Читать книгу DIE KRÄHE - Marc von Malbec - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеDie Vision von Paul hatte sich - wie so oft - mit einem fast unmerklichen Schwindelgefühl angekündigt. Seine Reaktion darauf hatte er nicht immer unter Kontrolle. Einmal hatte er laut geschrien, Paul möge verschwinden, er hatte auch schon wild um sich geschlagen, er war auch schon zitternd zusammengebrochen, mit Schaum vor dem Mund wie ein tollwütiges Tier. Dieses Mal hatte er schnell reagiert. Eilig war er aus dem Strom der Leute ausgeschert und hatte sich vor das Ladenlokal gestellt. Er wollte hier unter all den Leuten keineswegs unangenehm auffallen. Wenn sich die Vision nicht so schnell aufgelöst hätte, dann wäre seine Reaktion eine andere gewesen, eine heftigere und jemand hätte vielleicht Polizei und Notarzt gerufen und die ganze Mission wäre gescheitert. Vielleicht gab es etwas in ihm, dass das verhindern wollte. Er wusste, dass er ein hartes Stück Arbeit vor sich hatte, er wusste aber nicht, ob es den gewünschten Erfolg hatte. Er war auf dem Weg, sich von Paul zu befreien.
Während er noch nachdachte, klebte sein Blick an dem Schaufenster. Es sollte so aussehen als interessiere er sich für die Auslage. In Wirklichkeit nahm er überhaupt nicht wahr, was in dem Laden verkauft wurde, so sehr war er nach innen gewandt. Sowohl sein Geist als auch sein Körper waren angespannt. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und sie zu Fäusten geballt. Er stand regelrecht unter Strom. Jede Faser seiner Muskeln war zum Zerreißen angespannt. Er musste sich sehr zwingen, nicht aufzugeben und sich am nächstbesten Kiosk einige Biere zu kaufen und das Ganze einfach für beendet zu erklären. Er musste sich auch zwingen, seine Sinne, seine Gedanken und sein Bewusstsein wieder der Außenwelt zuzuwenden.
Tief und laut sog er die Luft in seine Lungen ein. Dann rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Augen. Das machte er immer nach einer Attacke. Er spürte wie sein Herz langsam aufhörte wild zu pochen, auch sein Atem wurde wieder flach und gleichmäßig. Für dieses Mal war es vorbei. Aber er wusste auch, dass es nicht das letzte Mal gewesen war.
In der spiegelnden Schaufensterscheibe beobachtete er jetzt die Passanten, die durch die Fußgängerzone eilten. Er hörte das Stimmengewirr und schnappte Gesprächsfetzen auf. Ihm schoss ein unsinniger Gedanke durch den Kopf, nämlich dass keiner von all diesen Leuten, niemand, auch nur im Entferntesten ahnte, was für ein Mensch er war. Niemand würde auf die Idee kommen, dass er ein Mörder war. Ja, ein Mörder. Er hatte Paul umgebracht. Er hatte es zwar nicht gewollt, es war einfach so passiert. Es war ein Versehen gewesen. Paul war dreizehn Jahre alt gewesen.
»Nein, Mami, nein. Ich will nicht!«, drang eine Kinderstimme an seine Ohren.
Ein weinender Junge stand neben ihm. Seine Mutter beugte sich zu ihm hinunter und redete ihm gut zu. Aus ihren Worten war herauszuhören, dass sie in dem Laden etwas kaufen wollte, der Junge aber nach Hause wollte, um dort zu spielen. Die Stimme der Frau zitterte vor Wut. Sie hatte wohl schon etliche solcher Diskussionen mit dem Kind geführt. Als sie merkte, dass es mit Worten nicht getan war, versuchte sie ihren Sohn in den Laden zu zerren. Der Junge wehrte sich mit all den Kräften, die in so einem kleinen Kinderkörper steckten und die schienen enorm zu sein.
