eine schreckliche Explosion zerreißt die Nacht. Rauchsäulen steigen auf, höher als der Fernsehturm. Die Menschen auf den Straßen schreien, weinen und fliehen. Am Horizont tost ein Feuermeer. Die Welt geht unter. Iris wird bleich, ihre Stimme zittert.
»Robert, ich muß sofort ins Studio.«
Ich fasse zusammen. Es ist der 31. Dezember 1999, die Silvesternacht, der Jahrtausendwechsel. Auf dem ganzen Erdball herrschen Jubel, Trubel, Heiterkeit. Doch während die Menschheit ausgelassen die neue Ziffernfolge feiert, gehen nach und nach an allen Orten der Welt die Lichter aus. Sidney, Warschau, Los Angeles. Die Computersysteme stürzen ab, die Maschinenwelt versagt, komplett, hello goodbye. Das Ganze nennt sich neudeutsch Y2K, Year two Kilo, die digitale Datumsfalle, der Jahr-2000-Crash. Noch vor ein paar Wochen waren die Nachrichten voll davon, wir sind nur knapp dem Untergang entronnen. In meinem Roman aber wird das Mögliche Wirklichkeit werden und alle technischen Geräte auf den nächsten Seiten ihren Geist aufgeben: Mikrowellen, Kühlschränke, Herzschrittmacher, Türklingeln … Die Menschen verlieren ihre High-Tech-Krücken, es ist wieder Steinzeit. Auch in Berlin. Die Reichen sind mit einem Schlag arm, die Gesunden krank, Seuchen und Hungersnöte breiten sich aus, Völker wandern von einem Kontinent zum nächsten, Hunde, Katzen und Hamster verwandeln sich in gefährliche, uns überlegene Nahrungskonkurrenten. Das ist ein dankbarer Stoff für jeden Künstler: Im Hintergrund bebt das kollektive Drama, während es vorn tragisch menschelt. Da wird gezittert und gelitten, die Klaviatur der Gefühle bewegt, hoch und runter, mit allem Pipapo. Als Helden für meine Geschichte kommt nur ein Liebespaar in Frage. Sie, Iris, ist eine hübsche TV-Ansagerin, blond, gut gebaut, aber nicht dumm. Er heißt Robert, ist Schriftsteller, gescheit und nicht auf den Mund gefallen, ein Genußmensch, mit feinen Manieren und autobiographischen Zügen. Gemeinsam werden Iris und Robert versuchen, der Natur und allen Elementen zu trotzen, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Am Schluß wird Robert würdevoll abtreten, damit Iris weiterleben kann. Auf dem Grab wird sie seinen Sohn gebären, Robert Junior, das bietet Anknüpfungspunkte für Die schwarze Welt 2.
Verzeihen Sie, daß ich so früh das Ende vorwegnehme, aber Sie haben noch gut und gerne neunhundert Seiten vor der Brust – da vergißt man schnell. Und bestimmt haben Sie sowieso schon den Kinofilm gesehen. Um es ein für allemal klarzustellen, entgegen allen anderslautenden Meldungen, die eines Tages in den Klatschblättern herumschwirren werden: Ich habe mich nicht gegen eine Verfilmung gewehrt, ganz im Gegenteil, ich habe sie von vornherein in Betracht gezogen. Nur deshalb habe ich in diesen Roman auch eine Menge Spezialeffekte eingeschrieben. So wird im nächsten Kapitel der Fernsehturm umfallen und das Brandenburger Tor begraben … Das gibt mehr Opfer als ein Robbie-Williams-Konzert. Und Hand aufs Herz: Wie würden sie reagieren, wenn eines Tages Hollywood an Ihrer Tür klopft und um Einlaß bittet? Ich arbeite jedenfalls gern mit Profis zusammen.
Als der Zug und ich Berlin erreichten, stand die gesamte Romanhandlung fest wie ein Betonblock. Ich hatte die letzte Flasche Bier des Zugrestaurants vor über zweihundert Bahnkilometern geleert, der Deckel kostete mich fast ein Drittel meiner mitgeführten Barschaft. Ich war berauscht, voller Tatendrang und schreibdürstend … Und hätte im Zug beinahe meinen Koffer vergessen. Dabei bedeutet mir dieses braunlackierte Gepäckstück mehr als irgendein anderes Behältnis auf der Welt. Es ist das einzige Andenken an meinem seligen Großvater – und ohne diesen Koffer wäre mein Leben sicherlich anders verlaufen. Der Koffer ist wuchtig und massiv, mit zwei Schnappverschlüssen links und rechts und eisernen Beschlägen an allen acht Kanten. Er besteht aus einem recht harten Material und läßt sich leer schon kaum heben. Innen ist er mit karierten, inzwischen ausgeblichenen und eingerissenen Papierbahnen ausgeschlagen, doch immer noch erfüllt der Koffer seinen Zweck und war mir stets ein treuer Begleiter.
Mit ihm erreichte bereits Großvater Ende der fünfziger Jahre Amerika, die Vereinigten Staaten, das gelobte Land. Coca Cola, Colts und Cadillacs. John Wayne, Micky Maus, Mount Rushmore. Großvater wollte einen Job finden, sich eine Existenz aufbauen und genügend Dollar zur Seite legen, um rasch seine Braut und seinen Sohn, meinen Vater, nachkommen zu lassen. Großvater war, wie ich aus den immer gleichen Erzählungen weiß, ein begnadeter Autoschlosser, ein Kolbengenie und Schraubenkünstler … Er hatte für alles, was Öl frißt, ein Händchen. So fand er auf der anderen Seite des Teichs in einer KFZ-Werkstatt auch sogleich eine Anstellung und drehte und schmierte und schraubte fortan den ganzen Tag und die halbe Nacht. Der Wind des »American Way of Life« bläst in seinen Briefen an Großmutter mit Orkanstärke, in jeder Zeile, in jedem Wort, in jeder einzelnen Silbe. Man riecht buchstäblich die weite Prärie mitsamt ihren Büffeln, spürt das schwarze Maschinenöl an seinen Händen, sieht die endlosen Highways, fährt durch die gleichförmige Vorstadt und beißt in dicke, saftige Hamburger. In sechs Monaten hatte Großvater über fünfzehn Kilo zugenommen. Er war ein Selfmade-Mann, schon bald nannte man seinen Namen mit Ehrfurcht. Sein Blut fließt in meinen Adern.
