Читать книгу Ich bin dein Hirte - Marc Rosenberg - Страница 3

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1.

„Am Leben bleiben“, flüstert sie.

Ich liebe sie für ihre Worte, ich liebe diese Stimme umso mehr, je öfter ich sie höre, ihren Klang, ihren Ton, die Vibrationen, die sie erzeugt.

„Du musst nur lebendig bleiben“, fährt sie fort, „nur am Leben bleiben. Reiß dich zusammen. Es ist unbedingt notwendig am Leben zu bleiben ... am Leben bleiben. Es ist lebensnotwendig“, sagt sie nachdrücklich, aber ihre Angst und ihre Nervosität sind nicht zu überhören. Sie ist kurz vor der Panik.

Schön. Noch kann sie sich kontrollieren. Noch. Obwohl sie flüstert, spricht sie sehr deutlich, jedes einzelne Wort. Wie um sich selbst von der Bedeutung und der Kraft ihrer eigenen Wörter zu überzeugen. Sie ist noch stark. Faszinierend. Ah, meine Haut kribbelt. Ist das gut.

Dann atmet sie wieder schnell. Und seufzt tief. Atmet ein und atmet aus. Deutlich hörbar.

Ich weiß schon, was jetzt kommt.

„Ich will doch nur leben“, flüstert sie noch immer. „Am Leben bleiben. Atmen. Ich muss doch nur einatmen und ausatmen. Das ist einfach, das schaffe ich. Ich schaffe es“, macht sie sich Mut. „Das ist einfach. Ich bleibe am Leben. Irgendwie. Ich zähle bis zehn, und dann wache ich auf, und wenn nicht, dann fange ich wieder von vorn an. Ja, das schaffe ich.“

Ihre Stimme wird noch leiser und bricht am Ende, sie beginnt zu schluchzen. Und hustet. Ich kann alles gut hören, die Mikrofone sind gut, auch die Bilder, viele Details sind zu sehen. Das Gesicht. Ihre Haut. Die kleinen Härchen, die ihr an Armen und Beinen zu Berge stehen. Selbst ihre Scham steht ihr zu Berge. Vor Aufregung. Was für ein Anblick! In ihrem Innersten bebt und zittert sie. Ich kann es sehen.

Trotzdem bin ich überrascht wie viel Lebenswille, wie viel Kraft sie noch hat. Es freut mich. So habe ich mehr davon, und sie auch. Ja, sie nötigt mir Respekt und ein kleines Lächeln ab. Ich schalte die Mikrofone aus und auch die Kameras. Dann erst öffne ich langsam die Tür. Sie knarrt. Sie zuckt zusammen und ... erstarrt. Und dreht den Kopf ruckartig in meine Richtung. Sie hat in der Zeit, in der sie bei mir ist, gelernt auf jedes kleine Geräusch zu achten. Hochachtung. Ich warte kurz und genieße, was ich sehe, dann erst bewege ich mich langsam und vorsichtig, nahezu geräuschlos, in ihre Richtung. Meine nackten Füße berühren den kalten Boden. Das ist angenehm. Ihr Kopf folgt mir. Sie ahnt, sie fühlt, wo ich mich befinde. Aber sie sieht mich nicht, sie kann mich nicht sehen. Ihr Körper ist angespannt, in Erwartung des Unerwarteten. Des Nichtvoraussagbaren. Unberechenbar. Das fördert die Angst. Ich habe sie soweit. Es ist Angst. Sie zittert. Erst war es Ungewissheit, dann Hoffnungslosigkeit, und jetzt ist es reine, pure Angst. Ihre Brüste sind gespannt, ihre Brustwarzen hart. Deutlich zu sehen. Sie erwartet mich. Aber ich werde sie nicht berühren, noch nicht. Auch wenn sie nicht weiß, was sie erwartet. Ich bin freundlich gewesen, nicht unhöflich oder grob. Ich bin zu ihnen immer freundlich. Sie bekommt, was sie braucht. Und zärtlich bin ich. Ja, ich kann sehr zärtlich sein.

Ich stehe direkt vor ihr. Und warte. Sie spürt meine körperliche Nähe. Ich spüre ihre Wärme. Und ihre Angst. Ich rieche sie, ich kann ihre Angst riechen. Und drunter: sie selbst. Es ist überwältigend.

Die meisten können nicht warten. Das ist für viele unerträglich. Nicht zu wissen, wann es passiert, oder wann überhaupt etwas passiert. Was passiert. Aber es passiert immer etwas, irgendwann passiert es. Und selbst wenn nichts passiert, passiert etwas, denn mit Nichts muss man auch umgehen können. „Nichts“ wird unterschätzt. Sträflich vernachlässigt. Das rächt sich eines Tages. Denn auch Nichts ist etwas. Das wissen die wenigsten. Ich weiß es, ich habe es erfahren. Ja. Ich weiß, was Dunkelheit ist. Darin befindet sich das Nichts.

