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2. Der Klabautermann

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Die STURMNACHT schaukelte dahin wie ein einsamer Riese im aufkeimenden Taifun. Der Kurs, den sie verfolgte, war Nicolas unbekannt. Auch, ob sie auf dem richtigen Weg waren. Für Nicolas Brighton zählte gerade etwas ganz anderes: sein weiterer Verlauf des Lebens auf dem Schiff. Denn das Scheppern und daraufhin folgende Brüllen war kein gutes Zeichen. Bei den Göttern des Meeres, was ist hier los?, fragte er sich, die Knie weich wie Pudding, die Arme schwer wie Eisblöcke. Sein eigener Körper zog ihn nach unten und am liebsten würde er im Deck versinken.

»Nicolas Brighton! Ich sage es ein letztes Mal: Komm endlich hervor und lass diesen Unfug! Sprechen wir von Mann zu Mann. Jetzt. Und klären das endgültig.«

Nico schluckte. Endgültig klären, hallte es in ihm nach. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Nur weiteres, endgültiges Übel. Und seine Verdammung. Er sah sich bereits den Gewalten des Meeres übergeben, als Spielball der Mächte des Wassers. Er würde ein gefundenes, wehrloses Fressen abgeben. Aber was sollte er, was konnte er dagegen tun? Nur eines: Sich stellen und nicht zulassen, dass er unterging. Schwer atmend und mit taumelnden Schritten machte sich Nicolas Brighton zu seiner Kajüte auf.

Das ist Schicksal. Und jetzt geht es um mein Schicksal. Mit diesem Gedanken kam Nico an.

»Du …« – die brummige Stimme unterbrach sich. »Aber du müsstest in der Kabine sein!«, sagte der Koloss von Mann mit gefährlich funkelnden Augen, die Stirn in tiefe Falten gezogen. Sein Missverständnis war ihm deutlich anzusehen. Der alte Mann schien zu überlegen. »Du wagst es, mich auf den Arm zu nehmen!«

Nicolas schüttelte nur den Kopf.

»Blueboy, ich will dir mal etwas sagen: Denkst du, du könntest hier so einfach« - Der Kapitän unterbrach sich selbst. Lauschte. Auch Nicolas. Ich habe es geahnt, dachte er. Die weitaus größere Gefahr lauert da unten. Direkt unter uns. Und keiner sieht sie.

Ein Knacken wie bei morschem Holz war wiederholt zu hören. Der Kapitän schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. »Du kannst hier nicht einfach auf den Putz hauen. Die Kabine abschließen und darin wie ein Berserker wüten! Das ist nicht dein Eigentum.«

Stille.

»Ich hoffe, du bereust es schon. Zugegeben, die Flucht durchs Fenster – oder wie auch immer – war geschickt und« - wieder wurde der Kapitän unterbrochen. »Was zum Teufel…« - weiter kam der Mann diesmal nicht, denn sein massiger Körper wurde herumgerissen, ohne dass man sah, woher der Schlag wirklich kam. Aber jeder hier an Board musste ihn fühlen. Nicolas hatte zum Glück längst an einem mächtigen Balken des Schiffes Halt gesucht. »Was zum…« - hörte Nicolas den Kapitän wieder fluchen. Dann knallte es wie bei einem Schuss. Ein Krachen folgte. Schritte, die Schritte der Mannschaft. Nico zog ein Kreuz vor seiner Brust. Im nächsten Moment sah er wie Robby, der Kapitän, endgültig zu Fall ging. Ein Lächeln wollte sich auf sein Gesicht stehlen und gelang dennoch nicht. Die aufkeimende Genugtuung schwang in ein mulmiges Gefühl über und Nico warf einen scheuen Blick hinter sich über die Reling. Nein, er wollte nicht in die brodelnde Tiefe blicken. Wusste aber, dass es von dort kam. Aber was war dann das in seiner Kabine?