Nach weniger als einem Jahr war es dann soweit, Großvater hatte genügend Geld gespart und ein schönes, großes Haus für seine Familie angemietet. Er schrieb Großmutter, daß sie ihre Sachen packen solle, er würde nun kommen und sie und meinen Vater holen. Großvater stieg in den Flieger, überquerte den Atlantik und landete in der alten Heimat, in good old Germany. Es war nicht mehr weit, ein Katzensprung noch, wenige Stunden mit der Eisenbahn, vielleicht drei oder vier. Großvater betrat den Zug, fand ein leeres Abteil, wuchtete den Koffer auf die Gepäckablage und setzte sich darunter. Der Schaffner und die anderen Fahrgäste sagten später aus, daß Großvater während der gesamten Fahrt mit einem seligen Lächeln aus dem Fenster geschaut hat, seine Augen glänzten, er wirkte so unbeschreibbar glücklich. Als der Zug den kleinen Bahnhof erreichte, an dem Großmutter und mein Vater ihn erwarteten, stieg Großvater nicht aus. Der schwere, massige Koffer war aus der Gepäckablage direkt auf seinen Kopf gefallen, Großvater war auf der Stelle tot. Zwei Tage später wurde er auf dem evangelischen Kirchfriedhof beigesetzt, keine zehn Minuten von unserem Haus. Großmutter packte ihre Taschen wieder aus und trägt bis zum heutigen Tag Trauer.
Wie sähe mein Leben aus, wenn es diesen Koffer nicht gegeben hätte? Bestimmt könnte ich heute fließend Englisch sprechen, wäre noch beleibter, würde in einem Schnellrestaurant Kaffee ausschenken und mit einem Mädchen namens Betty rummachen. Vielleicht wäre ich aber auch mit Madonna liiert? Sie hätte mich beim Videodreh kennengelernt, auf Anhieb hätte es zwischen uns beiden gefunkt. Ich würde nun ihre Fanpost beantworten, gemeinsam setzen wir uns für Obdachlose und Aidskranke ein, und an meinem dreiunddreißigsten Geburtstag würde Sting ein Ständchen für mich singen. Doch höchstwahrscheinlich gäbe es mich gar nicht, denn Mutter hat noch nie das Bundesland verlassen, sie weigert sich sogar, Mozzarella zu kaufen oder ihren Bruder in Mecklenburg-Vorpommern anzurufen.
Offensichtlich aber habe ich von Großvater nicht nur seinen Koffer, sondern auch sein Fernweh geerbt. Frohgemut stand ich deshalb gestern nachmittag an den Gleisen des Bahnhofs Zoo. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, ich taumelte vor Glück … Nun gut, ich war auch ein bißchen betrunken. Ich schaute mich um und kann allerdings nicht verhehlen, daß ich mir den sagenumwobenen Bahnhof Zoo beeindruckender vorgestellt hatte, größer, schmutziger, krimineller. Mit Strichern und Dealern und Obdachlosen und Messerstechereien und aufgebrochenen Gepäckschließfächern und lärmenden Kinderpunks und Drogentoten in jeder Ecke – zumindest mit mehr Gleisen als auf dem Bahnhof daheim. Ernüchtert kramte ich aus dem Portemonnaie die Wegbeschreibung hervor: Mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, dann in die Elektrische Richtung Norden, zwei Haltestellen später aussteigen, in Fahrtrichtung die Straße rauf, rechte Seite, da. Das war eine lösbare Aufgabe, zumindest für einen ehemaligen Jung-Pfadfinder wie mich.
Jeden Dienstag und Donnerstag trafen wir uns Punkt sechzehn Uhr im katholischen Gemeindehaus unten im Keller, wo die beiden Tischkicker standen. Was hätten wir für Spaß haben können, wenn wir bloß Bälle gehabt hätten? Statt dessen saßen wir die ganze Zeit über gelangweilt im Kreis herum, unser Gruppenleiter Michael, ein neunzehnjähriger Krankenpfleger, verteilte Schokoladenzigaretten und las zunächst die Namen derjenigen vor, deren Eltern noch nicht den monatlichen Mitgliedsbeitrag überwiesen hatten. Danach wurde zwei Stunden lang in telefonbuchdicken Katalogen herumgeblättert und wild Bestellzettel ausgefüllt. Es gab ja so viele verschiedene Uniformhemden und Uniformhosen und Uniformhalstücher und Uniformhalstuchknoten zu kaufen: Baron Baden-Powell wäre vor Freude glatt ein zweites Mal gestorben. Am Ende des Treffens wurde dann noch Stimmung für das nächste Zeltlager gemacht: Diesmal geht es richtig weit raus, ein Mordsmarsch, in Gegenden, die noch kein Fuß zuvor betreten hat. Denkt an eure Ausweise und fangt besser schon mal mit dem Training an, das ist nur was für harte Kerle … Alles heiße Luft, Jahr für Jahr campierten wir auf der Wiese hinterm Freibad. Bei meinem vierten oder fünften Zeltlager wurde ich schließlich unehrenhaft aus der Gruppe entlassen, mit Schimpf und Schande vor versammelter Truppe, bloß weil ich als einziger Pfadfinder keine Uniform besaß und in meinen Schulsportsachen herumlief. Vielleicht hatten die falschen Leute aber auch Wind davon bekommen, daß ich praktizierender Protestant war, und montags und mittwochs den Konfirmationsunterricht besuchte. Ein Jahr später wurde der Verein dann komplett hochgenommen, weil Michael, der coole, von uns allen bewunderte Rover, inzwischen dazu übergegangen war, nicht nur Anziehsachen, sondern auch weiche Drogen an seine Schutzbefohlenen zu verticken. Zum Glück verbrachte ich da schon jede freie Minute in der Imbißbude neben der Sparkasse und versenkte mein Taschengeld in die dort aufgestellten Videospielgeräte. Nur Sport schützt effektiv vor Drogen. Aber gelernt ist gelernt, einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder. Stur wie ein Panzer folgte ich der Wegbeschreibung und stand keine halbe Stunde später vor der Wohnungstür des langen Stefan und war stolz auf meine bewiesene Großstadttauglichkeit. Ich klingelte, kurz darauf öffnete ein kleines Männlein die Tür. Ich hätte fast losgebrüllt vor Lachen.