Er betrachtete die Frau genauer. Sie war noch recht jung, viel jünger als er. Sie gefiel ihm. Ihre blonden Haare fielen in glatten Strähnen über die Schulter. Sie hatte eine einwandfreie Figur. In dem gleichen Augenblick, wo er darüber nachdachte, wie es wäre, die Frau anzusprechen, fand er sein Interesse an ihr auch schon merkwürdig. Er interessierte sich schon lange nicht mehr für Frauen. Derweil hatte die Frau seinen bohrenden Blick bemerkt. Sie wandte sich dem Fremden zu und lächelte ihn freundlich an. Er war nun seinerseits verdutzt. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Normalerweise warf man ihm mitleidige, angeekelte oder auch wütende Blicke zu. Der einzige Mensch, der in all den Jahren freundlich auf ihn reagiert hatte, das war Paul gewesen. Gleichzeitig wurde ihm auch bewusst, dass die Frau ihn deshalb freundlich angelächelt hatte, weil er ja jetzt einer von ihnen war. Er bewegte sich wie sie, er sah aus wie sie. Er hatte sich selbst noch nicht so schnell daran gewöhnt. Von gestern auf heute hatte er sich in einen seriös wirkenden, legere gekleideten Mann um die fünfzig verwandelt. Die Verwandlung war ihm nicht schwer gefallen. Er war kein dummer Mann, er war nur ein gebrochener Mann, wie so viele, denen er in seiner Zeit auf der Straße begegnet war. Es war ja noch keine vierundzwanzig Stunden her, da hätte die Frau anders reagiert. Sie hätte den Jungen an der Hand gepackt und ihn weggezogen, so als habe er die Pest oder eine andere fürchterliche Krankheit. Vor vierundzwanzig Stunden waren seine Haare noch schulterlang und fettig gewesen. Hemd und Hose waren zerschlissen. Ebenso die Schuhe, die er schon seit Jahren nicht mehr ausgezogen hatte aus Angst, dass sie ihm gestohlen würden. Schuhe waren unter Pennern begehrt. Gestunken hatte er aus allen Poren. Wie immer hatte er am Abend bis fast zur Besinnungslosigkeit getrunken. Er hatte wieder von Paul geträumt. Dann war etwas Seltsames mit ihm vorgegangen. Unmittelbar nach dem Aufwachen hatte er – ohne darüber nachzudenken oder es bewusst zu wollen – seine wenigen Habseligkeiten gepackt und alles in den nächstbesten Müllcontainer geworfen. Er wusste nicht warum, er machte es einfach. Sein ganzes Tun schien einem Programm zu folgen, es war, als habe jemand einen Knopf gedrückt und er war losgelaufen. Er war ins städtische Männerwohnheim gegangen. Dort war er von dem Sozialarbeiter freundlich empfangen worden. Er hatte seine Personalien angegeben und gesagt, dass er ein wenig Geld brauchte für die Fahrt in den Schwarzwald. Er habe dort einen wichtigen Termin. Das Geld hatte er anstandslos bekommen, es war sogar mehr gewesen als er erwartet hatte. Dann hatte er ausgiebig geduscht – zum ersten Mal seit langer Zeit. Es hatte sich angenehm angefühlt. Danach hatte der Sozialarbeiter ihm die Haare geschnitten. In der Kleiderkammer hatte er die fast neue Jeans, das hellblaue Hemd, den dunkelblauen Pulli und die Lederjacke in seiner Größe gefunden, die jetzt legere über seinem rechten Arm hing. Der Sozialarbeiter fand, dass er gut aussah. Und jetzt, wo er sein Spiegelbild betrachtete, musste er dem Sozialarbeiter zustimmen. Er sah tatsächlich gut aus.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann riss er sich von seinem Spiegelbild los. Im Weggehen bemerkte er, dass er vor einer Mode-Boutique gestanden hatte. Die Frau und den Jungen sollte er nie wieder sehen.