Deutlich sah er vor seinen Augen das Bild, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte: ein Männchen, klein und korpulent, in Matrosenkleidung – aussehend wie ein alter Seebär. Nur in Miniaturausgabe. Geschrumpft auf vielleicht dreißig Zentimeter. Also kaum auszumachen. Und doch hatte er es gesehen. Tausende von Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und immer wieder dieses eine Bild: das Bild eines alten Seemanns mit blutrotem langem, lockigem Haar. Die Haut alt und von Bartstoppeln übersät. Und vor allem dieses Grinsen mit den grün stechenden Augen, die ihn angesehen hatten als wollen sie ihn verschlingen. Ein Klabautermann, dachte Nico mit Erschrecken. Eine Legende.

Da erklang die Stimme des Kapitäns erneut. Er musste sich wieder gefasst haben. »Segel setzen! Alle Mann auf ihre Posten. Nehmt gefälligst eure Plätze ein. Wir verlassen diesen Ort und segeln noch jetzt zum Treffpunkt Nord! Der Teufel soll uns holen, sollte das nicht gelingen. Und wehe es wagt einer, sich zu drücken!«

Die Gewalten der Meere waren unfassbar, ja unberechenbar. Nicolas hatte mehr als nur das begriffen. Doch auf diesem Schiff gab es kein Entrinnen. Ein Schiff, eine Mannschaft. Sie saßen alle im selben Boot. In der STURMNACHT.

Mauerhoch türmten sich die Wellen jetzt auf und schlugen über Board. Drangen auf den Rumpf und die Mannschaft ein, wirbelten sie umher wie Spielfiguren. Nico kam sich wie ein Zuschauer vor, der sein eigenes Schicksal mit ansehen durfte.

Poseidon, dachte sie wie sooft die Tage und sah in der klaren Nacht zu den Sternen. Amphitrite hielt sich im oberen Drittel des Wassers auf und träumte von einem freien Wesen, das sie auf ungewöhnliche Weise verzauberte. Doch immer wieder blitzte der Name ihres jetzigen Herrschers auf. Plötzlich wurde die Meerfrau von außergewöhnlichen Strömungen eingefangen. Der unbekannte Sog erfasste ihren Unterleib und zog an der Fußflosse. Amphitrite brachte all die Kraft, die in ihr steckte auf, um nicht ins Trudeln zu kommen. Ihre Nägel verhärteten sich und gerade so gelang es ihr noch, sich nicht zu überschlagen. Der Meerfrau dämmerte, wohin der Sog sie führen würde. Es gab nur einen Ausweg: Die obere Region aufsuchen und nahe der Oberfläche bleiben. Dies stellte allerdings auch eine hohe Gefahr für sie dar. Zu leicht konnte sie in ein Fangnetz geraten oder gesehen werden. Und dann gab es nur eine Möglichkeit: Den Beobachter verzaubern und in die Tiefen reißen. Sich in eine Sirene zu verwandeln. Aber das war nicht in ihrem Sinne. Die Meerfrau fühlte sich wie zwischen den Strömungen zerrieben und schoss dabei wie ein Pfeil steil aufwärts. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse, erzeugte so einen weißen Wirbel um sich, begleitet von schäumenden Blasen. Die Oberfläche spürte sie bald, wogte immer stärker. Die Stürme des Poseidons werden entfacht! Bei den Meeren, lass nur keine Schiffe hier sein. Sie wären dem Untergang geweiht.

Das unangenehme Ziehen in der Brust wurde stärker, wenn sie daran dachte, weswegen die Stürme aufzogen. Nur wegen ihr; weil die Meerfrau nicht wollte, wie sie sollte – nach Meinung des Göttlichen.

Das Meer war zum Kessel geworden. Meterhohe Wellen brachen sich an der Grenze zwischen Wasser und Luft. Und sie hatten ein Opfer gefunden: ein weiteres Schiff für die Sammlung. Genug um zu spielen und sie zu quälen.

Amphitrite durchstieß die Oberfläche. Freiheit, sprach es in ihr, als sie die kühle Luft auf ihrer Haut fühlte. Doch dann sah sie in den Gewalten dieses Elements, das taumelnde Schiff, das kämpfte wie ein Fisch an Land. Aussichtslos und auf verlorenem Posten. Der Mast war längst eingeknickt.