– Stefan? Stefan Weber?
Er nickte. Der lange Stefan sah zum Schießen aus. Er hatte höchstens noch achtzehn oder neunzehn Haare auf dem Kopf und ähnelte einem aufgedunsenen, in die Jahre gekommenen Teletubbie. Er trug einen mächtigen Schmerbauch vor sich her und war in den letzten Jahren mindestens dreißig Zentimeter in die Erde gewachsen, niemals hätte ich den langen Stefan auf der Straße wiedererkannt. Auch er starrte mich an, als wäre ich Ötzi oder der verweste Elvis Presley. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, also nahm ich ihn in den Arm und küßte ihn links und rechts auf die Wange, so wie es die Leute in den Vorabendserien immer tun.
– Hallo Stefan, wie schön.
– Bist du, bist du wirklich?
– Natürlich, Stefan, altes Haus. Und was ist mit dir passiert? Bist du eingelaufen?
– Nö. Und du? Wo ist denn dein Augenpflaster?
– Weg.
– Und die Brille?
– Geheilt.
– Ach schade.
Alles war wie früher. Die Großstadt hatte den langen Stefan zwar alt und klein gemacht, doch seinen trockenen Humor und seine spröde Herzlichkeit hatte ich mir immer so vorgestellt.
– Ich kann es kaum glauben. Komm doch rein, Junge.
– Gern.
Drinnen war es kälter als draußen.
– Mensch, Stefan, wie schön, dich wiederzusehen.
– Ja, find ich auch. Und bis auf den Kopf hast du dich gar nicht verändert. Hier lang, Junge.
Der Flur war ein endlos langer Schlauch und ungefähr doppelt so groß wie die Wohnschlafküche, die sich daran anschloß. Das also war meine neue Heimat. Zwei Dinge vermißte ich auf Anhieb.
– Stefan, wo ist denn das Klo?
– Im Hausflur, Treppe runter. Aber ich hab den Schlüssel verloren. Wenn du mußt, gehst du am besten zu Uschi. Das ist die Kneipe an der Ecke. Die hat bis zwei Uhr offen.
– Und wo ist deine bessere Hälfte?
– Meinst du Bert? Der hat sich schon lange verpißt. Er ist eine Ratte. Und außerdem hat er eine Sextanerblase.
Man soll keinen Deut auf Gerüchte geben. Mir war es einerlei, meinetwegen hätte der lange Stefan auch mit einem Schaf verheiratet sein können. Ich war froh, in Berlin zu sein – und wollte bei ihm ja auch nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag bleiben. Ich stellte meinen Koffer neben dem brummenden Kühlschrank namens »Mockba« ab. Die Hälfte des Zimmers nahm ein mit rosa Samt bezogenes französisches Bett mit einem goldenen Radiowecker am Kopfende ein.
– Soll ich da schlafen, Stefan?
– Wo sonst?
Die morschen Holzdielen knarrten unter meinen Schritten. Neben dem viel zu kleinen Kachelofen standen ein Tisch und ein abgeschabter Sessel, darin wird man den langen Stefan in vierzig Jahren tot auffinden. Die Wände waren weißgekalkt, an ihnen hingen Konzertplakate von Musikgruppen, deren Namen mir unbekannt waren. Lift, Porto, Ina Morgenweck und die Gruppe Charlie. An den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab, man hörte den Wind durch die Ritzen pfeifen, in den Scheiben blühte ein Meer aus Eiskristallen.
– Stefan, das ist ja eine tolle Aussicht.
Ich schaute auf das Friedhofgelände auf der anderen Straßenseite.
– Finde ich auch. Da liegen nur berühmte Künstler, das ist unser Pärlaschäß. Du, Junge, tschuldige, aber ich hab gleich ne Verabredung mit nem richtig süßen Kerl. Kommst du erst mal ohne mich klar?
– Kein Problem, Stefan. Ich bin sowieso müde von der Fahrt und würde mich gern hinlegen. Das war ne lange Reise. Wir können ja später noch reden.
– Prima, dann mach ich mich mal auf den Weg. Machs gut, Junge. Und fühl dich ganz wie Zuhause.
– Tschüß, Stefan. Und danke.
Ich konnte kaum abwarten, bis Stefan die Wohnung verlassen hatte … Bier treibt ja so gewaltig. Noch bevor die Tür ins Schloß gefallen war, stand ich vor der Spüle und schlug mein Wasser ins Waschbecken ab. Sodann inspizierte ich den Raum. Ich kontrollierte das Küchenschränkchen, durchsuchte die Kommode, schaute im Bettkasten nach, nichts, nada, nothing. Stefan besaß weder ein Tagebuch noch irgendwelche Pornohefte. Egal. Ich zog mich aus, schlüpfte in Stefans Schlafanzug und legte mich hin. Ich schlief sofort ein und träumte einen süßen Traum.
