Читать книгу Ich bin dein Hirte - Marc Rosenberg - Страница 4
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Sie beobachten mich. Ich weiß es. Ich fühle es. Mit verbundenen Augen. Ich kenne die Dunkelheit, diese Finsternis, die in mir steckt, weil sie mich umgibt, sie steckt in mir, ich weiß es. Ich sehe, dass sie mich beobachten. Weil ich sie schon vorher sehe, rieche, fühle, spüre. Ich weiß, was um mich herum geschieht, ohne es zu sehen. Meine Sinne, auf die kann ich mich verlassen.
„Ich höre dich, Mama. Ich weiß, dass du kommst.“
Das spüre ich. Ich spüre dich Mama. Gleich kommst du. Gleich bist du da. Ja? Du bist gleich bei mir. Ich warte. Ja, ich kann warten. Ich warte auf dich, weil du gleich kommst.
„Hab einfach keine Angst. Ich habe keine Angst. Keine Angst. Angst tötet dich. Überwinde die Angst. Hab keine Angst vor der Angst. Nimm sie auf. Nimm die Angst in dir auf. Werde eins mit der Angst. Lebe sie. Werde zur Angst, spiel mit ihr.“
Mir reicht es schon, wenn ich morgens aus dem Fenster schaue: Umgeben von der bedeutungslosen und lasterhaften Triebhaftigkeit dieser Leute. Sie kommen immer näher. Gefährlich nah. Gefährlich für sie. Freundlich lächelnd und mitteilungsbedürftig. Aber ich habe angefangen, dem ein Ende zu bereiten. Eigentlich ist es immer nur reine Neugierde, wenn sie fragen: „Wie geht’s?“ Das war immer schon so. Sie drängen sich auf. Sie wollen nicht wissen, wie es einem geht, sie wollen wissen, wie viel schlechter als ihnen es einem geht. Ich schaue hinaus und sehe: Umgeben und bedroht von der Unumgänglichkeit des Aufeinandertreffens mit diesen Leuten. Sozialkontakte. Vollkommen asozial. Distanzlos und aufdringlich. Konfrontiert mit der Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, der Unausweichlichkeit beim Heraustreten aus meiner wohl geordneten Welt, einem homo sapiens zu begegnen. In meiner Welt. Ein Mensch, der mir freundlich einen guten Tag wünscht, und der mich deswegen schon am Arsch lecken kann, weil ich ihm beim Felgenreinigen zuschauen muss, weil er es tut, während ich aus dem Haus komme. Er dringt ungefragt ein in meine Welt. Sie können einfach nicht nichts tun. Sie schaffen es nicht.
„Sie müssen Ihre Hecke mal wieder schneiden.“
Da kann man doch nur beleidigend werden.
Seine Bedeutungslosigkeit in meiner Welt schreit mich an, von der er aber keinerlei Ahnung hat. Er ist aber davon überzeugt, von Bedeutung zu sein und das auch zur Schau stellen will, mit allen Mitteln und einen viel zu kleinen Schwanz hat. Und ich weiß, dass ein einzelner Finger Wunder wirken und eine geschickte Zunge in Ekstase versetzen kann. Und Angst. Angst, nicht zu wissen, wann er kommt, der Schmerz, man aber weiß, dass er kommt.
Selig eingelullt in seiner mich anspringenden und ankotzenden Bedeutungslosigkeit steht er vor mir und sagt: „Guten Tag.“ Kann es schlimmer kommen? Ja. Viel schlimmer sind jene Mitmenschen, die der festen Überzeugung sind und darin auch noch unterstützt werden, sich vom bedeutungslosen Durchschnitt abzuheben und andere an ihrem Leben teilhaben lassen wollen, ob die nun wollen oder nicht. Die kommen dann im Fernsehen. So oder so. Oder im Internet. Die, die sich das anschauen, wollen sich das auch anschauen. Wir treffen jeden Tag Entscheidungen. Jeden gottverdammten Scheißtag.
All das reicht vollkommen aus, um mir bereits früh am Morgen den Tag zu versauen. Und dann wundern sie sich, wenn es passiert. Gestern, heute, jetzt. Immer wieder, und plötzlich fehlt einer. Manchmal ist es nur der Hund oder die Katze vom Nachbarn, die nervt, und dann eines Tages nicht mehr. Eines schönen Tages wache ich auf und niemand nervt mehr. Für eine gewisse Zeit jedenfalls.
Ich habe gelernt, allein zu sein.
„Ich habe doch gerufen, oder? Aber niemand kommt. Ich habe doch gehorcht, bis ich nichts mehr gehört habe. Nur taube und dumpfe Stille. Und ich habe doch geschaut, bis ich nichts mehr gesehen habe. Nur klare, konturenlose Dunkelheit.“
Ich habe gelernt. Ich habe es verstanden. Ich habe gelernt, mit nichts zu leben. Wenn ich rufe und niemand reagiert. Ich habe gelernt mit mir selbst klar zu kommen, meine Geräusche zu lieben. Weil es das einzige ist, das ich höre. Weil es das einzige ist, das ich habe.
Wenn ich nur beleidige, haben sie noch Glück gehabt.
Manchmal sage ich auch einfach nur artig „Guten Morgen“, obwohl ich denke: Fick dich doch selbst ganz doll ins Knie. Sonst mache ich es. Nur wieder einer mehr, der mich am Arsch lecken kann. Aber er steht auf meiner Liste.