Sie darf mich nicht sehen.

Es ist so still. So entsetzlich still. Und dunkel. Fast greifbar. Feste Dunkelheit. Als könnte ich sie mit einem Messer schneiden und zerlegen.

Mama?“

Nichts.

Mama! Bitte!“, flüsterte ich. Aus Angst, dass er mich hören könnte. Wie lächerlich.

Lass mich nicht allein, Mama. Lass nicht zu, dass er mir weh tut. Und warum ist es so still? Wo bist du?“

Und wieder höre ich nur Geräusche. In der Dunkelheit. Ich lauere und warte. Und mache mir meine eigenen Bilder. Ja, eigene Bilder. Noch darf sie mich nicht sehen.

Ich kann warten. Auf den richtigen Moment. Den gibt es, immer. Ich habe immer schon warten können. Bis ich bekam, was ich wollte. Heute helfe ich nach. Wenn es nicht anders geht. Ich mache mir meine eigene Wirklichkeit. Fantasie ist nichts dagegen. Wirklichkeit wird zur Fantasie.

Und sie denken, dass es Fantasie ist. Am Ende werde ich lachen. Über sie. Und sie werden sich um mich reißen, um meine Geschichten. Sie wollten es so haben.

Ich gehe um das Bett herum. Langsam, und schaue sie mir an. Ihr Kopf folgt mir. Hatte sie ihren Kopf als ich den Raum betrat noch hoch erhoben, um zu hören wo ich bin, nimmt ihr Körper langsam eine zurückhaltende, geduckte Haltung ein. Aber schützen wird sie sich nicht können. Ihr gesamter Körper ist angespannt. Dass sie dafür noch die Kraft hat! Respekt. Schon wieder. Was ist anders mit ihr? Anders als bei den anderen ... Sie weiß, dass ich sie beobachte. Sie spürt meine Blicke auf ihrer Haut, auf ihren Brüsten, auf ihren Beinen und zwischen ihren Schenkeln. Sie weiß, wohin ich schaue. Weil sie es erwartet. Sie erwartet mich. Sie erwartet, dass ich ihr wehtue.

Aber sie hält es nicht lange aus. Ihre Lippen zittern, ihre Gesichtszüge drohen zu entgleiten.

„Bitte“, fleht sie, „tun Sie mir nicht weh.“ Nicht zum ersten Mal. Und wieder. „Bitte.“

Ich habe ihr nie wehtun wollen. Ich verabscheue physischen Schmerz. Und ich weiß, was das ist, Schmerz. Ich kenne Schmerzen. Ich weiß, was Schmerzen sind.

Sie sieht nicht, wie ich lächle. Schade eigentlich.

„Bitte, tun Sie mir nicht weh.“

„Warum klammerst du so?“, flüstere ich.

„Was?“, fragt sie mit zitternder Stimme. Sie hat gehört, was ich sagte, aber sie kann es wohl nicht verstehen.

„Warum klammerst du dich so sehr an dein erbärmliches, kleines Leben?“

Sie schluchzt.

„Ich will doch nur leben. Ich mache, was Sie wollen, aber lassen Sie mich am Leben. Tun Sie mir nicht weh. Bitte.“

„Na dann. Auf die Knie!“

„Was?“ Sie horcht. Und ist erschrocken.

Ich warte. Und sie bewegt sich, will vom Bett herunterrutschen, um vor mir auf die Knie zu fallen. Fast kommen mir die Tränen, ich spüre fast so etwas wie Rührung. Aber es ist noch nicht Zeit. Noch nicht. Ich habe sie erst vor ein paar Tagen von der dritten Fessel befreit. Das hatte sie sich verdient. Bewegungsfreiheit. Ein bisschen Sicherheit, Vertrauen, Dankbarkeit. Bisher konnte sie sich nur zum Duschen frei bewegen und wenn sie auf die Toilette musste. Auch da würde bald vorbei sein. Ansonsten mag ich Sauberkeit. Sie riechen so gut. Aber Zerfall ist etwas anderes.

Sie kniet vor mir und hebt schon die Hände. Und bewegt ihren Kopf in die richtige Richtung. Es ist genau die passende Höhe. Wunderbar.

„Nein!“, flüstere ich. Das macht ihr Angst. Allen, wenn ich flüstere. Allen macht das Angst. Ich bekomme selber eine Gänsehaut. Noch immer. Immer wieder ist es ein erhabener Moment.