An einem warmen und schönen Wochentag im August begegne ich einem aus dem Fernsehen bekannten Literaturkritiker in der Bahnhofsbuchhandlung unserer Landeshauptstadt. Ich gehe auf den Kritiker zu, stelle mich vor, der Kritiker lächelt und schüttelt meine Hand. Der Kritiker erzählt, daß er auf dem Weg zu einem Jungdramatikertreffen in einer nahen Universitätsstadt sei und fragt mich, ob ich nicht Lust hätte, ihn dorthin zu begleiten. Vor dem Treffen hätten wir dann auch noch ausreichend Gelegenheit, durch die Innenstadt zu schlendern und uns jeder auf seine Kosten ein Paar italienische Herrenschuhe zu kaufen. Das Angebot ist reizvoll, allerdings befinde ich mich gerade auf dem Weg zu einer Zusammenkunft mit der Verlegerin meines ersten Romans … Ein Stelldichein, das ich nicht absagen kann und will. Der Kritiker beruhigt mich und sagt, daß der Zug erst in zwei Stunden abfahren werde, und mir also noch genügend Zeit für das Treffen bliebe. Wie wunderbar! Der Kritiker und ich vereinbaren einen Treffpunkt, dann begebe ich mich in ein nahgelegenes Café. Dort erwartet mich bereits meine Verlegerin, und rasch verfangen wir uns in einer amourösen Unterhaltung. Erst als meine Verlegerin unsere Rechnung begleicht und sich von mir verabschiedet, schaue ich auf die Uhr und erkenne, daß ich die Verabredung mit dem Kritiker glatt vergessen habe. Es ist höchste Eisenbahn, mir bleiben nur noch wenige Minuten. Ich renne so schnell ich kann zum Hauptbahnhof, doch als ich den Bahnsteig erreiche, sind der Zug und der Kritiker bereits abgefahren. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Ansage: Es ist das Kleine, das zum Großen fehlt. Herzlich Willkommen! Ihre Jugend ohne Plot.
So weit die Träume, die Komposthaufen der Seele, zurück zum wirklichen Leben. Wohl mehrere Stunden schlummerte ich vor mich hin, friedlich, mollig und in Embryostellung, wie ein Angestellter im öffentlichen Dienst kurz vor dem Wochenende oder wie damals im Religionsunterricht bei Fräulein Klappenbach … Bis sich plötzlich fremde Finger in meine Schultern krallten, au! Ich riß die Augen auf. Die Matratze schwankte, das Bettgestell ächzte. Schutzsuchend rollte ich mich zur Seite, entzog mich der Klaue – doch da war nichts, nur ein Abgrund! Ich fiel aus dem Bett, plumpste auf den Fußboden und saß auf meinen fünf Buchstaben. Ein häßliches, übergeschnapptes Lachen dröhnte durch meinen Schädel. Ich schaute hoch. Zwei Augenpaare glotzten mich an, das eine gehörte in das Gesicht des langen Stefans.
– Tschuldige, Junge, wir wollten dich nicht aufwecken. Darf ich vorstellen? Das ist Bert.
Bert winkte. Ich richtete mich auf und besann mich.
– Komm ruhig wieder ins Bettchen, Junge. Es ist genug Platz hier für uns drei.
Bert lachte. Stefan lupfte die Decke und präsentierte stolz sein kampfbereites Gemächt.
– Wow, vielen Dank für die Einladung, Stefan, echt. Das ist wirklich sehr nett von euch. Aber nein. Ich bin doch gerade erst angekommen und will was von der Stadt sehen.
– Berlin rennt nicht weg, Junge, aber Bert. Wenn du nur wüßtest, was du verpaßt, Kleiner.
Stefan drehte sich um und nahm sich wieder Bert zur Brust, die beiden versanken im Daunenlager. Leise und unauffällig stieg ich in die Jeans, zog meinen Pullover über, schlüpfte in Socken und Turnschuhe, nahm meine Jacke in die Hand und verabschiedete mich von den zweien.
– Viel Spaß noch. In ein paar Stunden bin ich wieder da.
Ich erhielt keine Antwort, die beiden waren ganz woanders.
Ich wußte nicht, wie spät es war. Früher Abend, Morgen oder Mitternacht. Die Kälte schnitt in mein Fleisch, meine Zähne klapperten. Erst vor der Haustür bemerkte ich, wie sehr die Jeans im Schritt kniff – versehentlich hatte ich wohl die Hose von Bert erwischt.
Das Himmelszelt beherbergte keinen einzigen Stern, nur eine blasse, milchige Mondsichel. Früher glaubte man, daß die Seelen der frisch Verstorbenen zunächst mit von Gott erbauten Schiffen auf den Mond gebracht und dort dann den Sonnenstrahlen zur Reinigung und geistigen Desinfektion ausgesetzt werden, um anschließend vom Allmächtigen höchstpersönlich abgeholt und in das Reich des Lichts verschickt zu werden. So erklärte man sich die wechselnden Gestalten des Mondes. Der Mond nimmt zu, je mehr Seelen dort zwischengelagert werden … Er nimmt ab, je mehr Seelen in die Herrlichkeit entlassen werden. Zur Zeit herrschte oben gähnende Leere. Zum Zweck der Wärmeerzeugung lief ich ein paar Schritte. Es herrschte kein Verkehr auf der Straße, ich begegnete auch keinen Passanten. Wäre ich auf dem Glatteis ausgerutscht und hätte mir das Genick gebrochen, hätte es bestimmt Tage gedauert, bis man mich gefunden hätte. Die schlafende Buchhandlung auf der anderen Straßenseite weckte meine Lebensgeister. Ich ging hinüber. Graue, schmutzige Schneereste säumten die Bürgersteige, das Streugut knirschte unter meinen Schuhen. Mit klopfendem Herzen betrachtete ich die Bücher in der Schaufensterauslage der Buchhandlung. Eines Tages wird auch mein Roman hier ausgestellt werden. Die schwarze Welt. Ein dickes Buch mit festem Einband und Lesebändchen, gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. An der Hauswand erblickte ich eine Tafel mit einer Inschrift:
In diesem Hause
arbeiteten und wohnten
Bertolt Brecht
und
Helene Weigel
Tafeln pflastern seinen Weg. Dafür lohnt sich doch der ganze Aufwand. Hier entstand dieses Werk … Da holte sich jener die Franzosenkrankheit … Dort entsandte Iksypsilon seine Winde in die Luft. Von solchen Dingen leben ganze Branchen, Reiseführer, Historiker, Busfahrer, der Zigarettenhändler an der Ecke. Vielleicht sollte ich mit einer Autobiographie mein Werk beginnen? Der Weg nach oben. Das würde meinen Nachfahren viele Gänge ins Archiv ersparen. Inmitten meiner Gedanken meldete sich mein Magen fingerschnippend zu Wort. Ich hatte Kohldampf, einen Mordshunger. Schließlich hatte ich ja auch noch nichts Anständiges gegessen – im Zug nur das flüssige Frühstück aus Hopfen und Malz. Ein Königreich für einen Döner! Wo lang? Da lang.