Sie sah mehrere Mitglieder der Mannschaft in den wogenden Massen um ihr Leben zappeln. Die Frontseite hob sich immer mehr nach oben, würde bald wie eine Speerspitze zu den Sternen zeigen. Riesige Balken brachen, das Holz splitterte und Teile davon schlugen links und rechts von ihr ins Nass. In all diesem Chaos leuchtete etwas, leuchtete jemand wie ein herabfallender Stern. Die Meerfrau konnte solche Wesen erspüren. Doch wie die Anderen würde auch er nicht überleben. Amphitrite traf in diesem Moment eine Entscheidung.

Mit entschlossenen Flossenschlägen glitt sie durch die See auf den gefallenen Stern zu. Es handelte sich um einen jungen Mann mit mandelbraunen Augen. Braun wie die Erde, ruhig wie das Land. Darin spiegelte sich Traurigkeit, gemischt mit Erkenntnis. Die Meerfrau sprang jetzt wie ein Delfin über das Wasser. Kurz vor ihm stoppte sie und drückte mit den Nägeln ihrer rechten Flossenhand auf seine Stirn. Der Mann sagte nichts. Blieb still, ruhig wie die Erde. Nur sein schwerer Atem war zu hören. Wie das Brodeln eines Schwefelvulkans. Amphitrite zögerte. Sie roch das Blut, das aus mehreren Wunden seines Körpers kam und schmeckte es mit den Poren ihrer Schuppenhaut. Nur kurz schloss sie die Augen, genoss die eigene Marke des Mannes. Es geht um mehr als das Schicksal eines Einzigen, dachte die Meerfrau. Letztlich ging es um ihr Eigenes, und damit um ihre Zukunft. Ihre Flossenhand umschloss den Kopf des Ertrinkenden, umfasste ihn ganz fest. Sie sah in seine Augen und näherte ihre Lippen, bis sie die kalte Haut der seinen fühlte, den Geschmack von Honig und Wald schmeckte. Doch noch bevor sie den Kuss in all ihrer Form fühlen und ausfüllen konnte, zog sie sich zurück und war fort von ihm.

Mit einer Geschwindigkeit, die sie selbst nicht erahnen konnte, machte sie sich auf und davon. Wieder einmal. Doch diesmal hatte sie ein klares Ziel vor Augen. Eines, das ihr entsprach. Und sie tat, was sie noch nie getan hatte: Sie bat eine ihrer Schwestern um Hilfe.

Zurück auf dem Grund der Tiefe traf sie Poseidon kurz vor seinem Herrschersitz. Er lächelte siegessicher. »Unser Palast wird jetzt durch das Portal ziehen. Egal was geschah, du wirst ihn niemals wieder lebend sehen.«

Amphitrite schwamm auf den Meeresgott zu, umtanzte ihn – umwarb ihn und hoffte tief in ihrem Inneren – mit dem Herzen, dass Poseidon nicht weiter darüber nachdachte, was er gesehen hatte. Wenigstens für wenige Stunden.

Denn was niemand wissen konnte: Der Kuss war ein Kuss der Unsterblichkeit gewesen. Er brachte diesem Menschen ewiges Leben. Und das gab der Meerfrau Kraft. Denn jetzt hatte sie alle Zeit der Welt, um ihr Schicksal eines fernen Tages zu ändern. Und während ihre Lippen sich kräuselten, und die von Poseidon im nächsten Wimpernschlag umschlangen, dachte Amphitrite: Viel Glück, gefallener Stern. Ich hoffe, du steigst wieder auf. Und dass dir die Fähigkeit zu erkennen und zu verstehen weiter erhalten bleibt. Dann wirst du eines Tages verstehen, wer dich noch immer liebt, obwohl sie nicht bei dir sein kann. Außer es führt eines Tages ein Weg durch das Portal, zurück zu dir.

Die Sturmnacht

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