Denk darüber nach“, sagte die Stimme.

Und jetzt sitze ich hier und denke nach, aber mir fällt nichts ein. Ich sehe nichts und höre nichts. Ich weiß nicht, worüber ich nachdenken soll.

„Was? Hab ich was falsch gemacht? Bitte.“ Sie hebt bereits die Hände zum Schutz nach oben.

„Nein, es war nur ein Scherz.“

Sie zieht die Nase hoch.

Wir kennen uns nun schon vier Wochen und wieder einmal frage ich mich, ob ich ihr nicht das DU anbieten soll. Sie ist zäh. Und hält bisher gut durch. Bis hierher schaffen es nicht alle.

„Warum denkst du, dass ich dir wehtun will?“

Sie zögert.

„Aber warum bin ich denn hier?“

Höre ich da Hoffnung in ihrer Stimme? Sie hebt den Kopf. Sie öffnet sich für einen unvorsichtigen, kurzen unüberlegten Moment. Wenn ich jetzt zuschlagen würde, würde ich sie hervorragend treffen. Genau auf den Punkt. Ein gezielter Schlag würde vollkommen ausreichen. Und sie würde die Hand nicht kommen sehen.

„Nennst du das Leben?“

Sie fällt augenblicklich wieder in sich zusammen und fängt hemmungslos an zu weinen. Das ist erbärmlich und jämmerlich, aber auch faszinierend, wie schnell das wechselt.

„Was ist so besonders an deinem Leben?“

Ich warte, aber sie kennt die Antwort nicht. Oder kann sie mir nicht geben.

„Was ist es, das es rechtfertigt, dass du am Leben bleibst, dass ich dich am Leben lasse?“

„Ich, ich“, sie sucht verzweifelt nach der richtigen Antwort, „ich weiß es nicht.“

Schade, dass sie nicht sieht, wie ich lächle. Ich lächle viel und gern. In den letzten Tagen wieder mehr als sonst. Ich fühle mich wieder wohler. Das war nicht immer so. Aber im Moment geht es. Sie hilft mir dabei. Ich habe sie in meiner Hand. Und sie weiß es. Was gibt es Erhebenderes. Verzweiflung, Angst. Ausgeliefert.

„Siehst du. Ach, nein, du siehst es ja nicht. Im übertragenen Sinn meine ich, siehst du, du weißt es nicht. Ich weiß es auch nicht, weil es nichts zu wissen gibt, da ist nichts.“

„Aber ich ... ich will leben.“

Neben der Resignation höre ich auch eine gewisse Auflehnung gegen das Unvermeidbare, also gegen mich. Ja, ich bin unvermeidbar. Ich bin ihr passiert. Ich bin kein Statist in ihrem Leben. Ich bin die Hauptrolle. Und die spiele ich gut.

„Warum?“

Sie schweigt. Vielleicht überlegt sie.

„Ich frage noch einmal: Nennst du das hier Leben?“

Ich warte vergeblich auf eine Reaktion. Auf einen überzeugenden Einwand.

„Wenn du sehen könntest, wie lächerlich du aussiehst. Du bist erbärmlich und hässlich geworden.“

Sie hebt den Kopf etwas.

„Aber ich sah mal ganz normal aus.“

„Normal?“

„Ja, ganz normal.“

„Wer will schon normal!“

„Ich war sogar schön“, fährt sie fast trotzig fort.

Ob sie etwa in Erinnerungen schwelgt?

„Ich war schön, die Männer liebten mich, sie schauten mir nach und drehten sich nach mir um.“

„Ist das erstrebenswert? Ist das lebenswert? Männern den Kopf zu verdrehen?“

„Das habe ich doch nicht mit Absicht gemacht!“, sagt sie. Es klingt fast wie eine Entschuldigung. „Es ist passiert. Ich kann nichts dafür, dass ich so aussehe, wie ich aussehe. Das habe ich doch nicht mit Absicht gemacht.“

„Aber du fandest es toll, wie du auf Männer gewirkt hast.“

„Attraktivität ist kein Verbrechen.“

„Hört, hört.“

„Ich mache viel Sport und achte auf meine Ernährung.“

„Und es hat alles nichts genutzt.“

„Doch. Ich fühle mich wohl.“

„Tatsächlich?“, frage ich grinsend, schade, dass sie es nicht sieht. „Es hat dich hierher geführt, zu mir.“

Sie schweigt.

„Warum ich?“, fragt sie.