Nach ein paar Metern kam ich an einem Ladenlokal mit einem großen vergitterten, zuletzt in der Steinzeit geputzten Fenster vorbei. Oben drüber stand in großen Buchstaben KUNSTFERNSEHEN. Ich schaute in die Geschäftsräume, sie waren leer. Kein Schreibtisch und keine Sitzgelegenheiten befanden sich im Raum, von der Decke baumelte noch nicht einmal eine Glühlampenfassung. War das ein Symbol? Ein Denkoder Mahnmal? Auf alle Fälle wußte ich, daß meine Entscheidung,in diese Stadt zu ziehen, die richtige war. Augenscheinlich war man an diesem Ort auch für die absonderlichsten Geschäftsideen empfänglich. Kunstfernsehen … Warum nicht? Wenn es Frau und Kinder ernährt.
Ich schlenderte weiter durch die menschenleeren Straßen, vorbei an bröseligen Mietskasernen und pockennarbigen Hausfassaden mit blättrigem Putz. Hin und wieder kamen mir betrunkene Einzelgänger entgegen, die heimwärts wankten. Ich genoß die Stille und die Nacht, trotz meines Bärenhungers. Die Bilder überwältigten mich, überall stieß ich auf Geschichte, Geschichten, Spuren der Zeit. Und auf Kunst. Ich weiß nicht, wie viele Male ich auf meiner Wanderung dieses Wort gelesen habe. Das Gardinengeschäft gegenüber der Polizeistation hieß Kunststoffe, die Lokalität an der Ecke Kunst-Café. Mindestens drei Läden verscherbelten Künstlerbedarf, die Tierhandlung warb für die Kunst des Angelns und mehrere Kneipen für die schwarze Kunst des Brauens. Dort hauste ein Kunstverein Friedrichstadt, hier ein Neuer Berliner Kunstverein, irgendwo stand das Kunsthaus Tacheles. Ich kam an einem Kunstraum in Mitte vorbei, ein Plakat warb für den Berliner Kunstherbst, selbst der Haarschneider bot seine Dienste als Frisierkunst an. Dort kosteten Kunstblumen nur neunundneunzig Pfennig, hier hing ein Kunstkreuz und an der Ampel drohte ein Aufkleber: Für die Kunst ins Gefängnis. Der Keramikladen verkaufte Art in metal, in der Ruine daneben entstand ein Art-Loft, dort gab es »Art und Weise Dienstleistung«. Form Art, Artvision, Art-Passepartout, Art-Berlin … Mein Gehirn käste. Schwindelig taumelte ich durch die mit Kunst verminten Straßen, bis ich sie erblickte: Eine hell erleuchtete Imbißbude. Die Rettung. Meine Schritte wurden schneller. Nur noch vorbei an der Kunstbank und hinein … Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluß vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, daß man Kunst nicht essen kann. Der Imbiß hatte durchgehend geöffnet und hieß, ich traute meine Augen nicht: »Art & Kebap«. Egal, in der Not frißt der Teufel seine Kinder. Ich schleppte mich zum Tresen und gab meine Bestellung auf.
– Einmal Döner mit allem.
Ich bezahlte eine Kleinigkeit – dafür darf man sich in meiner Heimatstadt noch nicht einmal eine Papierserviette nehmen. Im Gegenzug reichte mir der Hammelschwenker einen Fleischbrotklumpen, der Biß hinein rettete mir das Leben. Ich fraß wie ein Tier und verschüttete fast einen halben Liter Knoblauchsoße auf die Hose von Bert. Biß für Biß formten sich drei neue Wünsche: Musik hören, Alkohol trinken und Frauen gucken. Gestärkt zog ich weiter. An der Ampelkreuzung weissagte mir meine Eingebung eine Himmelsrichtung, ich folgte ihr. Kurze Zeit später betrat ich eine vermuffte, lärmende Gaststätte, eine versunkene Welt. An den Wänden pappten gilbe Tapeten mit Pflanzenmustern, schwarze Beeren und Reblinge, vor den Fenstern hingen Häkelvorhänge und über dem DJ-Pult baumelte einsam eine Discokugel. In den Ecken standen zwei Stehlampen mit bröseligen Lampenschirmen, vor der Bühne waren mehrere Bierbänke aufgebaut. Alles war in ein rotes Dämmerlicht getaucht, die Holztische wackelten, mit den Glasaschenbechern konnte man Menschen erschlagen, unter der Decke hingen Kreidetafeln mit den Getränkepreisen, aus den Zapfhähnen floß eine unbekannte Brühe. Ich fühlte mich wie im Wohnzimmer meiner Großmutter: Aber warum waren so viele Leute hier? Die Bude war gerammelt voll. Menschen, Massen, Rauchschwaden, Nikotinwolken. Überall sah ich Köpfe, Frisuren, Frauen, Mädchen. Es gab keine Luft zum Atmen, ich fühlte mich wie in einer … Nein, das sollte ich besser nicht schreiben.