Und der merkt das nicht einmal. Macht einfach weiter, geht zur Arbeit und funktioniert. Auch abends vorm Fernseher.
Am besten wäre die direkte, schnörkellose und niederstreckende Rückmeldung, Feedback auf Neudeutsch, via Sprache oder Mimik. Minimalismus. Ich muss noch mehr beleidigen. Keine überzogenen Gesten. Die erzeugen nur sinnlose Bedeutungssucht beim Gegenüber. Obwohl es ja kein echtes Gegenüber gibt. Kein adäquates jedenfalls. Es findet ja strenggenommen kein Gespräch statt, keine Kommunikation, keine zwischen Gleichwertigen zumindest. Denn wie will ich mich mit jemandem unterhalten, der meiner Sprache nicht wirklich mächtig ist? Wie will ich reden mit jemandem, der sich nicht auf einer Ebene mit mir befindet, den ich nicht wirklich wahrnehme, in seinem Sosein, in seiner angenommenen Unscheinbarkeit? Doch ich schreie nicht laut los, beleidige nicht, spucke nicht, trete nicht und ziehe auch nicht ernsthaft den Gebrauch einer Schusswaffe in Erwägung. Oder doch solide Handarbeit? Hammer oder Beil? Nein, gelernt ist gelernt, bleibe ich für diesen Moment friedlich, noch, dem Anschein nach, setzte mich in mein Auto und fahre dem Tag entgegen, der eigentlich nicht wirklich gut weitergehen kann, weil es nicht mein Tag ist. Denn noch bin ich nicht soweit. Nicht konsequent genug. Aber das wird schon noch. Im fahrenden Wagen, nicht dem Auto meiner Sehnsüchte, umschmeichelt dann Musik meiner Wünsche mein angekratztes Gemüt. Doch es ist nur befristeter Balsam. Weil vergänglich. Und irgendwann komme ich dann ja auch an, an einem Ort, an dem ich eigentlich nicht wirklich sein will. Treffe auf Menschen, mit denen ich nicht reden will. Überhaupt finde ich mich zu oft an Orten wieder, an denen ich eigentlich nicht sein will. Die ich jedoch gezwungenermaßen aufsuchen muss, so sind die Spielregeln, dass ich Orte aufsuche, die ich nicht brauche, um offizielle Dinge des Lebens zu organisieren: Nahrung, Kleidung, Behörden und öffentliche Dienstleistungsanbieter und natürlich alle nur erdenkliche Formen anderer Annehmlichkeiten, die moderne Konsumtempel bieten. Ja, und ich gebe mich hingebungsvoll ausschweifenden Kaufräuschen hin, um mit einem ambivalenten Gefühl die Markthallen des Kapitals zu verlassen: Glückseligkeit und das Gefühl, noch nicht alles zu haben, was ich meine zu brauchen. Und all das tue ich auch noch freiwillig. Ja? freier Wille? Ich lebe das falsche Leben, wenn ich den gutaussehenden und sportlich aktiven und fitten Menschen im Fernsehen glauben darf. Dann mache ich alles falsch: falscher Schlaf, falsches Frühstück, falsche Zahnpaste, falsche Kleidung, falsche Frau, falsche Kinder, falsches Auto, falscher Job, falscher Computer, falsche Ferien usw. usw., alles falsch bis hierher.
Aber ich habe sie durchschaut. Ich mache nicht mehr mit. Schluss.
Ich habe aufgehört mitzumachen. Ich mache einfach nicht mehr mit. Und einige andere auch nicht mehr, aber das war nicht ihre Entscheidung, das war meine.
Aus gutem Grund wünschte ich mir bisher gelegentlich nur die Annehmlichkeit einer Insel, oder doch „Die Möglichkeit einer Insel“ (Houellebecq)? Der Gedanke ist nicht neu und schon gar nicht von mir, aber manchmal zwingend notwendig. Was falsch war, bleibt falsch, auch wenn ich es anders mache. Deswegen onaniere ich heute nicht unter der Dusche, sondern nehme mir vor, es heute auch tun zu lassen und heute dafür zu bezahlen. Oder bezahlen zu lassen. Ich muss nur herausfinden, wo man das machen kann. Und ich weiß, dass heute Menschen bezahlen werden, dafür, dass sie mich nerven und genervt haben. Heute ist Zahltag. Ab heute ist jeder Tag Zahltag. Und ich fange hier in diesem Haus damit an. Ich schreibe die Rechnungen und nehme die Zahlungen entgegen.
Ja, das fühlt sich gut an. Meine Hände um deinen Hals. Ihr werdet bezahlen. Und ich werde ihr dabei in die Augen sehen und dabei zuschauen, wie das Lebenslicht aus ihren Augen verschwinden wird, wie das Licht verblasst. Verwirrt, erschrocken, entsetzt, zappelnd um sich schlagend. Aber hoffnungslos. Das Leben wird zu Ende gehen. In meinen Händen.
Heute.
Morgen.
Jeden verdammten Tag, der mir noch bleibt. In meiner Welt. Ich zerre sie in die Dunkelheit und werde sie führen. Ihr Wasser und Nahrung geben. In der Dunkelheit bin ich ihr Hirte. In der Finsternis. Bin ich ich.
„Mama, ich bin müde. Halt mich, ich will mich spüren, nimm mich in deine Arme, ich will dich spüren. Deine Nähe, deine Wärme, deine Hände und deinen Atem auf meiner Haut. Mama, lass mich nicht allein. Komm wieder zurück.“