Und ich bin ein wenig überrascht. Das freut mich. Ich lasse mich gern überraschen. Das kommt zu selten vor, dass man mich überrascht. Ist auch nicht einfach. Mich zu überraschen. Das ist schon eine Weile her. Eigentlich fällt mir nur Mutter ein. Wenn ich es genau bedenke. Mutter.

Ich schaue sie an. Sie kniet noch immer vor mir. Ihr Kopf hat genau die richtige Position. Ich lege meine Hand auf ihren Kopf. Sie lässt mich gewähren. Fügt sich.

„Hm, das hat keinen besonderen Grund. Nenn es Zufall. Zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Sie hatten es gar nicht auf mich abgesehen?“

„Doch, natürlich. War nur ein Scherz. Ich habe dich beobachtet, seit Wochen schon. Ich wollte genau dich. Nur dich.“

Ich beobachte, wie sie sich vorstellt, wobei ich sie beobachtet haben könnte. Ihre letzten Wochen in Freiheit, in ihrem sogenannten „Leben“ ziehen kurz an ihr vorbei.

„Warum tun Sie das? Warum quälen Sie mich so? Warum ich, was habe ich Ihnen getan?“

„Nichts. Du bist einfach nur Teil meines kleinen Experiments. Teil meiner Welt.“

„Experiment?“, ruft sie außer sich, reist sich dann aber doch zusammen. Die Angst geschlagen zu werden ist übermächtigt, beherrscht sie immer mehr. Sie kontrolliert ihr Handeln.

Trotzdem, sie ist kurz davor zu explodieren. Das sieht gut aus. Sie zornig zu sehen. Ich lasse ihr einen Moment, um sich zu beruhigen. Ihre Haut ist angespannt. Ihre Brüste heben und senken sich. Noch widerstehe ich dem Wunsch, dem Verlangen sie zu berühren. Das ist nicht leicht. Zu widerstehen. Sie ist mir ausgeliefert, schutzlos. Ich kann machen, was ich will und wann ich will, jetzt, später, gar nicht. Aber ich will. Ich werde es tun. Ich will spielen.

Ist das gut. Oh, ist das gut. Sich zu beherrschen in Anbetracht der Begierde, des Verlangens. Sie zu beherrschen in Anbetracht ihrer Bereitwilligkeit.

„Bin ich hier, weil ich aussehe, wie ich aussehe?“

Sie will es begreifen, immer noch. Sie scheint sich noch nicht abgefunden zu haben, mit dem Unausweichlichen.

„Nein, es hat damit nichts zu tun. Du könntest auch hässlich sein. Das hat auch seinen Reiz. In gewisser Hinsicht.“

Sie hat wirklich noch viel Kraft und Energie.

„Ich studiere den Zerfall.“

Ich warte und gebe ihr Zeit, es zu verstehen.

„Erst den inneren, dann den äußeren Zerfall. Ab einem bestimmten Zeitpunkt verläuft beides parallel. Das ist sehr interessant. Weil es unterschiedlich ist. Ich habe den Eindruck, dass es etwas mit der psychischen Konstitution zu tun hat.“

Obwohl ich ihre Augen nicht sehen kann, spüre ich deutlich, fast sinnlich das Entsetzen, das sie erfasst. Sie hat es verstanden.

„Ich bin nicht die erste.“

„Und nicht die letzte.“

„Oh, mein Gott.“

„Der wird dir nicht helfen. Der hat noch niemandem geholfen. Der ist auf meiner Seite. Sonst wärst du nicht hier, bei mir. Denn ich bin der Hirte. Ich werde dich weiden und zum frischen Wasser führen. Denn ich bin dein Hirte. Ich bin da. Ich werde für dich sorgen, in der Dunkelheit. Werde dich trösten, wenn du traurig bist.“

Ich drehe mich um und lasse sie damit erst einmal allein.

„Du musst mehr trinken.“

„Sie gehen schon wieder?“ Sie kniet noch immer, jetzt nur noch neben dem Bett, nicht mehr vor mir.

„Trink.“

Das bereitet ihnen den meisten Stress, das Alleinsein. Damit können sie überhaupt nicht umgehen. Es ist nicht die physische Bedrohung. Es sind die elementaren Dinge wie Licht, Zeit, Wasser, Kontakt, Berührungen, Nacktheit. Kommunikation. Gefickt werden oder eben nicht gefickt werden. Und das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Hilflosigkeit. Sie hat angefangen sich an alles zu klammern, was Erlösung bietet. Milderung.

Schade. Vollkommen überflüssig. Nutzlos.

Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Und schalte die Mikrofone und die Kameras wieder ein. Es wird still.

Ich gehe nach oben. In die Küche, und schaue hinaus.

Ich bin dein Hirte

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