Über die Bühne derwischte ein wildes Männchen mit zersausten Haaren, es sang und fluchte und schimpfte zur eigenen Klavierbegleitung. Rüm Haart, klaar Kimming. Deliri-liri-lirium. What shall we do with the drunken sailor early in the morning? Ich versuchte mich zum Tresen vorzuschummeln, es war ein Ding der Unmöglichkeit. Nach sechs Jahrhunderten kam ich endlich an die Reihe. Ich bestellte vier halbe Liter Bier. Für mich und mich und mich und mich. Ich balancierte die Glaskrüge zu einem Tisch nahe der Tanzfläche, besetzte einen Stuhl und vergnügte mich mit meinen Schätzen. Nach einem Liter räumte das irre Männchen die Bühne oder wurde geräumt, Schlager erklangen, Blumenlieder, die Hochzeitslieder meiner Eltern. Ei kahnt gät noh sä-tiß-fäk-tschän. Sogleich stampedeten Horden über die Tanzfläche. Zurück blieb ihr Gerede.
– Berlin, das ist so hoch wie Mailand und so teuer wie Madrid.
– Ich finde, die Menschen hier sind wie der Potsdamer Platz.
– Logisch, die Welt ist ja auch kein Cola-Automat, wo unten rauskommt, was man oben eintippt.
– Gott sei Dank bin ich eher task- statt peopleorientiert.
– Und ich arbeite in Quicktime. Aber im Bett brauche ich Realplayer.
– Du glaubst auch an griechische Götter. Für einen schicken Sundowner würdest du sogar das Mittelmeer trockenlegen.
– Ich habe hier schon mal aufgelegt.
– Das Leben ist eben manchmal ein deutscher Autorenfilm. Anfangs super, danach mellow.
– Wollen wir nicht lieber one to one sein?
– Vater sagt, sein Platz ist der Overground.
– Klingt nach dem Beginn einer klassischen Come-together-Story.
– Zu achtundsiebzig Prozent ist das ein Yes.
Ich war ganz kirre und das Bier im Handumdrehen alle. Berlin drehte sich, ich mich, die ganze Welt. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Gehen? Oder pinkeln und gehen? Vor dem Tresen stand eine Riesenschlange, kein Durchkommen. Und eine Toilette gab es anscheinend auch nicht. Was tun? Die Musik hämmerte in meinem Schädel, Fratzen starrten mich an, ich starrte zurück. Sprechblasen schwappten durch meinen Kopf, Wortfetzen, Satzscherben, ganz viele words – über einhundertachtzig Wörter pro Minute. Ich mußte sofort etwas unternehmen. Ich fixierte eine Frau auf der Tanzfläche, eine wunderschöne Brust, einen prachtvollen Busen. Ich sammelte meine Kräfte, Konzentration, nahm Schwung … Eins, zwei, drei, ich erhob mich und stieß mich von der Tischkante ab. Ich sauste durch Raum und Zeit, in 3D, vorbei an dem Kleiderständer, torkelte auf die Tanzfläche und dann
Filmriß. Peinlich, aber wahr. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Gerade hatte ich meinem Untersatz adieu gesagt, um eine kesse Sohle aufs Parkett zu legen … Als nächstes erwachte ich im Bett des langen Stefans. Mein Schädel brummte wie ein durchgebrannter Zwanzigtausendwattverstärker, ich war mutterseelenallein in der Wohnung. Ich habe keine Ahnung, wie und wann ich hier hingelangt bin. Ob allein oder mit fremder Hilfe. Und wer mich bis auf die Unterhose ausgezogen hat. Für Aufklärung wird sicher der lange Stefan sorgen können – schließlich mußte mir jemand die Tür geöffnet haben. Ich kroch aus dem Bett und tappte zum Kühlschrank. Ich hatte Hunger und Durst und Durst und Hunger … Ich hätte eine Scheune mitsamt Trecker verputzen können. Der Kühlschrank war leerer als die russische Staatskasse, allein eine Sektflasche einsamte im Gemüsefach vor sich hin. Rotkäppchen, wie niedlich. Ich entkorkte die Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Der Kontersekt zeigte umgehend Wirkung, sogleich ging es mir viel, viel besser. Anstatt mir die Zähne zu putzen, rauchte ich eine von Stefans Filterzigaretten. Cabinet würzig, noch nie gehört. Mit jedem Lungenzug wurde mein Kopf klarer. Berlin, Mitte, Roman. Ich bin Schriftsteller, das macht mich interessant.
Nach dem Sektfrühstück zog ich mich an. Auf dem Sessel lag meine unbefleckte Jeans. Auf einem Haufen daneben türmten sich meine Socken, mein Unterhemd, mein T-Shirt und mein grauer Lieblingspullover. An einem Fenstergriff hing meine karierte, schon zu Schulzeiten getragene Steppjacke. In der Innentasche entdeckte ich ein Emailleschild in der Form und Größe eines Autokennzeichens. Die Aufschrift lautete:
Hier keine Kunst
Im selben Augenblick hatte ich ein déjà vu oder eine Vision, irgend etwas in diese Richtung. Ich stehe vor einer Tür, vor einer Eingangstür aus Holz. Die Tür gehört zu einem Haus. Ich kenne das Haus nicht, ich weiß nicht, wer in dem Haus wohnt. In die Tür ist eine Glasscheibe eingelassen, ein schmiedeeisernes Gitter schützt das Sichtfenster. In dem Gitter entdecke ich Ornamente, Verzierungen, Initialen. Ein Y, ein J und ein W vielleicht. Ich kann die Buchstaben nicht eindeutig entziffern. Oben auf dem Holzrahmen, zwischen Zarge und Sichtfenster, ist ein Schild angebracht: Hier keine Kunst. Das Schild ist mit Schrauben an die Tür befestigt, die Schraubenköpfe besitzen Kreuzschlitze. Ich versuche, das Schild abzumontieren. Eine Hand, eine zierliche Frauenhand mit schwarzlackierten Fingernägeln, berührt meine Schultern. Die Hand versucht mich von dem Vorhaben abzubringen. Ich küsse die Hand, jeden einzelnen schwarzlackierten Finger.
Ich nahm einen letzten Schluck Rotkäppchensekt, dann schlüpfte ich in meine Schuhe, griff meine Jacke und verließ das Quartier. Da ich noch keinen eigenen Wohnungsschlüssel hatte, zog ich die Tür nicht ins Schloß, sondern lehnte sie bloß an. Ich wollte spazierengehen und meinen Verstand abkühlen – dann würde sich die Sache mit dem Schild und der schwarzlackierten Frauenhand bestimmt von alleine klären. Auf der Straße wehte ein eisiger Wind, eine Straßenbahn rasselte vorbei. Ich holte tief Luft. Wenn man wie ich gerade von den Toten auferstanden war, dann gibt es eigentlich nichts Schöneres, als über die Gräber der Toten zu wandeln. Mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen marschierte ich Richtung Friedhof.
Lustig sein und nicht studieren
Durch die Gassen kreuz und krumm
Nach den Mädchen scharmutzieren
Lustig sein und nicht studieren
Dieses ist mein Proprium
Ich überquerte die Straße, ließ die Buchhandlung an der Brecht-Wohnung rechts liegen und betrat durch das weihevolle Staketentor den Begräbnisplatz für die Dorotheenstädtische Gemeinde. Vor mir erstreckte sich ein langer, aufgeweichter, sandiger Pfad, links umrandet von einer hohen Mauer aus Kalkstein. Der Weg führte geradewegs auf ein Standbild zu, daneben rankten mehrere Sträucher und Linden und Ahornbäume. Das marmorne Monument stellte einen feisten Kerl mit mächtigem Wanst dar, sein steinernes Gewand reichte bis zu den Knöcheln. Die verwegene Haartracht kannte ich. Der Stuten gehörte Martin Luther, dem Ketzermönch und Erzflucher. Das also war der Mann, der mir die Sprache dieser Seiten geschenkt hatte und dessen Morgensegen ich im Konfirmandenunterricht nie fehlerfrei aufsagen konnte, beinahe wäre meine Einsegnung daran gescheitert. Ich bog links in den Seitenweg ab, vorbei an einem riesigen Pompgrab mit Pfeilern und Säulen, und stieß in einer aufgemauerten Ecke auf die letzte Ruhestätte des Dichters Bertolt Brecht und seiner Frau Helene Weigel. Das Grab sah aus wie ein riesiges Ehebett. Am Kopfende lagen zwei schlichte urwüchsige Grabsteine, zwei nur mit Vor- und Zunamen bestickte Kissenbrocken, zwei unbehauene Findlinge, an die jeder Hund pinkeln möchte. Natürlich schläft der Mann außen und die Frau innen an der Wand – wenn sie aufs Klo will, muß er aufstehen. Ich erschauderte, als ich den Betonkopf nebenan erblickte. Das Grab Heinrich Manns, auf einer Stele gedenkmalte seine unangenehm dreinblickende Porträtbüste. Im Gegensatz zu der strengen, hochmütigen, deutschprofessoralen Erhabenheit des Steinkopfs lehnte die Gedenktafel einer gewissen Nelly Mann, geborene Kröger, geradezu obszön an seinem Pfeiler. Wie bestellt und dann vergessen. Schnell weiter. Auf dem Monolith nebenan, dem Grabstein Johannes R. Bechers, hätte man einen ganzen Roman veröffentlichen können.
Vollendung träumend
Hab ich mich vollendet
Wenn auch mein Werk
Nicht als vollendet endet
Was für ein Edelschmu. Auch die Vögel schien dieser Verskitsch abzuschrecken, zumindest traute sich keiner von ihnen das Luxus-Vogelhäuschen auf Bechers Grab zu benutzen … Das Ding war noch nicht einmal ordentlich beschissen. Ich schlug mich ins Dickicht, folgte einem schmalen Pfad und stieß auf einen gedrungenen, vierseitigen Obelisken aus Muschelkalk. Das Reliefporträt auf dem Stein zeigte Johann Gottlieb Fichte. Fichte? Fichte? Der Name sagte mir etwas, nur was? An Fichtes Seite ruhte seine Gattin Johanna Marie. Ich verewigte ihren Grabspruch in meinem feuerroten Notizbuch. Man weiß nie, ob und wann man für solche Sätze Verwendung hat – die ein oder andere Gelegenheit wird sich bestimmt noch im Verlauf des Buches ergeben. Übrigens ist das kleine, unlinierte, postkartengroße Notizbuch, das mir an jeden Ort folgt und in das ich all meine spontanen Einfälle, Gedanken und Maximen eintrage, schon über fünfzehn Jahre alt. Ich hatte es seinerzeit, als ich gerade schweren Tritts und trüben Herzens durch meine Hermann-Hesse-Phase watete, in einem 99-Pfennig-Laden in der Fußgängerzone geklaut. Auf das Vorsatzblatt des Büchleins schrieb ich eine Art Motto: Schriften alttestamentarischer Endgültigkeit. Der erste Eintrag lautet: Der Steppenwolf bin ich. Auf den nächsten Seiten folgen dann sämtliche von mir im Voraus getippten Fußballergebnisse der Welt- und Europameisterschaften der letzten zehn Jahre. Wären meine Vorhersagen eingetroffen, hätte die deutsche Nationalmannschaft in diesem Zeitraum alle Titel errungen. Doch wenigstens zweimal behielt ich recht, das macht eine Trefferquote von über dreißig Prozent. Wenn alle Stricke reißen, werde ich eines Tages meinen Lebensunterhalt mit Sportwetten verdienen.
Direkt neben Fichte ruhte der bekannte Denker Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Den kannte ich aus der Philosophie AG, Stichworte: Hebbel und Hebel, Hegel und Schlegel. Einerseits gibt es den realistischen, stark von Hegel beeinflußten Dramatiker Hebbel, andererseits den romantischen, hauptsächlich von Schlegel beeinflußten Schriftsteller Hebel … Doch was nützt einem letzten Endes all die Berühmtheit und das ganze Wissen? Vor dem Tod sind wir alle gleich, wie Pfarrer Greuleneck zu sagen pflegte. Hegels gedrungener Gedenkstein aus rötlichem Granit mochte ja durchaus etwas hermachen – insgesamt wirkte das Grab in seinem zugewucherten, verwachsenen und verwilderten Zustand aber ziemlich heruntergekommen und armselig, dagegen sprießt und blüht es auf dem Grab meines Großvaters wie auf einer Bundesgartenschau. Hegels Verwandte sollten sich wirklich was schämen, der Mann ist doch noch keine zweihundert Jahre tot.
Eine Reihe weiter entdeckte ich einen Grabstein mit einem Porzellan-Portraitfoto des Verstorbenen. Der Greis auf dem Bild sah ungemein lieb und zutraulich aus, so wie mein alter Chemielehrer Herr Dobermann – der Name paßte überhaupt nicht zu ihm. Ich ließ meine Gedanken schweifen und überlegte, welches Foto ich auf meinem Grabstein anbringen würde … Auf keinen Fall eine Aufnahme, auf der ich alt und gebrechlich wirke, ich möchte ein junges, kraftstrotzendes Motiv. Ein Bild, auf dem ich sportlich und schlank, schön und stark aussehe. Es gibt so ein Foto von mir, allerdings hat es schon einige Jährchen auf dem Buckel. Es stammt aus dem Jahre 1985 oder 1986, ich spielte damals für ein paar Wochen im Verein Fußball – das Trikot auf der Aufnahme müßte man natürlich wegretuschieren. Ich marschierte weiter, fand in der hintersten Ecke des Friedhofs eine Ehrentafel für den Entdecker von sechs chemischen Elementen, darunter Titan, Uran und Strontium, das soll ihm heute erst einmal einer nachmachen. Auf meinem weiteren Rundgang sah ich noch die Grabsteine für einen Vizewachtmeister, für einen Konditormeister und den Erfinder der Ringöfen. Eine andere Begräbnisstätte aber berührte mein Herz zutiefst. Eine kleine, feine, gepflegte Ruhestätte, das Grab eines im Alter von nur siebenunddreißig Jahren verstorbenen Mannes. Auf dem weißgräulichen Gedenkstein stand in kleingeschriebenen Lettern neben dem Namen die Berufsbezeichnung des Verstorbenen:
autor
Der Name des Toten hatte ich noch nie gehört, trotzdem lag der unbekannte Autor zwischen all den berühmten Künstlern, Denkern, Erfindern und Wissenschaftlern. Möglicherweise wird diese Grabstelle ja regelmäßig neu vergeben, von der Stadt oder dem Land, als posthume Ehrung und Aufenthaltsstipendium mit Residenzpflicht an einen anderen unbekannten Autor. Versunken in meinen Gedanken wanderte ich die Birkenallee hinab, bis ich auf ein großes, quadratisches Grabfeld stieß. Schwarz, finster, öd … Ohne Bepflanzung. Das Grab sah aus wie ein leerer Aschenbecher. Eine hohe, schlanke Stele wies es als die letzte Ruhestätte des Dramatikers Heiner Müller aus – den kannte ich aus dem Fernsehen. Ich mochte seine schwarze Erscheinung, seine düsteren Andeutungen und das beredte Schweigen, das die Privaten nachts versteckt zwischen Tittenfilmchen und Dauerwerbesendungen ausstrahlten. Der Dramatiker prägte entscheidend mein Bild des deutschen Dichters und Denkers – und wahrscheinlich auch meinen Wunsch, Schriftsteller zu sein. Ihm werde ich dieses Buch widmen. Auf seinem Grabstein lagen ein paar bunte Kieselsteine und eine Zigarre. Ich erinnerte mich an den Spruch, den ich während einer Kinderverschickung auf einem alten Grabstein in Bayern entdeckt und auswendig gelernt hatte:
Ich habe, weil ich war
Mit Tobak mich genährt
Doch alles, was man liebt
Wird durch die Zeit verzehrt
Mein Bester, gönnst du mir nun meine sanfte Ruh
So setz’ dich auf mein Grab
Und rauch Tobak dazu
Das hätte ich gern getan, doch in diesem Moment setzte ein fieser Nieselregen ein. Ich nahm die Zigarre, verstaute sie in meiner Jackentasche und eilte zurück in mein Quartier. Der lange Stefan war noch nicht zurück, ich nutzte die Gunst der Stunde, schob den Tisch und den Sessel zum Fenster, holte aus meinem Koffer einen Stoß Papier und meinen Füller hervor, setzte mich hin und entzündete die Zigarre. Der Tabak war ein wenig feucht geworden, so daß es eine Weile dauerte, bis die Zigarre anständig brannte. Dann nahm ich ein weißes Blatt Papier, griff den Füller, entfernte die Kappe und fing an zu schreiben. Ein Wort, zwei Worte, eine Überschrift:
Die schwarze Welt
Es folgten weitere Worte und Sätze, diese Seiten. O, ihr Blätter meiner Lust, glimmet, knastert, prasselt, lodert. Ich schrieb und rauchte und rauchte und schrieb … Ohne Pause. Jetzt ist die Zigarre aufgeraucht und meine linke Hand schmerzt. Doch ich bin zufrieden mit dem Erreichten, auch wenn ich meine beiden Romanhelden auf den letzten Seiten kurz aus den Augen verloren habe, und verbeuge mich vor mir selbst. Moment mal! Ich höre etwas. Aus dem Flur dringen Geräusche. Die Wohnungstür wird geöffnet, da ist eine Stimme. Bestimmt kehrt der lange Stefan jetzt heim. Ich werde ihn kurz begrüßen, dann geht es weiter. Versprochen.